Zwölftes Kapitel.
Fortschritte.

[231] Leitfähigkeitsarbeiten. Ich kehrte nach Riga zurück, den Kopf zum Überlaufen gefüllt mit Arbeitsplänen. Zunächst war der Umzug in das neue Laboratorium und die Durchführung seiner Ausstattung mit mancherlei neuen Geräten zu erledigen. Die Aufgabe war dadurch erschwert, daß sich, wie erwähnt, die Zuwachsschätzungen seitens der Autoritäten als viel zu niedrig erwiesen, so daß ich die neue Unterkunft von vornherein im überfüllten Zustande eröffnen mußte, der während meiner ganzen Amtsdauer bestehen blieb.

Da ich einen neuen Assistenten brauchte und unter meinen Rigaer Schülern keinen geeigneten gefunden hatte, wandte ich mich an Lothar Meyer um einen brauchbaren Kandidaten und berief auf seine Empfehlung den Schweizer Dr. Ulrich Schoop. Er hat viele Jahre später seinen Namen durch das von ihm erfundene Metallspritzverfahren rühmlich bekannt gemacht. In die Rigaschen Verhältnisse hatte er sich damals nicht recht zu finden gewußt.

Meine experimentellen Arbeiten bezogen sich natürlich zunächst auf die Entwicklung der elektrochemischen Probleme, insbesondere der Leitfähigkeit der Elektrolyte, die durch Arrhenius eine so große Bedeutung erlangt hatte. Zunächst war das Verfahren von Kohlrausch den besonderen Aufgaben anzupassen, die hier vorlagen.[232] Gut geeignete Telephone hatte ich in Stockholm gefunden, wo der damals eben beginnende Telephonverkehr eine besonders schnelle Entwicklung erfahren hatte. Die Brückenwalze und der besonders zur Erzeugung von angenäherten Sinusschwingungen erbaute Induktionsapparat wurden vorteilhaft durch den über einen Meterstab gespannten Brückendraht und das kleinste, spielzeugartige Induktorium ersetzt, das im Handel vorkam. Das Widerstandsgefäß wurde nach einem von Arrhenius angegebenen Modell erbaut und der schon früher entwickelte Thermostat erwies sich bei der großen Temperaturempfindlichkeit der Leitfähigkeit als eine unentbehrliche Ergänzung. So nahm dies Gerät die Form an, in welcher es mir und unzähligen Nachfolgern gedient hat, um viele Tausend Messungen auszuführen.

Ehe ich aber die derart erzielten Ergebnisse zu weiteren Schlüssen anwenden konnte, mußte ich einen Einwand erledigen, der mir von autoritativer Seite, nämlich von G. Wiedemann in Leipzig gemacht worden war. Er bezweifelte, daß der Einfluß der Polarisation wirklich, wie Kohlrausch angenommen hatte, völlig durch die Anwendung der Wechselströme beseitigt war, und veranlaßte mich dadurch zu einer besonderen Experimentaluntersuchung. Das Ergebnis fiel völlig zugunsten von Kohlrausch aus; das Verfahren ist ohne Bedenken allgemein anwendbar und hat sich bis heute so bewährt.

So begab ich mich dann an die Arbeit und stellte in einer Reihe von Einzeluntersuchungen die allgemeinen Verhältnisse der Leitfähigkeit der Säuren fest. Am größten und gleichzeitig am mannigfaltigsten erwies sich der Einfluß der Verdünnung. Während die (auf ein Äquivalent oder Mol bezogene) Leitfähigkeit bei den starken, gut leitenden Säuren sich mit der Verdünnung nur wenig ändert, ist deren Einfluß sehr groß bei den schwachen. Kohlrausch hatte schon bei der Essigsäure, der einzigen[233] schwachen, die er untersucht hat, gefunden, daß die Leitfähigkeit etwa mit der Quadratwurzel aus der Verdünnung zunimmt.

Es erwies sich, daß diese beiden Gruppen als die Endglieder einer und derselben Reihe aufgefaßt werden können, so daß es für alle einbasischen Säuren nur eine einzige Verdünnungsfunktion gibt. Sie unterscheiden sich nur durch die Stelle, welche sie, gleiche Verdünnung vorausgesetzt, auf dieser gemeinsamen Kurve einnehmen, behalten aber bei Änderung derselben den gleichen Abstand. Dies war die erste Stufe zur Entdeckung des »Verdünnungsgesetzes«, welches die Fachgenossen hernach mit meinem Namen zu verbinden so freundlich waren.

Natürlich suchte ich nach der mathematischen Form dieses Gesetzes, die später durch Anwendung der Dissoziationstheorie von Arrhenius gefunden wurde. Auch erinnere ich mich, daß ich diese Form an meinem Zahlenmaterial geprüft hatte, da sie durch die Bemerkung Kohlrauschs über die Quadratwurzel aus der Verdünnung nahe gelegt war. Sie paßte einigermaßen, aber doch nicht genügend, um sie als erfahrungsmäßig begründet aufzustellen. Besser paßte eine andere Formel (ein Tangentenausdruck), bei der aber wieder eine rationelle Begründung nicht abzusehen war. Später hat sich herausgestellt, daß meine Zahlen durch einen gemeinsamen Fehler etwas entstellt waren, der von dem Ammoniakgehalt des Rigaschen Wassers herrührte. Dieser war zwar sehr gering und nur unter Schwierigkeiten nachweisbar, machte sich aber in den überaus kleinen Mengen Säure, die man auf ihre Leitfähigkeit noch untersuchen kann, deutlich geltend. Alle die späteren Entdeckungen über den Einfluß kleinster Stoffmengen auf die elektrolytische Leitfähigkeit waren damals erst zu machen.

Gemeinsame Arbeit. Unterdessen war die Zeit gekommen, wo Arrhenius nach Erledigung seiner häuslichen[234] Pflichten wie verabredet nach Riga kommen konnte. Er traf zu Anfang des Jahres 1886 ein und wir durften das Glück gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Denkens in vollen Zügen genießen. Wir fanden es am zweckmäßigsten, den praktischen Grundsatz der Arbeitsteilung zur Anwendung zu bringen. Ihm waren die von mir ausgebildeten Methoden physikalisch-chemischer Messungen noch ungeläufig und so führte er eine Anzahl Untersuchungen aus, in denen er einzelne Probleme erforschte, auf welche sich jene Methoden anwenden ließen. Reaktionsgeschwindigkeit, Leitfähigkeit, innere Reibung wurden bearbeitet. Ich war meinerseits in der Elektrochemie von den Leitfähigkeiten zu den elektromotorischen Kräften vorgeschritten, zu deren absoluter Messung ich das von Helmholtz angegebene Verfahren der tropfenden Quecksilberelektroden entwickelte. Schon in Dorpat hatte ich die grundlegende Arbeit G. Lippmanns über den Zusammenhang zwischen der Oberflächenspannung des Quecksilbers und dem Potentialsprung an dieser Oberfläche studiert und nicht ohne Mühe ein richtig gehendes Kapillar-Elektrometer zustande gebracht. Die Früchte dieser Vorarbeiten sind allerdings erst viel später zutage getreten.

J.H. van't Hoff. Winter, Frühling und Sommer vergingen so in ununterbrochener Arbeit, die noch durch die Ausarbeitung des letzten Teils meines Lehrbuchs vermehrt war, welcher der schwierigste von allen war, denn er sollte den Bericht über den Stand der Lehre von der chemischen Verwandtschaft enthalten. Kurz vorher war mir ein Werk zu Händen gekommen, das mir noch mehr Kopfzerbrechen machte, als seinerzeit die Schrift von Arrhenius. Es hieß: »Études de dynamique chimique« und war von einem ganz unbekannten Forscher verfaßt, dessen Namen laut Titelblatt J.H. van't Hoff war. Es brachte Untersuchungen über die Gesetze des Zeitverlaufs chemischer Vorgänge,[235] Experimente wie Theorien, wobei auf Vorgänger und gleichzeitige Forscher keine Rücksicht genommen war, und zum Schluß einige kurze und schwer verständliche Paragraphen, aus denen hervorging, daß der Autor in der Anwendung der Thermodynamik auf chemische Probleme erheblich weiter gekommen war als Horstmann, der als Erster vorangegangen war, also auch weiter als ich.

Dritte Reise. Als die Sommerferien herannahten, wurde meine Umgebung aufmerksam, daß ich den Eindruck eines Erschöpften und Erholungsbedürftigen machte. Ich beschloß daher, mit Arrhenius zusammen nach Deutschland zu reisen. Er ging nach Würzburg und Graz, während ich zunächst einige Wochen auf der Insel Rügen zubringen wollte. Später stand eine ungewöhnlich glänzende Naturforscherversammlung in Berlin bevor, auf der wir nochmals zusammenzutreffen gedachten.

Auf Rügen habe ich dann in Saßnitz, Göhren und Binz äußerst angenehme Tage verbracht.

In Göhren machte ich die Bekanntschaft des Philosophen Vaihinger, der schon damals Professor in Halle war. Ich erinnere mich gern der gemeinsamen Spaziergänge und Gespräche und fürchte nur, daß ich mit meinem unbedingten Naturalismus und meiner geringen Achtung vor philologischer Kleinarbeit dem Kollegen manchen Anlaß zum Mißfallen gegeben habe. Vom »als ob« war, soweit ich mich erinnern kann, nicht die Rede.

Die Hauptsache war aber diesmal das Malen nach der Natur. Ich hatte schon vor einigen Jahren schüchtern angefangen, nach der Natur Landschaftsbilder zu malen. Anfangs in Wasserfarben, später, als ich auf der schwedischen Reise einsah, daß dies Verfahren gerade im Freien leicht versagt, in Öl. Da ich keinen ordentlichen Lehrer dafür in Riga hatte, und sehr wenig Vorbilder, die der Nachahmung wert waren, hatte ich mir meinen Weg selbst zu suchen. Von meiner Wissenschaft her war ich gewohnt,[236] Gerät und Verfahren für jeden vorliegenden Zweck zu gestalten, nötigenfalls zu erfinden, und so hatte ich mir für diese Reise einen sehr leichten und praktischen Malkasten gebaut, den ich ohne merkliche Belastung auf meinen Wanderungen mitführen konnte, da er eine Staffelei entbehrlich machte. Er war schon der dritte oder vierte seines Geschlechts, da ich frühere Entwicklungsstufen in den Ferien am Rigaschen Strande erprobt und durch bessere ersetzt hatte. Die neuartige Landschaft, die ich auf Rügen in unvorhergesehener Mannigfaltigkeit antraf, wirkte in hohem Maße anregend auf mich, so daß ich mich mehr und mehr zu einer gewissen Freiheit in der Auffassung und Darstellung durcharbeitete. Wesentlich war hierbei, daß ich zufolge einer Anregung, die ich meinem Zeichenlehrer auf der Schule Clark verdankte, nicht auf Leinwand, sondern auf starkem, mit Leimwasser genügend ölfest gemachtem Papier malte. Dies machte mir möglich, mehrere nasse Blätter ohne gegenseitige Schädigung im Deckel des Malkastens unterzubringen, so daß ich meiner Neigung, auf jedes Blatt nicht mehr als eine bis zwei Stunden zu verwenden, keinen Zwang anzutun brauchte.

Auf dieser Rügenreise erlebte ich zum ersten Male die segensreiche Wirkung, die das einsame Malen vor der Natur auf mein übermüdetes Gehirn ausübte. Viel später hat mein Leipziger Kollege Flechsig, der berühmte Erforscher des menschlichen Gehirns, mir die Theorie dazu gegeben. Jede Art Gehirntätigkeit ist an eine bestimmte Gruppe von Zellen gebunden. Ist eine solche Gruppe durch übermäßige Beanspruchung überreizt, so spricht sie auch ohne den zugehörigen Reiz auf jede zufällige Regung an und kommt nicht zur Ruhe und zur Genesung. Wird dagegen eine ganz unabhängige Gruppe lebhaft beansprucht, so schafft der Blutumlauf die Energievorräte dorthin, wohin die neuen Reize sie rufen; die erschöpften Zellen bleiben links liegen, werden entlastet und können sich[237] wieder ins Gleichgewicht setzen. Da ich ein, wenn auch nicht großes, doch gut ausgesprochenes Talent für die malerische Betätigung besaß, namentlich bezüglich der Farbe, so war der Reiz stark genug, um die beschriebene heilsame Wirkung auszuüben. Ich habe in der Folge immer wieder von diesem Heilmittel Gebrauch gemacht, das mir nicht nur die gefährdete Gesundheit und Arbeitsfrische zurückbrachte, sondern mir unmittelbar ungezählte sehr glückliche Stunden verschaffte.

Von nicht geringer Bedeutung war dabei, daß ich bei der Durchführung solcher Malkuren völlig unabhängig von meiner augenblicklichen Umgebung wurde und mich auch im einsamsten Winkel nicht vor Langeweile zu fürchten brauchte. Ich hatte also nicht nötig, mir Feriengesellschaft zu sichern oder zu suchen, wo die Fernhaltung wissenschaftlicher Denktätigkeit kaum durchführbar war, sondern konnte die Orte frei wählen, die mir für meinen Zweck am geeignetsten und bequemsten waren.

Das eben Dargelegte hat allgemeine Bedeutung. Jeder stark beanspruchte Geistesarbeiter bedarf einer solchen mit Liebe betriebenen Nebenbeschäftigung, und je ferner sie dem Hauptberuf liegt, um so geeigneter ist sie.

Die Berliner Naturforscherversammlung. Tatsächlich war ich völlig hergestellt, als ich dann nach Berlin ging, so daß ich die nicht geringen Anstrengungen der gelehrten Festlichkeiten bei regster Teilnahme ohne Nachteil überstehen konnte.

In Berlin gab es mancherlei Belangreiches. Zunächst sah ich die meisten Kollegen wieder, die ich 1883 auf der Laboratoriumsreise flüchtig kennen gelernt hatte, und konnte jetzt etwas ausgiebiger mit ihnen bekannt werden. An den freundlichen Gesichtern, denen ich mich gegenüber sah, konnte ich entnehmen, daß dies den meisten willkommen war. Auf den Sitzungen trug ich einige von den Ergebnissen meiner Arbeiten vor und konnte dabei ein[238] interessantes taktisches Manöver beobachten. Während nämlich die Fachgenossen, deren Arbeiten den meinen näher standen, sich mir mit freundlichem Entgegenkommen genähert hatten, ließ sich eine Gruppe »reiner« Organiker erkennen, denen es unwillkommen war, daß sich in der Chemie neben ihren Sachen überhaupt etwas ganz davon Unabhängiges betätigen wollte. Und obwohl dies Neue auf ganz wenige Hände und Köpfe beschränkt war, äußerte sich die vielleicht vielfach noch unterbewußte Eifersucht auf die beginnende Konkurrenz bei manchen Gelegenheiten.

So war ich in einer der Sektionssitzungen eben beschäftigt, die ersten Ergebnisse meiner Leitfähigkeitsmessungen an organischen Säuren darzulegen und hatte das Interesse der Hörer soweit gewonnen, daß es jenen bedenklich zu erscheinen begann. Wir sollten nach zehn Minuten eine Fahrt nach den Rüdersdorfer Kalkwerken antreten und ich hatte meine Rede demgemäß eingestellt. Mitten im Vortrag und viel zu früh schrie plötzlich der Professor Tiemann, einer der Führer jener Gruppe, in die Versammlung hinein: Wir müssen aufbrechen, und erreichte so, daß die Mitteilung nicht zu Ende gehört wurde. Ich war damals harmlos genug, das Manöver als einen Zufall aufzufassen und mußte erst von Anderen über dessen Zweck aufgeklärt werden.

Auf der Rüdersdorfer Fahrt erlebte ich ein anderes allzumenschliches Stücklein, das die Berliner Luft kennzeichnete. Wir waren in Rüdersdorf sehr reichlich bewirtet worden und wurden von dort nach dem nahen Erkner geleitet, wo eine chemische Fabrik zu betrachten war. Als wir uns dem Orte näherten, glänzten uns lange Reihen gedeckter Kaffeetische entgegen, die dem wohlgefüllten Magen neue Anstrengungen zumuteten. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich die in der Front wandernden Fachgenossen immer schneller sich bewegen, und diese[239] Beschleunigung auch die Folgenden erfassen sah, bis ein förmlicher Wettlauf, und kein lachender, nach den Kaffeetischen eingetreten war. Was trieb diese gesättigten Menschen an, die doch alle auf Bildung Anspruch erhoben, und ließ sie alle Selbstbeherrschung vergessen? Es war eine unwillkürliche Äußerung des Konkurrenzkampfes und -neids, der die tägliche Lebensluft jener Stadt erfüllte.

Die Zeitschriftfrage. Die Berliner Versammlung gab mir Gelegenheit, eine neue Unternehmung zu besprechen, welche mich und meinen Verleger Engelmann seit einiger Zeit beschäftigte. Nachdem der vierte und letzte Halbband meines Lehrbuches erschienen war und das Werk guten Absatz gefunden hatte, traten wir naturgemäß der Frage näher, ob es ratsam und tunlich wäre, einen Sammelpunkt für die neu entstehenden Arbeiten aus der allgemeinen Chemie zu schaffen, nachdem die Sammlung des Alten und Bisherigen glücklich vollendet war. Der Verleger war voll guten Willens und erklärte sich bereit, eine von mir zu begründende und zu leitende Zeitschrift herauszugeben. Obwohl mein Selbstvertrauen durch die bisherige schnelle und glückliche Entwicklung meiner inneren wie äußeren Stellung eine nicht geringe Höhe erreicht hatte, empfand ich doch einige Schüchternheit, nun gleichsam die amtliche Führung der Bewegung gegenüber der gesamten Wissenschaft nicht nur Deutschlands, sondern der Welt in die Hand zu nehmen. Denn ich war noch nicht ganz 33 Jahre alt und war nur wenige Male mit den Fachgenossen in kurze persönliche Berührung gekommen.

So hatte ich dem Verleger geschrieben, daß ich zwar persönlich die größte Lust zur Unternehmung hätte, aber doch lieber zuerst die Meinung der Fachgenossen erfahren möchte, wozu die Berliner Versammlung reichlich Gelegenheit bot.[240]

Die Ergebnisse meiner Befragungen waren völlig negativ. Der eine sagte, daß überhaupt schon zu viel Zeitschriften da seien und eine neue ganz und gar keine Abnehmer finden würde. Der andere meinte, daß, da schon physikalisch-chemische Arbeiten in den vorhandenen Zeitschriften kaum gelesen würden, sie in einer besonderen Zeitschrift überhaupt niemandem mehr zu Gesicht kommen würden; wir müßten also im eigenen Interesse darauf verzichten. Selbst Männer, deren persönliches und sachliches Wohlwollen außer Zweifel stand, wie Landolt und Lothar Meyer rieten von der Unternehmung ab, da sie zu gewagt und in ihrem Erfolge zu unsicher sei.

Ich merkte mir zwar diese Urteile und teilte sie auch dem Verleger mit, aber wir gaben den Plan darum keineswegs auf, sondern bereiteten gemächlich seine Ausführung vor.

Kunst. Neben den wissenschaftlichen Erlebnissen brachte der Besuch Berlins eine große Zahl künstlerischer. Von der Königlichen Oper wurde eine prachtvolle Aufführung der Walküre für die Naturforscher veranstaltet und auf dem Ausstellungsplatz am Lehrter Bahnhof fand ein glänzendes Künstlerfest statt. Persönlich erlebte ich zum ersten Male den Eindruck einer modernen Riesen-Gemäldeausstellung, denn die damalige enthielt bereits rund 3000 Bilder. Nachdem ich eben meinen ersten Vorstoß als selbständiger Maler versucht hatte, betrachtete ich mit brennendem Interesse die vielfältigen Äußerungen der zeitgenössischen Kunst, aus denen ich bei der Hilflosigkeit meiner damaligen Technik so ungemein viel lernen konnte. So hatte ich mehrfach bei der Wahl zwischen Wissenschaft und Kunst dieser den Vorzug gegeben, und lange Stunden auf der Ausstellung zugebracht.

Heimkehr. Erfrischt und vielfach angeregt kehrte ich nach Riga zurück, fest entschlossen, die Fahrt nach Europa sobald wie möglich zu wiederholen. Denn von[241] mancher Seite waren wieder mehr oder weniger deutlich Äußerungen gefallen, aus denen ich entnehmen konnte, daß man ernstlich mit dem Gedanken zu rechnen begann, daß ich in absehbarer Zeit einen Lehrstuhl an einer Universität Deutschlands einnehmen würde. Das Wann und Wo war freilich noch ganz unbestimmt. Aber nachdem sich die Allgemeine oder Physikalische Chemie in meinem Lehrbuch als eine wohlgeordnete und reiche Wissenschaft mit deutlichen Zielen zu erkennen gegeben hatte, entstand durch eine naheliegende Gedankenverbindung selbsttätig die Vorstellung, daß dieser Wissenschaft auch eine geregelte Vertretung an den Hochschulen gebühre.

Mir war der Gedanke, an einer Hochschule Deutschlands lehren zu dürfen, in hohem Grade willkommen, denn die Verhältnisse in Riga waren zunehmend weniger erfreulich geworden. Der langjährige Direktor Kieseritzky war zurückgetreten, nachdem ihm der Pulsschlag am Polytechnikum, wohl nicht ohne meine Schuld, allzu lebhaft geworden war. Unter seinem ziemlich jungen Nachfolger entwickelte sich auch in Riga der Gegensatz zwischen den baltischen und den reichsdeutschen Professoren, der in Dorpat schon meine letzten Jahre beschattet hatte. Er beruhte wesentlich auf dem grundsätzlichen Unterschiede bezüglich der Politik gegenüber der Petersburger Regierung. Während die Ausländer zum Gehorsam bezüglich der beginnenden Russifizierung bereit waren, da sie vor allem ihre Stellung nicht gefährden wollten, vertraten die Balten den Standpunkt des Widerstandes gegen diese Maßnahmen mit allen Mitteln, auch auf die Gefahr der Entlassung hin.

Zunächst war dieser Gegensatz noch latent, da die befürchteten Maßregeln verzögert wurden. In jenen Zeiten der Erwartung hatte ich einen Kreis der mir näherstehenden Kollegen zu einem geselligen Abend in meinem Hause versammelt und das Gespräch wendete sich naturgemäß[242] auf die aus Petersburg drohenden Maßnahmen, die noch nicht so nahe erschienen, daß wir die Hoffnung verloren hatten. So entstand, da wir vorwiegend junge Leute waren, ein gewisser Galgenhumor und einer schlug vor, nachzusehen wie wir uns durchschlagen könnten, wenn wir alle miteinander an die Luft gesetzt würden. Ich hatte meine Gäste mit allerlei chemischen Zauberstückchen unterhalten und so wurden wir einig, als wandernde Marktkünstler aufzutreten. Jeder mußte zeigen, was er in solcher Richtung leisten konnte. Einer vermochte Messer zu schlucken. Der Zweite legte ein Zeitungsblatt auf das Klavierpult und sang den Text der Anzeigen in hoch dramatischen Melodien nach Wagner herunter. Ein Dritter verstand rücklings vom Stuhle zu fallen, ohne sich Schaden zu tun. Nur der vor kurzem gewählte Direktor erwies sich als gänzlich unbrauchbar und wurde verurteilt, an der Kasse zu sitzen, da sein Fach die Nationalökonomie war.

Trübungen. Dieser heitere Abend war ungefähr das letzte Aufflackern der alten Harmlosigkeit. Die nicht recht geglaubten Maßregeln wurden nur zu bald Wirklichkeit und damit brachen die Konflikte jener beiden Gruppen aus. Obwohl Balte, genoß ich das persönliche Vertrauen der auslanddeutschen Kollegen und konnte zunächst die drohenden Ausbrüche vermitteln. Doch durfte sich niemand darüber täuschen, daß die Gegensätze nicht zu beseitigen waren und jederzeit wieder zum Ausbruch gelangen konnten, ja mußten. Dies blieb auch nicht aus und verbitterte den ohnehin trüben Zustand noch mehr. Dazu kam der unerhörte Vorfall, daß ein reichsdeutsches Mitglied des Kollegiums wegen Wechselfälschung den Gerichten verfiel.

Andererseits hatte der Aufstieg meiner wissenschaftlichen Betätigung – das eben vollendete Lehrbuch hatte schon begonnen, einen erkennbaren Einfluß auf[243] die Entwicklungslinie der chemischen Wissenschaft auszuüben – mir ein Mißverhältnis zum Bewußtsein gebracht, das gleichfalls grundsätzliche Beschaffenheit hatte. Die Anzahl der Chemiestudierenden hatte zwar in meiner kurzen Amtszeit sich mehr als verdoppelt, ihre Beschaffenheit hatte sich aber nicht verändert. Und diese Beschaffenheit stand erheblich unter der der Universitätsstudenten. Nur ein Bruchteil stammte aus den deutsch-baltischen Kreisen, in denen eine Kultur erreicht und gepflegt wurde, die der im Deutschen Reich nicht nachstand. Hier gingen aber die Jünglinge wenn irgend möglich auf die Universität und für das Polytechnikum blieben nur die Minderbegabten übrig. Ein großer Anteil der Schüler setzte sich aus Polen und Juden zusammen, die aus den verschiedensten Teilen des großen Reiches stammten und eine sehr verschiedene, meist aber unzulängliche Bildung mitbrachten. Dazu kam eine Anzahl Letten und Esten, die fast alle von ihren nationalen Bewegungen erfaßt waren und sich die deutsche Kultur nur aneigneten, um ihre Träger hernach um so wirksamer zu bekämpfen. Alle hatten kein anderes Ziel, als die Prüfungen so bald wie möglich zu bestehen, um einen praktischen Beruf zu ergreifen, wozu die überall in Rußland aufblühende Industrie reiche und bequeme Gelegenheit bot.

Nur ein einziger Schüler des Polytechnikums aus meiner Zeit ist zu wissenschaftlichem Ansehn gelangt und hat hier eine hohe Stufe erstiegen: Es ist Paul Walden, gegenwärtig Professor in Rostock, nachdem er vor dem Weltkriege eine sehr hohe wissenschaftliche Stellung in Riga und Petersburg erreicht hatte. Aber Walden war damals bereits Assistent (am physikalischen Institut) und hat sich zwar in meiner wissenschaftlichen Richtung, aber im wesentlichen selbständig ausgebildet.

Es ist schon erzählt worden, daß ich das zu erreichende Studienziel durch Einbeziehung einer wissenschaftlichen[244] Arbeit zu heben mich bemüht hatte. Ich mußte mich aber sehr bald überzeugen, daß die Aufgaben, wenn sie überhaupt gelöst werden sollten, sehr bescheiden bemessen werden mußten. Es war nicht leicht, alljährlich drei bis vier Dutzend solcher Aufgaben zu finden und ihre Ausführung zu überwachen, für welche nur einige Monate zu Gebote standen. Ich unterzog mich aber gern der Arbeit, denn da die künftige Tätigkeit meine Chemiker sehr oft in unerforschte Gebiete führte, so war für sie eine wenn auch beschränkte Erfahrung, wie man sich dem Unbekannten gegenüber zu verhalten hat, von lebenswichtiger Bedeutung.

Die Zeitschrift für physikalische Chemie. Das Mißverhältnis zwischen meiner amtlichen und außeramtlichen Tätigkeit wurde noch größer, als die Frage der eigenen Zeitschrift für physikalische Chemie, welche bei meinen Berliner Besprechungen eine so ungünstige Beurteilung erfahren hatte, durch Eingreifen von dritter Seite akut wurde. Jene Besprechungen hatten ihre Wellen fortgepflanzt und hatten bei einem unternehmungslustigen Hamburger Verleger Resonanz erzeugt. Er wandte sich Ende 1886 an mich mit der Anfrage, wie ich mich zu einem solchen Unternehmen stelle. Ich schrieb ihm, welche Bedenken ich angetroffen hatte und teilte gleichzeitig meinem Leipziger Verleger mit, daß unser Plan auch von anderer Seite aufgenommen würde. Von Hamburg erhielt ich sehr zuversichtliche Nachricht und ein vorläufig abgesetztes Titelblatt der geplanten Zeitschrift. Es stellte sich heraus, daß als Schriftleiter ein junger Berliner Fachgenosse in Aussicht genommen war, vermutlich der Übermittler der Nachricht, der keine irgendwie hervorragenden Leistungen aufzuweisen hatte, weder auf experimentellem noch auf literarischem Gebiet. Mir war der Posten eines Referenten über anderweit erscheinende Arbeiten zugedacht.[245]

Wenn als führender Mann einer der älteren Kollegen, die oben genannt wurden, aufgetreten wäre, hätte ich mich ohne Zögern angeschlossen und untergeordnet. Da aber vom Hamburger Verleger jener Mann als möglicher Herausgeber angesehen wurde, dem ich mich ohne alle Gefahr, der Überhebung beschuldigt zu werden, allseitig überlegen fühlen durfte, so verschwanden auch bei mir die Bescheidenheitsbedenken. Ich setzte Dr. Engelmann in Leipzig von der Sachlage in Kenntnis und schrieb nach Hamburg, daß ich längst den Plan einer solchen Zeitschrift ausgearbeitet hätte und bei der dortigen nur als Herausgeber mittun würde, da ich nicht wünsche, im eigenen Hause zur Miete zu wohnen. Es entstand ein lebhafter Briefwechsel. Dr. Engelmann bat mich, alsbald der Gründung der Zeitschrift unter meiner Leitung und in seinem Verlag vorzugehen, während der Hamburger Verleger mich zu überzeugen versuchte, daß die mir von ihm zugedachte Rolle eigentlich beneidenswert wäre. Ich richtete an die mir großenteils persönlich bekannten Fachgenossen, auf deren Beiträge ich hoffte, die Bitte, sich an einer von mir herauszugebenden Zeitschrift zu beteiligen.

Am Weihnachtsabend traf ein Telegramm aus Hamburg ein: »Wollen Sie unter unseren Bedingungen teilnehmen oder nicht?« Der Depeschenbote konnte gleich meine Antwort mitnehmen: »Nein.«

Da die meisten künftigen Mitarbeiter, an die ich mich gewendet hatte, zustimmend antworteten, so konnte alsbald an die Organisation der Zeitschrift im Verlage von Engelmann, gegangen werden. Die Mitarbeiterliste auf dem Titelblatt des ersten Jahrganges enthält die Namen: M. Berthelot, J.W. Brühl, Th. Carnelley, H.L. Chatelier, C.M. Guldberg, A. Horstmann, H. Landolt, O. Lehmann, D. Mendelejew, N. Menschutkin, Loth. Meyer, Viktor Meyer, L.F. Nilson, O. Pettersson,[246] L. Pfaundler, W. Ramsay, F.M. Raoult, R. Schiff, W. Spring, J. Thomsen, F.E. Thorpe, P. Waage. Wie man sieht, finden sich auch die glänzendsten Namen des Auslandes vor. Alle diese Männer, zum Teil von Weltruf, hatten der Einladung des vor wenig Jahren noch ganz unbekannten jungen Gelehrten Folge geleistet. Es darf wohl angenommen werden, daß das Ansehen der Verlagshandlung einen guten Teil zu diesem überraschenden Erfolge beigetragen hat.

Von großer Wichtigkeit war, den schnell berühmt gewordenen Holländer J.H. van't Hoff mit dem neuen Unternehmen zu verbinden. Er hatte nach der anderen Seite schon eine halbe Zusage gegeben, unter Vorbehalt einer endgültigen Entschließung. Auf meine briefliche Einladung antwortete er entgegenkommend, stellte aber die Bedingung, gleichfalls als Herausgeber auf dem Titelblatt genannt zu werden. Er fügte hinzu, daß er keineswegs in die Schriftleitung eingreifen, sondern sich mit der formalen Rolle begnügen wolle. In der Folge hat er sich unverbrüchlich hieran gehalten, so oft ich ihn hernach auch gebeten habe, aus dieser Reserve herauszutreten. Er fühlte keinen Beruf zu solcher Tätigkeit. Wohl aber lieferte er sofort einige Beiträge aus seinem Amsterdamer Laboratorium, die dem neuen Unternehmen zur Zierde gereichten. Mir erschien die Möglichkeit, die Zeitschrift so unmittelbar mit dem Namen des genialen Forschers zu verbinden, so wichtig, daß ich ohne weiteres auf seine Bedingungen einging. Ich habe es nie zu bereuen gehabt; vielmehr bin ich überzeugt, daß hierdurch der schnelle Erfolg der Zeitschrift zu einem guten Teil mit bedingt war.

Am 15. Februar 1887 wurde das erste Heft ausgegeben. Die weiteren Hefte folgten in Abständen von je einem Monat; das letzte (Doppel-) Heft des Jahrganges trägt das Datum des 27. Dezember 1887 und schließt mit der Seitenzahl 678.[247]

Die Sorge, daß die Leitung der in Leipzig gedruckten Zeitschrift vom fernen Riga aus Schwierigkeiten machen würde, erwies sich als nicht begründet, da das Erscheinen der Hefte nicht an bestimmte Termine gebunden war. Nur als ich im Juni an den Strand übersiedelte, mußte ich gelegentlich weite Spaziergänge machen, da das Postamt für den Empfang und die Aufgabe der Einschreibesendungen fünf Werst (oder Kilometer) entfernt war.

Die eigentlichen Redaktionsarbeiten, nämlich die Prüfung der einlaufenden Abhandlungen auf Eignung zum Abdruck, machten keine große Mühe, da die Entscheidung in den meisten Fällen unmittelbar mit ja oder nein gefällt werden konnte. Zwischenformen, die eine eingehende Prüfung erfordern, sind recht selten. Dazu hatte ich aber einige weitere Arbeiten freiwillig übernommen, die mich stärker beanspruchten. Ziemlich leicht erledigten sich die Übersetzungen der in fremden Sprachen eingelaufenen Arbeiten, die ich in den ersten Jahren alle selbst ausführte. Sprachliches Gestalten hat mir nie Schwierigkeiten gemacht, wohl aber angenehme Gefühle erweckt, etwa wie Schlittschuhlaufen oder andere Tätigkeiten, welche unmittelbar glatte Ergebnisse liefern. Denn ich brauchte nie mühsam nach passenden Worten zu suchen, sondern konnte das Sprachgut frei in dem Maße gestalten, als ich meine Sätze niederschrieb. Größere Ansprüche stellten die »Referate«, die auszüglichen Bearbeitungen der anderweit erscheinenden Facharbeiten. Aber auch diese Tätigkeit war mir geläufig und daher leicht und angenehm geworden durch die Abfassung des Lehrbuches, das ja durchweg auf solcher Arbeit beruht. Da für das Lehrbuch eine sorgfältige Kritik der Mitteilungen nötig und mit großer Hingabe durchgeführt worden war, so brauchte ich nur die gewohnte Tätigkeit fortzusetzen, um auch diesen Teil der Zeitschrift zu entwickeln, durch den ich einen vielfach nützlichen[248] Einfluß auch auf die fernerstehenden Fachgenossen gewann.

Das gleiche gilt von der »Bücherschau«, die ich gleichfalls durch eine längere Reihe von Jahren allein bearbeitete. Sie ist das Mittel gewesen, durch welches ich verhältnismäßig schnell erreichte, daß die neuen Gedanken, welche auf dem unerschöpften Felde bald in reicher Fülle aufsproßten, schneller den Eingang in die angrenzenden Gebiete fanden, als es ohne die geduldig wiederholten Erinnerungen des Berichterstatters über die neuen Bücher an solche Notwendigkeiten der Fall gewesen wäre. Die lebhafte Sprache, die mir natürlich war und die ich deshalb auch hier benutzte, verschaffte diesen Berichten zahlreiche Leser und gab dadurch meinen Forderungen einen stärkeren Nachdruck, dem selbst ausgesprochene Gegner auf die Dauer nicht widerstanden.

Arbeitsweise. Obwohl diese neue Arbeitslast neue Ansprüche an mich stellte, die natürlich am Anfange besonders groß waren, glaube ich mir das Zeugnis geben zu können, daß ich darum meine Berufspflichten nicht vernachlässigt habe.

Die Ausführung so vieler Dinge nebeneinander gelang vielmehr durch die große Reaktionsgeschwindigkeit, deren sich mein Gehirn damals erfreute. Während ich im Sprechzimmer mit den Kollegen plauderte, blätterte ich z.B. die ausgelegten Zeitschriften durch, merkte mir an, was zu referieren war und konnte hernach den Auszug glatt niederschreiben. Gerade diese, aus getrennten Stücken bestehende Arbeit ließ sich überall in vereinzelte Zeitlücken einfügen; das Umstellen des Gehirns auf den betreffenden Gedankenkreis vollzog sich ohne jede Anstrengung. Den Verlust dieser letzten Eigenschaft habe ich hernach als den leidigsten Nachteil des Alters empfunden.

Alle diese schriftliche Arbeit geschah eigenhändig mit der Feder. Ich habe niemals einem Sekretär oder[249] Stenographen diktieren mögen, da die Abhängigkeit von einem anderen Menschen mir unerträglich war. Die Schreibmaschine war damals selbst in Deutschland außerhalb der kaufmännischen Kreise eine Seltenheit und Tagesschreiber kokettierten mit der Mitteilung, daß sie ihre Erzeugnisse »tippten«. Wilhelm Wundt war unter den Gelehrten fast der einzige, der sich der Maschine bediente, seiner schwachen Augen wegen, wie seine Freunde entschuldigend hinzufügten. Schon der hohe Preis verbot den meisten den Gedanken. So war ich auf Feder und Tinte angewiesen, denn der trockene Tintenstift war noch lange nicht erfunden.

Das Bedürfnis, alle Arbeit möglichst reibungslos zu erledigen – die instinktive Vorausnahme des späteren energetischen Imperativs – hatte mich schon während der Dorpater Jahre veranlaßt, vergleichende Untersuchungen über Federn, Papier und Tinte anzustellen, um jene Zusammenstellung zu finden, welche das beste Schreiben ergab. Ich erfand allerlei Vorrichtungen, um die beim Eintunken gefaßte Tintenmenge möglichst groß zu machen, wählte Federn mit breiter oder gerundeter Spitze, ersetzte die Eisentinte, welche die Feder anätzt, durch neutrale Farbstofflösungen, verhinderte Krustenbildung durch Glyzerinzusatz, benutzte starkes, glattes Papier und gestaltete dadurch das Schreiben zu einem so reibungsfrei verlaufenden Vorgang, daß es mir unmittelbar Vergnügen machte.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 231-250.
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