Zehntes Kapitel.
Wieder in Riga.

[203] Der Laboratoriumsbau. Nachdem ich so gut wie alle in Betracht kommenden Laboratorien gesehen hatte, nahm ich etwas ermüdet aber durch die Fülle neuer Beziehungen und Erlebnisse höchst angeregt meine Unterrichtstätigkeit wieder auf und arbeitete an den Plänen für das neue Laboratorium mit. Es wurde für 150 Studenten entworfen, da damals die Anzahl der Praktikanten 120 betrug und die maßgebenden Männer im Verwaltungsrat der Ansicht waren, daß die nach meinem Amtseintritt erfolgte schnelle Zunahme der Chemiestudenten nun ihren Höhepunkt erreicht habe. Als aber im Herbst 1885 das neue Gebäude bezogen wurde, mußten 193 Studenten untergebracht werden, die sich im folgenden Jahr auf 210 vermehrten. So war trotz des Neubaues die Raumnot nicht behoben und in der Einteilung der Säle waren alsbald wesentliche Änderungen notwendig, welche den ursprünglichen Entwurf zum Nachteil des Ganzen abzuändern zwangen.

Das Lehrbuch. Die zweite große Aufgabe, welche mir die Reise brachte, war die Abfassung des Lehrbuches der Allgemeinen Chemie.

Obwohl ich in der selten günstigen Lage war, einen Verleger zu haben, bevor ich das geplante Lehrbuch[204] überhaupt geschrieben hatte, zögerte ich aus leicht begreiflichen Gründen lange mit der Ausführung. Die Materialien hatte ich allerdings schon in Dorpat zu sammeln begonnen und zum größeren Teil auch zusammengebracht. Auch hatte ich für meine Vorlesungen schon große Teile schriftlich festgelegt. Auf Veranlassung des Verlegers hatte ich ferner einige Probeseiten des Manuskripts zur Feststellung der Druckausstattung nach Leipzig geschickt, dann die Satzproben mit der Andacht und Begeisterung beschaut, die der werdende Schriftsteller seinem ersten Werk zuwendet und sie meinen Freunden gezeigt. Aber ich zögerte immer noch mit der Drucklegung, da ich mir noch den Kopf wegen der rationellen Anordnung des Stoffes zerbrechen mußte. Ich versuchte mir Klarheit aus Wilhelm Wundts Logik der exakten Wissenschaften zu verschaffen und entdeckte bei dieser Gelegenheit, daß dieser weitschauende Denker die Entwicklung der chemischen Kinetik vorausgesagt hatte, mit deren experimenteller Durchführung ich eben beschäftigt war. Dies gab mir den Mut, mich brieflich an ihn zu wenden, ihm meine letzte Arbeit zu schicken zum Zeugnis für die Richtigkeit seiner Prognose, und ihm meine ordnungswissenschaftlichen Sorgen um die Anordnung des Stoffes der Allgemeinen Chemie zu eröffnen. Er antwortete sehr freundlich und eingehend, und wenn ich seine Anregungen auch nicht unmittelbar benutzen konnte, so halfen sie mir doch in hohem Maße dazu, auf eigenem Wege zur Klarheit zu kommen.

Einiges zur Verzögerung meiner Entschlüsse hatte auch die Einstellung meiner Lehrer Karl Schmidt und Lemberg zur Sache beigetragen. Beide verachteten das Bücherschreiben und sahen das Heil der Wissenschaft nur in experimentellen Arbeiten, über die so kurz und nüchtern wie möglich zu berichten sei. Beide verkannten die Bedeutung der ordnungswissenschaftlichen Arbeit[205] für den Fortschritt der Wissenschaft, obwohl deren Geschichte zahlreiche Beispiele dafür bringt, daß erst mit dem Erscheinen eines Lehrbuches, das die bisherigen vereinzelten Erkenntnisse methodisch zusammenfaßt, die regelmäßige und fruchtbare Entwicklung des betreffenden Zweiges einzusetzen pflegt. Diese Einsicht dämmerte bei mir auf und der Erfolg meines Lehrbuches sollte bald ein neues Beispiel für die eben erwähnte Regel geben.

Immerhin bedurfte es noch des entscheidenden Anstoßes durch die persönliche Begegnung mit dem Verleger Dr. Engelmann, um diese verschiedenen Widerstände zu überwinden. Ich machte mich bald nach meiner Heimkehr daran, die endgültige Ordnung des Stoffes durchzuführen und stellte die Handschrift stückweise fertig, so daß Satz und Druck des ersten Teils (erste Hälfte des ersten Bandes) im Laufe des Jahres 1883 beendet werden konnten. Nach Buchhändlerweise trug er die Zahl des folgenden Jahres 1884.

Von da ab erschien Jahr für Jahr ein ähnlicher Teil von je 20 bis 30 Bogen, so daß Ende 1886 das ganze zweibändige Werk fertig vorlag; es trug die Jahreszahl 1887. Auch hier bewährte sich das Prinzip des moralischen Schwungrades: der Wunsch, die regelmäßigen Termine einzuhalten, brachte mich über manche Ermüdungen hinweg, die sonst vielleicht nicht so bald überwunden wären.

Die Ansprüche, welche das Werk an mich stellte, waren nicht gering. Einige Jahre vorher war als erster Band einer neuen Auflage des altberühmten Handbuches von Gmelin eine »Allgemeine und Physikalische Chemie« von A. Naumann erschienen, die mich sehr enttäuscht hatte, denn sie bestand zu einem guten Teil in einer bloßen Zusammenstellung der Referate, die der Verfasser während einer Reihe von Jahren für den Jahresbericht der Chemie aus diesem Gebiete geliefert hatte und ermangelte der[206] großen und zusammenfassenden Gesichtspunkte, die mir als das Wesentliche eines solchen Werkes erschienen. So fühlte ich mich veranlaßt, noch mehr als ich vielleicht sonst getan hätte, solche allgemeine Gedanken zu entwickeln und die Einzelforschungen vieler Forscher und Jahre als Beiträge zur Lösung derselben großen Aufgaben darzustellen. Dazu mußten viele von den Ergebnissen neu berechnet oder sonst bearbeitet werden und das Zusammenarbeiten dieser meist ohne wechselseitige Bezugnahme durchgeführten Forschungen zu einem einheitlichen Gebilde erforderte häufig tiefgreifende Umstellungen und Neugestaltungen des bereits Geschriebenen. Immerhin habe ich nur angenehme Erinnerungen an jene lange und mühevolle Arbeit, die mich durch die immer deutlicher werdende Einheitlichkeit der letzten Ergebnisse in beständiger glücklicher Erregung hielt. Ich bin sicher, daß der gewinnende Eindruck, den die erste Auflage des Werkes nach dem Zeugnis Vieler ausgeübt hat, als Widerschein jenes persönlichen Glücksgefühls bei der Abfassung gedeutet werden darf und muß. Denn eine stets wiederholte Erfahrung hat mich belehrt, daß die Stimmung des Verfassers selbst bei so nüchternen Schriften wie ein chemisches Lehrbuch in einem fast unbegreiflich hohen Grade sich auf den Leser überträgt. So glaube ich, daß die meisten meiner Bücher deshalb von vielen gern und mit Genuß gelesen werden, weil ich sie alle gern und mit Genuß geschrieben habe. Die Übertragung meiner Gedanken in lesbare Sätze hat mir nie Mühe gemacht, und so stand mir stets überschüssige Energie zu Gebote, welche ich auf möglichste Steigerung der Klarheit im Aufbau des ganzen wie des einzelnen verwenden konnte. Umgekehrt habe ich Gelegenheit gehabt, wissenschaftliche Autoren ersten Ranges zu beobachten, die sich jeden Satz mit unsäglichen Mühen herausquälen mußten und sich trotzdem nie Genüge taten. Ihre Bücher sind unerschöpfliche[207] Quellen der Belehrung, die man immer wieder zu Rate ziehen kann und muß, wenn man in dem Gebiete arbeitet. Aber lesen kann man sie nicht; man kann sie nur nachschlagen.

Eine Versuchung. Meine häuslichen Verhältnisse hatten sich inzwischen durch die Ankunft zweier Kinder erweitert; ein drittes wurde erwartet. Das Gehalt als Professor war uns zwar im Vergleich mit den Dorpater Verhältnissen riesengroß erschienen; gegenüber den Anforderungen des vergrößerten Haushaltes begann es aber knapp zu werden, da das Leben in der reichen Handelsstadt erheblich teurer war, als im bescheidenen Dorpat. Der Zuschuß durch das Honorar für das Lehrbuch fiel nicht sehr ins Gewicht und so hatte ich mich nach Ergänzungen meiner Einnahmen umzusehen. Um diese Zeit wurde mir eine wohldotierte Stelle als Leiter einer blühenden Medizinalwasserfabrik in Riga angeboten. Ich war bereit, sie neben meiner Professur anzunehmen, wie andere unter meinen Kollegen am Polytechnikum Maschinenfabriken und andere technische Unternehmungen verwalteten, doch wurde der Verzicht auf das Lehramt zur Bedingung gemacht. Für meine Frau und mich bestand wiederum nicht der geringste Zweifel darüber, daß dies nicht in Frage kam, und so ließen wir ohne Kummer diese Gelegenheit fahren, in der Hoffnung, rechtzeitig die wünschenswerte Verbesserung unserer äußeren Verhältnisse auf einem Wege zu finden, der keinen Verzicht auf das erforderte, was ich als das Wertvollste in meinen Anlagen und Fähigkeiten empfand. Vorläufig ergänzte ich meine Einnahmen durch populäre Vorlesungen, für die ich in Riga zahlreiche und dankbare Hörer versammeln konnte.

Reibungen. Auch nach anderer Richtung trat mir der Gedanke an einen Wechsel meiner Verhältnisse nahe. Der sehr große Unterschied im Alter und Temperament[208] zwischen dem Direktor des Polytechnikums und mir hatte sich anfangs durch das aufrichtige Wohlwollen, das er mir entgegenbrachte, gut überbrücken lassen. Weniger wohlwollend aber stellte sich zu mir der erste Beamte in der Kanzlei des Direktors, der sich von einem subalternen Schreiber ganz allmählich zum Vertrauensmann und zur rechten Hand des Direktors emporgewurmt hatte. Vermutlich vermißte er an mir die besondere Berücksichtigung, auf die er vermöge seines Einflusses Anspruch erhob, und benutzte diesen, um den Direktor gegen mich zu verstimmen, In dessen Kanzlei liefen die Rechnungen über die von den Abteilungsleitern bestellten Geräte und Materialien zusammen. Ich mußte, um das Laboratorium für die neuen Anforderungen in Stand zu setzen, ziemlich erhebliche Anschaffungen machen; hatte ich doch u.a. nicht einmal eine Destillierblase zur Herstellung von reinem Wasser vorgefunden. Hierfür waren die entsprechenden Summen ausgesetzt, über die ich, wie es mein Recht war, ohne Rücksprache mit dem Direktor verfügte, der als Mathematiker nichts davon verstand. Das gab eine Verstimmung, die von jener subalternen Seite genährt wurde und die Rechnungen wurden genau daraufhin angesehen, ob nicht irgendwelche Unregelmäßigkeiten vorhanden seien. Triumphierend wurde bald dem Direktor ein schwerer Übergriff nachgewiesen: zwischen Bunsenbrennern, Dreifüßen und Stativen waren etwas wie 28 Mark für einen »Salonstuhl« ausgeschrieben. Siedendheiß kam der Direktor nach unten in das Laboratorium und hielt mir vor versammeltem Volk eine Rede darüber, daß die Mittel der Anstalt mir nur zur Ausstattung des Laboratoriums, nicht aber zu der meiner Privatwohnung angewiesen seien. Vergeblich versuchte ich ihn zu unterbrechen; er steigerte sich bis zu einem niederschmetternden Schluß, indem er mir jenen Posten in der Rechnung vorwies.[209] Ich war natürlich sehr neugierig geworden, was eigentlich vorlag, und mußte laut herauslachen, als ich endlich den Zettel zu Gesicht bekam. Es war nicht ein Salonstuhl bestellt worden, wie man in der Kanzlei gelesen hatte, sondern ein Ballonstuhl, ein Gerät, um die großen, unhandlichen Säureballons darauf zu setzen, zu befestigen und zum Ausgießen zu kippen. Ich ließ dem erzürnten Schulmonarchen den Apparat vorführen und er deckte seinen Rückzug mit der wiederholten Mahnung, mich streng an die Vorschriften zu halten. Die Schuld an der für ihn so peinlich abgelaufenen Szene schrieb er natürlich mir zu.

Um die nötige Literatur für die Arbeit am Lehrbuch zu finden, hatte ich mir von unserem Bibliothekar unter Zustimmung des Direktors einen Schlüssel zu der ziemlich guten Bücherei des Polytechnikums geben lassen, von dem ich namentlich am Sonntag Vormittag Gebrauch machte, wo ich dort ganz allein war. So saß ich auch einmal zwischen den Bücherständen da, als die Tür aufgeschlossen wurde. Ein Seitenblick belehrte mich, daß es jener Kanzleibeamte war, der im Anstaltsgebäude wohnte und in einem nicht für fremde Augen bestimmten Morgengewande seine Frühpromenade unternommen hatte. Aus gewissen Tönen entnahm ich, daß er sich völlig zu Hause fühlte und ich konnte ihm seinen Schreck und seine Entrüstung nachempfinden, als er unverhofft meine Anwesenheit bemerkte, auf die er ganz und gar nicht gefaßt gewesen war.

Ich war im Begriff, diese scherzhafte Episode zu vergessen, als ich durch einen Erlaß des Direktors überrascht wurde, der mir den Bibliothekschlüssel wieder entzog mit der Begründung, daß ich mir ja doch die Bücher, die ich brauche, nach Hause nehmen könne. Vergeblich machte ich geltend, daß ich meine Literatur meist von Buch zu Buch aufsuchen müsse; jener Mann[210] besaß das Ohr des Direktors in solchem Maße, daß er mit Erfolg das Feld seiner Sonntagsmorgenspaziergänge gegen fremde Eindringlinge verteidigen zu können schien. Es bedurfte meinerseits einer persönlichen Vorstellung beim Vorsitzenden des Verwaltungsrates, dem regierenden Bürgermeister, wo ich mit Nachdruck auf die empfindliche Behinderung wissenschaftlicher Arbeit, die am Polytechnikum nur von wenigen geleistet wurde, hinweisen mußte, um endlich wieder den freien Zutritt zur Bücherei zu erlangen.

Immerhin hatte dies burleske Erlebnis das Gute; daß der rücksichtslose Ernst meiner wissenschaftlichen Bestrebungen an maßgebender Stelle empfunden und begrüßt wurde. Ich fand dort ein noch größeres Entgegenkommen als bisher, das sich unter anderem in bereitwillig gewährten Unterstützungen zu wissenschaftlichen Reisen nach Deutschland betätigte, über welche bald zu berichten sein wird.

Die Bewirtschaftung des Geistes. So gingen unter mancherlei kleinen und großen Ereignissen die Tage schnell dahin. Die überfließenden Energiequellen der Jugend waren bei mir nicht, wie bei vielen Landsleuten, durch die alkoholischen Exzesse der Studentenjahre aufgebraucht worden. Nicht zufolge besserer Einsicht meinerseits; diese habe ich erst viel später gewonnen. Sondern ganz automatisch; die Leidenschaft für die wissenschaftliche Arbeit, die mich schon oft in Dorpat aus dem Kreise der Studenten plötzlich in das Laboratorium oder an den Studiertisch gescheucht hatte, war durch die sich steigernden Erfolge immer stärker geworden, und hatte mir den Geschmack an den Freuden des Zechtisches mehr und mehr genommen. Dazu kam das Gefühl auf der anderen Seite, daß ich an die unbedingte Herrlichkeit der »goldnen Burschenzeit«, die man tunlichst weit in das Philisterleben verlängern müsse, immer weniger glaubte,[211] was natürlich die »Gemütlichkeit« empfindlich störte. So fand hier eine rasche Trennung statt, ehe die gegenseitige Abstoßung bedenkliche Formen annahm.

Erholung fand ich vorwiegend im Wechsel der Arbeit. Forschung, Unterricht und Schreibtischarbeit, die drei Bestandteile des wissenschaftlichen Lebens, stellten alle ihre täglichen Anforderungen an mich und schufen mir dreifache Freuden, jedesmal wenn die beiden anderen erlaubten, daß ich mich der dritten hingeben durfte.

Für die häusliche Geselligkeit, wie sie mit Hingabe und Erfolg in meiner Vaterstadt gepflegt wurde, war allerdings keine Zeit übrig, und ich erregte den Unwillen meines seelenguten Schwiegervaters, als ich ihm erklären mußte, daß ich an seinen Freitagabenden trotz der netten Leute, die zu ihm kamen, nicht weiter teilnehmen würde. Ich konnte ihn nur dadurch milder stimmen, daß ich mich hinter die Rauchvergiftung zurückzog, der ich dabei ausgesetzt war, und die mir Unwohlsein und verminderte Arbeitsfähigkeit am nächsten Tage verursachte.

Mein Vater war ein starker Raucher. Trotzdem oder vielleicht deshalb hatte ich eine Abneigung gegen den Tabak und ließ mich auch in den späteren Knabenjahren, als die meisten meiner Kameraden rauchen lernten, nicht dazu verführen.

Die Studentenjahre mußte ich in einer dichten Wolke von Tabakrauch verleben, die ich oft genug verfluchte. Wohlmeinende Genossen sagten mir dann, daß man sich gar nicht belästigt fühle, wenn man selbst rauche; doch war mir der Gewinn um diesen Preis zu teuer. Und wenn ich dann beobachtete, wie unglücklich sich die Zecher fühlten, wenn in spätester Stunde der Tabak früher ausgegangen war als das Bier, so sah ich mich in meiner Abneigung gegen den übelriechenden Tabakteufel nur bestärkt. Auf diesem Standpunkt bin ich bis jetzt geblieben und es besteht nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß ich[212] ihn in den wenigen Jahren verlassen werde, die mir noch bevorstehen. Das Gefühl, einer wirklichen Lebensfreude durch die Enthaltung von Tabak verlustig zu gehen, habe ich nie gehabt.

Dagegen bin ich der Meinung, daß mir das Nichtrauchen erhebliche Gewinne gebracht hat. Ich rede nicht von der Ersparnis an Geld, denn da ich nie in Geldnot gewesen bin, so hätten mich die Ausgaben für Tabak nie bedenklich belastet. Was ich meine, wird an folgendem Beispiele deutlich. Es kommen im Leben, namentlich durch die notwendigen Beziehungen zu anderen Personen, zahllose leere Viertel- und halbe Stunden vor. Der Raucher zündet sich eine Zigarette an und verdampft sie auf solche Weise; ich sah mich genötigt, einen Inhalt für sie zu finden. War ich zuhause oder im Laboratorium, so griff ich aufs Geratewohl in die Bücherei; waren Bücher nicht zur Hand, so war es gewiß in meinem Kopfe irgendein wissenschaftliches Problem, mit dem ich mich eben herumschlug. Ich kann die Summe von unverhofften Funden nicht zusammenrechnen, welche ich solchen Viertelstunden verdanke; sie ist wirklich sehr groß.

Für die nötige physiologische Erholung sorgten die langen Sommerferien. In Riga bestand wie überall im Norden die Einteilung des Studienjahres in Herbst- und Frühlingssemester, so daß die Ferien auf Weihnacht und in den Hochsommer fielen. Das ist sehr viel vernünftiger als die in Deutschland gebräuchliche Einteilung mit den Oster- und Herbstferien und dem Winter- und Sommersemester, wo die Ferien in Jahreszeiten fallen, die zum Arbeiten viel besser geeignet sind und umgekehrt, ganz abgesehen von der unsinnigen Veränderlichkeit des Osterdatums. So wurden am Polytechnikum die Vorlesungen und Prüfungen Mitte Juni geschlossen. Die heißen Monate verbrachte wer es nur irgend konnte »am Strande«, d.h. am Ufer der Ostsee, die etwa 10 Kilometer von der Stadt[213] entfernt war. Hier zogen sich zwischen den Dünen des Meeresufers und den dahinter liegenden Wäldern und Mooren die Sommerhäuser der wohlhabenden Rigenser hin, untermischt mit Miethäusern, die von den Strandbauern errichtet waren. In den mittleren Gebieten hatten sich die Anspruchsvolleren angesiedelt; gegen die Enden zu wurden die Häuser kleiner, einfacher und wohlfeiler, so daß für alle Verhältnisse gesorgt war. Da ich in meiner Stadtwohnung nur ein ganz kleines Gärtchen hatte, so brachte ich Frau und Kinder so bald es das Wetter gestattete, am Strande unter. Einige Wochen mußte ich dann noch allein in der Stadt bleiben, bis der Semesterschluß mir gestattete, ganz überzusiedeln.

In diesen Sommerwochen war der Tag mit Baden, Essen, Plaudern, Spazierengehen ganz und behaglich ausgefüllt. Ich hatte es mir zum Gesetz gemacht, in den Ferien den Kindern jede Frage zu beantworten; sie hatten dies bald gemerkt und nutzten es bis auf das letzte aus. So sehe ich mich noch in meinem häufigsten Zustande: zwischen zwei Kiefern (andere Bäume wuchsen im Dünensande nicht) schaukelte die Hängematte, in der ich ausgestreckt lag, während auf meinem Bauche die Kinder saßen und unablässig fragten, bis wir von der Hitze des Tages überwältigt beiderseits einschliefen.

Ich hatte mir anfangs etwas Gewissensbisse um diese Art gemacht, die Zeit zu verbringen. Aber einerseits war ich es doch den Kindern schuldig (und sie haben es mir hernach herzlich gedankt), andererseits machte ich folgende beruhigende Beobachtung. Nachdem etwa vier Wochen solchen animalischen Daseins vergangen waren, ohne daß irgendein Bedürfnis nach wissenschaftlicher Arbeit empfunden wurde, begannen allmählich Überlegungen aus den bevorstehenden Forschungsgebieten aufzutreten, die sich vermehrten und schließlich eine lebhafte Ungeduld erzeugten, die neu entstandenen Gedanken[214] experimentell zu erproben. Wenn dann der kurze nordische Sommer vorüber war und ich einige Zeit vor dem amtlichen Semesterbeginn in das Laboratorium einzog, gestalteten sich jene lang erwogenen Gedanken in so kurzer Zeit zu einer abschließbaren Experimentaluntersuchung aus, daß ich die verbummelten Sommertage eher als Gewinn denn als Verlust buchen durfte. Sie ermöglichten mir nicht nur, in jenen Jahren angespanntester Arbeit das physiologische Gleichgewicht zwischen Ausgabe und Einnahme zu wahren, sondern steigerten meine Leistungsfähigkeit durch das Einsammeln überschüssiger Energievorräte während der Ferienzeit und unmittelbar hernach erheblich über das durchschnittliche Maß hinaus. Da nun der Wert solcher Leistungen viel schneller zunimmt, als der erforderliche Energieaufwand, wegen der Seltenheit solcher günstigen Zustände und der entsprechenden Spitzenleistungen, so kommt schließlich ein bedeutender Überschuß an erzielten Werten heraus.

Leider habe ich diese Theorie der Ferien erst lange nachher mir völlig klar gemacht und habe deshalb versäumt, mein Leben auch später, als noch höhere Anforderungen zu befriedigen waren, grundsätzlich darnach einzustellen.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 203-215.
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