In der Alservorstadt

[213] Als Kinder sangen wir gerne das Lied:


»'s gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien,

Ah! da muß es prächti sein, da möcht i hin.«


Begierig lauschten wir den Schilderungen der fernen Kaiserstadt an der blauen Donau. In unserer kindlichen Phantasie war sie ein endloser Prater, am Stromufer hingestreckt, durchflutet von unzähligen geputzten Menschen, ein herrlicher Lustgarten mit Wurstel-und Tanzbuden, beim Klange des lieben Augustin drehten sich die lustigen Wiener, und überall winkten an gedeckten Tischen Gläser mit goldnem Wein und Schüsseln mit Backhändeln und süßen Krapfen, man durfte nur zugreifen, es war gerade wie im Schlaraffenland.

Bald wurden wir gelehrte Gymnasiasten und lasen Schiller, auch seine Xenien, und wußten genau, wen unser großer Dichter mit den Phäaken an der Donau meinte:


»Mich umwohnt mit glänzendem Aug' das Volk der Phäaken,

Immer ist's Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß.«


Es kamen die akademischen Jahre. Zu Kommers und Tanz erklangen die melodischen Weisen der Lanner und Strauß, auf der Bühne ergötzte uns die naive, heitere Muse der Raimund und Nestroy.

Jetzt waren wir als junge Ärzte in der Kaiserstadt eingezogen, begierig zu sehen, zu genießen, vor allem zu lernen und bei den großen Meistern medizinischen Wissens reiche Schätze[213] zu sammeln. Wien aber war uns jungen Patrioten mehr als nur ein Prater oder ein großer klinischer Lehrsaal, es leuchtete uns über der prächtigen Stadt ein Schimmer der versunkenen Glorie deutscher Reichsherrlichkeit. Ja, die Schatzkammer der Hofburg bewahrte die ehrwürdigen Reliquien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Zepter und Krone. Seit einem halben Jahrtausend waren ja die Geschicke Deutschlands, freilich nicht immer zu seinem Heile, an das Haus Habsburg geknüpft gewesen, das hier in der Ostmark des Reiches residierte. Aus den Toren Wiens waren die kaiserlichen Heere die Donau hinabgezogen wider den Türken, den Erbfeind der Christenheit, und an den Rheinstrom wider den Franzosen, den Erbfeind des Reiches. Noch immer machte ihr keine andere Stadt in den weiten deutschen Landen den ersten Rang streitig, und der vornehmste unter den Fürsten des deutschen Bundes war der Kaiser von Österreich. An Glanz der Geschichte, Pracht der Paläste, Schönheit der Lage und Umgebung kam in Deutschland der kaiserlichen Residenz keine gleich.

Nicht geringer als der Ruhm der Stadt war das Lob der Gemütlichkeit ihrer Bewohner und der Liebenswürdigkeit des österreichischen Volksstammes überhaupt. In der Tat hatte uns auf der Wanderung durch die Alpen die treuherzige Art und das freundliche Entgegenkommen des Volkes ungemein angesprochen, nur stimmten die Mautplackereien und die Paßscherereien, denen der Reisende in dem Bereiche der schwarzgelben Grenzpfähle ausgesetzt war, nicht zu dem Lobe der österreichischen Gemütlichkeit. Kein Tag verging, wo nicht die Pässe einmal oder öfter visitiert wurden, die Grobheit der kleinen Beamten übertraf bei weitem die der unserigen, und wollte man nicht aufgehalten sein und nutzlos seine Zeit verlieren, so durfte man mit halben und ganzen Zwanzigern nicht kargen.

Gleich am Tage nach unserer Ankunft eilten wir aus der Alservorstadt, wo wir zunächst Wohnung gefunden, nach dem weit entlegenen Mautgebäude, um unsere Koffer zu holen. Nach vielem Laufen und Bitten, unter Aufwand von großer Geduld und kleiner Münze, wurden sie endlich zur Stelle[214] geschafft und visitiert. Beim Durchwühlen der Kleider und Wäsche stießen die Bediensteten auf Druckschriften, die anatomischen Werke Hyrtls und Rokitanskys. »Was?« wurden wir angeherrscht, »Sie haben Druckschriften? Damit müssen S' unverzüglich auf das Zensuramt!« – »Es sind nur Bücher zum Studieren«, meinten wir, »wir sind Ärzte, die hier studieren wollen.« – »Das geht die kaiserliche Maut nichts an!« war die Antwort, »über Druckschriften befindet das kaiserliche Zensuramt. Wenn die Bücher unschuldig sind, so dürfen S' darin studieren.« – So nahmen wir denn unsere Bücher unter den Arm, und ein kaiserlicher Mautsoldat führte uns auf das nahe Zensuramt, wo wir rasch und höflich abgefertigt wurden. Hyrtl und Rokitansky erwiesen sich als unschuldig.

Darüber war der erste Tag fast ganz hingegangen, am Abend vergaßen wir den ausgestandenen Verdruß im Volksgarten, dem Sammelplatz der eleganten Welt, wo der Walzerkönig Strauß den Fiedelbogen bald als Zepter schwang, bald damit heitere Weisen den Saiten entlockte und die schlanke Gestalt dabei im Takte wiegte.

Am andern Morgen gingen wir auf das Polizeiamt, um die Pässe vorzulegen und die Aufenthaltskarten zu holen. Der Beamte fand unsere Papiere in Ordnung, besah uns prüfend und stellte uns die Erlaubnisscheine aus. Beim Verlassen des Büros trafen wir einen Bekannten von Heidelberg, Dr. Prieger aus Meiningen, nachmaligen preußischen Generalarzt, der, wie wir, zu Studienzwecken nach Wien gekommen war. Wir begrüßten einander und kamen überein, daß wir ihn vor dem Hause erwarten wollten. Lachend kam er bald zu uns und erzählte seine Unterhaltung mit dem Polizisten. »Ah!« sagte ihm dieser, nachdem er Einsicht von seinem Passe genommen, »Sie sind aus Sachsen und nicht aus Baden wie die beiden Herren, die vor Ihnen hier gewesen sind. Bei diesen heißt es: aufpassen! Das badische Land liegt zu nah an der Schweiz, wo es gefährlich zugeht, Sachsen liegt gottlob weiter weg.«

Diese Mitteilung unseres Kollegen war uns nicht angenehm; wir befürchteten, die Polizei möchte uns den Aufenthalt in Wien erschweren, aber sie legte uns nie das geringste Hindernis[215] in den Weg. Die Schreiberseele hatte sich auf ihrem Büro wohl nur recht wichtig gemacht.

Auf die Empfehlung eines Landsmannes nahmen wir zuerst Kost und Logis bei einem Junggesellen, einem gelernten Koch, in der Alserstraße, dem allgemeinen Krankenhause gegenüber. Das Essen war gut, mit uns speisten einige junge Ungarn, große Patrioten; den Vorsitz am Tische führte der Wirt, ein feister Mensch mit polnischem Namen; er verekelte uns gleich in den ersten Tagen durch sein unsauberes Gespräch dermaßen das Mahl, daß wir nach Umlauf einer Woche das Haus verließen, in der Nähe eine bessere Wohnung bezogen und im Gasthause speisten.

Wir hatten diese neue Wohnung zufällig in einem großen Eckhause der Alserstraße entdeckt, elegant eingerichtete Zimmer, die uns zu billigem Preise überlassen wurden. Unser Mietsherr verweilte gesundheitshalber auf dem Lande und wollte, wie man uns sagte, erst im Herbste in die Stadt zurückkehren, wo wir die Zimmer wieder räumen sollten.

Es war der pensionierte Professor der Pathologie und Inneren Klinik, Franz Xaver von Hildenbrand, genannt der jüngere, zum Unterschied von seinem berühmten Vater, dem Kliniker Johann Valentin von Hildenbrand, dem Verfasser einer geschätzten Monographie des Flecktyphus. Hildenbrand, der Vater, war 1818 am Gehirnschlag gestorben, den Sohn hatte gleichfalls ein Schlagfluß getroffen und unfähig zum Lehren gemacht. Wie uns die jungen Ärzte im Krankenhause mitteilten, hatte dieser als Examinator den Kandidaten Skoda, seinen späteren Nachfolger, in der Staatsprüfung durchfallen lassen. Als er im Herbste heimkehrte, überließ er uns noch für kurze Zeit eines der großen Zimmer, das wir in Benützung gehabt; wir waren ihm für diese Gefälligkeit dankbar und machten ihm deshalb unsere Aufwartung, die er mit einem Gegenbesuche artig erwiderte. Er war ein stark gebauter, breitschulteriger Herr nahe dem 60. Lebensjahre, weder sein Gesichtsausdruck noch seine Unterhaltung verrieten die schwere Verletzung, die sein Gehirn erlitten hatte. Nach dem Anfall lagen seine geistigen Fähigkeiten lange darnieder, man hatte ihn[216] einem Magnetiseur in Behandlung gegeben und allmählich war seine Intelligenz zurückgekehrt, aber die linke Seite blieb gelähmt und wurde steif, er ging am Stock, unterstützt von einem Bedienten. Es interessierte ihn offenbar sehr, von uns zu vernehmen, wie uns Skoda gefiele. Wir verhehlten ihm unsere Bewunderung des genialen Mannes nicht, er aber meinte, Skoda möge wohl als Diagnostiker von Brustkrankheiten geschickt sein, zum Kliniker tauge er nicht.

Wir hatten schon im Herbst Wien verlassen wollen, jedoch ein akutes Trachom befiel mich und zwang mich zu bleiben; nach erfolgter Heilung der Augen verlängerten wir den Aufenthalt bis über Weihnachten. Die letzten zwei Monate wohnten wir bei einem kleinen Rentner, einem Bäcker, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, in der Kirchengasse der Alservorstadt.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 213-217.
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