Die Vorbereitung zur Prüfung

[153] Trüb gestimmt hielt ich an Ostern 1845 mein Abgangszeugnis von der Universität in der Hand, die schönen Tage in Heidelberg waren zu Ende, ich war Philister und mußte nach Wiesloch ziehen. Mein Vater wollte nicht länger einsam seine alten Tage an den Ufern der Leimbach vertrauern und ließ die Familie zu ihm zurückkehren.

Mein erster Gang in dem Städtchen galt meinem Freunde Bronner, auch er war als Prüfungskandidat zu den heimatlichen Penaten heimgekehrt. Wir besprachen unsere Lage ernstlich und gestanden uns aufrichtig, daß wir viele kostbare Zeit mit Kommersieren und Reformieren vergeudet hatten, unser Wissen war eitel Stückwerk und voller Löcher zum Durchfallen. Leider half uns die Reue zu nichts; statt Buße zu tun in Sack und Asche, war es klüger, uns ruhig unter den Büchern einzuspinnen und das Versäumte nachzuholen. Wir nahmen den Kalender und berechneten genau, wieviele Tage oder Wochen wir für jedes einzelne Prüfungsfach und für alle zusammen zum Einstudieren nötig hätten; es ergab sich das unerwartete Fazit eines ganzen Jahres, falls wir mit vollen Ehren bestehen wollten, denn die Zahl der vorgeschriebenen Fächer aus den Naturwissenschaften und der eigentlichen Medizin war Legion. Wir ließen uns jedoch nicht entmutigen und führten unser Vorhaben mit festem Beharren durch.

Da unsere elterlichen Wohnungen äußerst unruhig waren, bezogen wir stille Zimmer in einem Hause am Südende der Stadt mit dem Blick ins Freie. Hier studierten wir jeder für[153] sich das Pensum nach dem festgesetzten Plane, machten uns bündige Auszüge zum Memorieren und hörten uns das Gelernte täglich ab; auch repetierten wir in größeren Zwischenräumen das Wichtigste. – Diese Methode der Vorbereitung auf strenge Examina darf aufs beste empfohlen werden; nach Ablauf des Jahres konnten wir mit größter Gemütsruhe es wagen, in Karlsruhe vor dem Teufel selbst zu paradieren – sein voller Name und Titel war Sigmund Teuffel, Großherzoglich Badischer Geheimer Rat, Direktor der Sanitätskommission, die dem Ministerium des Innern als oberste Sanitätsbehörde des Großherzogtums beigegeben war, und Vorstand der medizinischen Prüfungskommission.

Das Examensschifflein, das uns in den sicheren Hafen der ärztlichen Praxis tragen sollte, war mit vielem, nach der glücklichen Landung alsbald unnützem Ballaste beladen. Es ist noch heute so, und ganz wird es sich niemals vermeiden lassen. Ist man in eigener Person einst mit all dem vorgeschriebenen Wissen glücklich durch die Klippen der alten Staatsprüfung gesegelt, so begreift man, warum Genies wie Skoda und Dieffenbach nach zuverlässigen Versicherungen an den Felsen gescheitert sind. Sie hatten den toten und an sich wertlosen Ballast verachtet und litten, zu leicht beladen, deshalb Schiffbruch. – Kleineren Geistern, die das gleiche Los traf, war das Mißgeschick der Genies Balsam für ihre Wunde, ja fast mit Stolz wiesen sie auf ihre berühmten Schicksalsgenossen.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 153-154.
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