Siebentes Kapitel.
Wirkung in die Ferne.

[124] Englische Teilnahme. Durch die gemeinsame Tätigkeit des Holländers van't Hoff und des Schweden Arrhenius mit mir, dem Deutschen, hatte die neue Lehre von vornherein eine internationale Färbung angenommen, welche durch die von vielen Seiten im Leipziger Laboratorium zusammenströmenden ausländischen Studenten erheblich verstärkt wurde. So ließ die Übertragung der Bewegung nach den nichtdeutschen Ländern nicht lange auf sich warten, zumal dort, wo sie ähnlichen heimischen Bestrebungen begegnete.

Dies war vor allem in England der Fall. Dort hatte sich im Jahre 1831 nach dem Vorbilde der deutschen Naturforscherversammlung die »Britische Vereinigung zur Förderung der Wissenschaften« gebildet, welche viel mehr als die deutsche Muttergesellschaft sich um die Organisation des Fortschrittes der Wissenschaft bemühte, welche in Deutschland in erster Linie als Sache der Universitäten angesehen wurde; in England waren die (alten) Universitäten hierfür nicht eingerichtet. So bestand die Gewohnheit, Fragen, deren Bedeutung für den Fortschritt empfunden wurde, besonders gewählten Ausschüssen in Behandlung zu geben. Diese ernannten einen Fachmann zum Berichterstatter, welcher das Vorhandene zur Sache zusammenzufassen pflegte und womöglich die Richtlinien[125] anzugeben hatte, in denen der Fortschritt voraussichtlich am nötigsten oder erfolgreichsten sein würde. Gegebenenfalls wurden auch experimentelle Arbeiten gemeinsam ausgeführt, für welche es nicht schwer war, Mittel von der Vereinigung zu erlangen.

Auf dem hergehörigen Gebiete bestanden zwei solche Ausschüsse: einer für Elektrolyse und einer für Lösungen. Der erste arbeitete unter der Leitung des Physikers O. Lodge, der eine rege Tätigkeit entfaltete, indem er sich brieflich an alle Wissenschafter der Welt wendete, von denen er eine Förderung der Sache erwartete. Es waren nicht übermäßig viele. Die Antworten ließ er drucken und sendete die Hefte allen seinen Korrespondenten zu. So war er auch mit mir und Arrhenius in Verbindung getreten und dieser hatte ihm im Herbst 1887 von Deutschland aus seine Gedanken über die elektrolytische Dissoziation geschrieben, deren erste Veröffentlichung in einem der Berichte des »Electrolysis comittee« stattgefunden hat. In den Verhandlungen hatte schon einige Jahre vorher der hervorragende Physiker Lord Rayleigh seine Überzeugung ausgesprochen, daß der nächste große Schritt in der Entwicklung der Chemie und Physik von einer vertieften Einsicht in die Vorgänge der Elektrolyse kommen würde; durch jene Mitteilung wurde diese Prophezeiung wahr gemacht. Auch meine erste Mitteilung über Tropfelektroden war an den gleichen Ausschuß gegangen.

Ein gleicher Ausschuß war für das Problem der Lösungen 1886 gebildet worden, für den sich aber kein so tätiger Vorsitzender hatte finden lassen. So hatte er sich hauptsächlich mit der Sammlung der Literatur beschäftigt. Einige experimentelle Ansätze hatten nicht weit geführt und wurden bald aufgegeben.

Die Lehre von den Knicken. Eine Belebung erfuhr die Frage durch das Eingreifen des berühmten russischen Chemikers D. Mendelejew. Dieser genoß in England[126] wegen seiner glücklichen Behandlung der Beziehungen zwischen den Eigenschaften der Elemente und den Werten ihrer Verbindungsgewichte ein außerordentlich hohes Ansehen, das um so unangetasteter bestehen blieb, als er kein Englisch verstand und nur sehr wenige Engländer Russisch. Deutsch konnte er, wenn auch ziemlich gebrochen sprechen, wie ich bei gelegentlichen Begegnungen auf englischem Boden feststellte. Bei der großen Bedeutung jener Entdeckung ist übersehen worden daß Mendelejews sonstige Beiträge zur Wissenschaft keinen Vergleich mit ihr aushielten; es ist tatsächlich keine weitere Arbeit von ihm bekannt, welche in den dauernden Bestand der Wissenschaft übergegangen wäre.

Mendelejew war durch den erwähnten Ausschuß angeregt worden, sich gleichfalls mit der Frage der Lösungen zu befassen. Mit den meisten Chemikern seiner Zeit nahm er an, daß zwischen Lösungsmittel und Gelöstem chemische Verbindungen entstehen, zu deren Nachweis er ein Mittel erdacht hatte, das ebenso originell wie falsch war. Während nämlich bisher alle Beobachter darüber einig waren, daß alle Eigenschaften der Lösungen sich stetig ändern, wenn man die Menge des Gelösten stetig ändert, so stellte er die Behauptung auf, daß diese Änderungen im ersten Differentialquotienten unstetig seien. Stellt man diese Eigenschaften in üblicher Weise durch Linien längs der Skala der Zusammensetzungen dar, so sollten diese Linien nicht in stetiger Krümmung verlaufen, wie bisher angenommen, sondern sich aus Teilstücken von verschiedener Neigung zusammensetzen, deren Knickpunkte dort lagen, wo die Mengen der beiden Stoffe in einfachen stöchiometrischen Verhältnissen standen, welche die Zusammensetzung der angenommenen chemischen Verbindungen ausdrückten. Mendelejew hatte einige Abhandlungen über ein solches Verhalten der Dichten von Lösungen nebst den zugehörigen Zeichnungen veröffentlicht,[127] die in England zunächst mit allem Respekt aufgenommen wurden, den man dem berühmten Entdecker zollte. Als aber seine Angaben geprüft wurden, erwiesen sie sich als falsch; die Knicke konnten nicht nachgewiesen werden und der alte Befund, daß die Linien stetig verlaufen, wurde bestätigt.

Immerhin war aber die Wirkungsdauer dieses Gedankens groß genug gewesen, um in einem englischen Fachgenossen Wurzel zu fassen. Er hieß Sp. U. Pickering und hatte sich zunächst selbst überzeugt, daß die von Mendelejew behaupteten Knicke in den Dichtelinien der Schwefelsäurelösungen nicht vorhanden waren. Der Grundgedanke aber, daß die Lösungen aus bestimmten Verbindungen bestehen, schien ihm zu gut, um ihn darum aufzugeben und so kam er auf die Idee, daß, wenn die Kurve selbst auch stetig ist, doch ihr zweiter Differentialquotient unstetig sein könnte. Wer ernstlich sucht, der findet, und so fand er die gesuchten Unstetigkeiten. Daß selbst, wenn die Annahme richtig ist, daß die Lösungen aus Verbindungen nach stöchiometrischen Verhältnissen bestehen, doch die Gesetze des chemischen Gleichgewichts die Stetigkeit der Kurven und ihrer Differentialquotienten fordern, also die Knicke ausschließen, war ihm nicht bekannt. Und als es ihm gesagt wurde, glaubte er es nicht.

Durch den großen Eifer, den er in der Sache der Knicke entfaltete, war dieser Sp. M. Pickering (wir nannten ihn den Knickering) ein führendes Mitglied im Ausschuß für Lösungen geworden und hatte unter denen, die sich nicht näher mit der Frage befaßten, eine gewisse Anhängerschaft gefunden. Es war derart etwas wie eine Englische Theorie der Lösungen entstanden, deren Anhänger das Erscheinen der neuen Lehre als ein unberechtigtes Eindringen in ein nationales Eigentum empfanden.

Auf der anderen Seite war mein Schüler J. Walker inzwischen Assistent des Professors der Chemie Crum[128] Brown in Edinburgh geworden und hatte diesen intelligenten und geistig ungewöhnlich beweglichen Gelehrten bald von den großen Vorzügen der neuen Lehre überzeugt. Andererseits war William Ramsay Professor am University College in London und Mitglied des Ausschusses für Lösungen geworden; auch er war von der wissenschaftlichen Bedeutung der neuen Lehre durchdrungen. Durch deren Einfluß wurde von der Britischen Vereinigung beschlossen, van't Hoff, Arrhenius und mich zu der nächsten Versammlung einzuladen, die im September 1890 in Leeds stattfand. Dort sollten wir in einer Aussprache mit den Vertretern der anderen Anschauungen unseren Standpunkt verteidigen. Dabei handelte es sich nicht nur um die Theorie der Lösungen, sondern ganz besonders auch um die Dissoziationslehre von Arrhenius, die den konservativen Engländern ganz besonders anstößig erschien.

Erste Begegnung mit van't Hoff. Ich empfand die Einladung als eine sehr erwünschte und günstige Gelegenheit, das neue Evangelium unter die Heiden zu tragen. Der Boden war schon etwas vorbereitet, da soeben eine englische Übersetzung meines »Grundriss« erschienen war, welche bei der sehr verbreiteten Unkenntnis fremder Sprachen unter den englischen Gelehrten ihnen die erste geschlossene Darstellung der neuen Lehre zugänglich gemacht und einen sehr allgemeinen Widerspruch hervorgerufen hatte. Die Verständigung mit vant' Hoff und Arrhenius (der inzwischen nach Stockholm zurückgekehrt war) ergab, daß nur der erste sich für die Reise frei machen konnte; Arrhenius mußte verzichten. So einigte ich mich mit jenem, daß wir gemeinsam nach Leeds reisen wollten; ich gedachte ihn einige Tage vorher in Amsterdam aufzusuchen, um ihn persönlich kennen zu lernen, was bisher nicht geschehen war.

Mit lebhaften Gefühlen begrüßte ich den sehr hochgeschätzten Arbeitsgenossen am Bahnhof zu Amsterdam.[129]

Ich fand einen mittelgroßen schlanken jungen Mann (er war fast genau ein Jahr älter als ich) mit dem typischen langgezogenen Gesicht und der graublassen Farbe seiner Landsleute, in dem aber die Augen unter etwas zusammengezogenen Brauen alsbald den Denker erkennen ließen. Da wir uns durch den mehrjährigen lebhaften Briefwechsel schon gut kannten, war auch das persönliche Verhältnis schnell hergestellt. Es hat sich in der Folgezeit auf Grund gegenseitigen Vertrauens zu einer wissenschaftlichen Freundschaft entwickelt, die niemals eine Trübung erfahren hat. So haben wir mehrfach um dieselbe Zeit die gleiche Entdeckung gemacht, ohne darum jemals in einen Streit, ja in eine Mißempfindung zu geraten. Er wußte, daß ich ihn rückhaltlos als den größeren Denker in unserem gemeinsamen Gebiet anerkannte, während ich wußte, daß er mir in organisatorischer und didaktischer Beziehung gern die Führung überließ. So ergänzten wir uns, und da außerdem zwischen Arrhenius und uns beiden die allerbesten Beziehungen bestanden, so bildete sich durch einen uns allen willkommenen natürlichen Vorgang jener Dreibund van't Hoff-Ostwald-Arrhenius (um die Namen nach der Altersfolge zu nennen) aus, der dauernde Spuren der gemeinsamen Tätigkeit in der Wissenschaft hinterlassen hat.

Van't Hoff machte mich mit seiner Frau und Kindern bekannt; damit begann ein freundschaftliches Wechselverhältnis, das hernach beide Familien – er hatte vier Kinder, ich fünf von übereinstimmendem Alter – dauernd zusammenhalten sollte. Nachdem zu folge seiner Übersiedlung nach Berlin ein allseitiges Kennenlernen ermöglicht war, hat es auch über seinen allzu frühen Tod fortgedauert.

Mit großer Neugier betrachtete ich die Stadt und den Hafen; war es doch die erste nichtdeutsche Stadt, die ich kennen lernte. Die wunderlich halbseitig gekleideten Waisenmädchen, von denen ich einen Zug auf der Straße[130] sah, sind mir im Gedächtnis geblieben, ebenso die Dienstmädchen, welche die Hausfronten von außen abwuschen.

Natürlich wurde das Laboratorium besucht, wobei ich mit Erstaunen hörte, welchen erheblichen Teil seiner Zeit mein Kollege mit amtlichen Kontrollanalysen verschiedener Art vergeuden mußte. Zufolge der vor einigen Jahren erfolgten Leipziger Berufung war ihm ein Neubau bewilligt worden, da das alte Laboratorium ungenügend war. Wir kletterten auf den Mauern des Neubaus herum das eben unter Dach gekommen war, bis ich zu meinem Schreck bemerkte, daß mein Begleiter nicht schwindelfrei war und Schwierigkeiten empfand, mitzuklettern.

Zum Besuch seiner Eltern nahm mich van't Hoff nach Rotterdam mit. Der Vater war ein praktischer Arzt, rüstig und tätig trotz seiner hohen Jahre, klein von Gestalt, ebenso wie die Mutter, die wie aus einem alten holländischen Gemälde gestiegen aussah. Beide nahmen mich mit besonderer Freundlichkeit auf, da ihnen meine Beziehungen zu ihrem Sohn bekannt waren und setzten uns an ihren Mittagstisch. Der Braten wurde auf einem Gestell warm gehalten, unter welchem einige Stückchen Torfkohle glimmten, die mit schneeweißer Asche bedeckt waren.

Auf einem Rundgange durch die Stadt waren mir an einigen Stellen geschnitzte und angemalte Köpfe über der Tür aufgefallen, die ein verzerrtes Gesicht mit herausgestreckter Zunge darstellten. Auf meine Frage nach ihrer Bedeutung erklärte mir van't Hoff, daß dies das altertümliche Zeichen der Apotheken sei. In diesen wurde vormals den Käufern auch medizinischer Rat erteilt, nachdem sie zum Zweck der Diagnose die Zunge vorgewiesen hatten. Um insbesondere dem des Lesens unkundigen Landvolk die Apotheke kenntlich zu machen, wurde der Kopf mit der typischen Gebärde angebracht, ähnlich wie der blaue Engel oder die goldene Sonne auf[131] den Gasthäusern, und hat sich wie dieses bis auf unsere Tage erhalten.

Leeds. Nach England schifften wir uns unter etwas Herzklopfen ein. Wir waren beiderseits der englischen Sprache nur vom Lesen mächtig und hegten Zweifel, ob das für die Bedürfnisse des Tages ausreichen würde. Doch ging es ganz gut. London berührten wir nicht, da voraussichtlich alle Kollegen nach Leeds unterwegs waren, Als wir unsere Augen eben an der grünen und fruchtbaren Landschaft von Yorkshire erquickt hatten, fuhr der Zug in die schwarze, rauchige Fabrikstadt ein. Wir waren einen Tag zu früh gekommen, so daß wir etwas Mühe hatten, uns zu den Häusern durchzufinden, in denen uns für die Dauer der Versammlung persönliche Gastfreundschaft erwiesen wurde.

Leeds ist eine Fabrikstadt mit großen Textilwerken und Färbereien, die damals Sitz einer Drittel-Universität war. Sie bildete mit Manchester und Liverpool zusammen die Victoria-Universität, welche eine gemeinsame Verwaltung für die drei Anstalten besaß. Doch machten sich schon damals Selbständigkeitsbestrebungen geltend, welche wenn ich mich recht erinnere, ziemlich bald zu einer Trennung geführt haben.

Mein Gastfreund war der dortige Chemieprofessor Arthur Smithells, ein schlanker, gut aussehender junger Mann, etwa in meinen Jahren, der mit seiner schönen und lebhaften Frau eine Villa mit Garten etwas außerhalb der Stadt bewohnte. Nicht ohne Mühe fand ich mich in den vielfach ungewohnten Lebensformen der neuen Umgebung zurecht, zumal mir das Verstehen des gesprochenen Englisch unverhältnismäßig viel schwieriger war, als das des gelesenen, ja auch als das Englischsprechen meinerseits. Doch half mir Ramsay, den ich alsbald auch persönlich kennen lernte, und der ziemlich geläufig deutsch sprach, über die ersten Schwierigkeiten[132] aufmerksam und liebevoll hinweg. Da er längere Zeit in Deutschland studiert hatte, waren ihm die Unterschiede deutscher und englischer Sitten wohlbekannt und er gab mir schnell und gewandt die erforderlichen Hinweise, wenn ich in Schwierigkeiten geriet.

Dir Britische Vereinigung. Von großem Interesse war mir der Vergleich der englischen Vereinigung mit den deutschen Naturforscherversammlungen. Der Hauptunterschied war und ist das Fehlen der Ärzte, welche bei uns mehr als die Hälfte der Teilnehmer ausmachen. Andererseits war dort die Soziologie als Sektion F, ökonomische Wissenschaften und Statistik, vertreten, welche bei unseren Versammlungen noch keine Stätte gefunden hat.

Die ganze Organisation ist viel straffer und stetiger als bei uns. Die deutsche Gesellschaft verfällt unmittelbar nach der Versammlung gleichsam in einen Winterschlaf, während dessen nur die Organe des Vorstandes von Zeit zu Zeit schwache Lebenszeichen geben, worauf einige Zeit vor der Versammlung die Vorbereitungsarbeit beginnt, die wesentlich auf den Schultern des Ortsausschusses ruht. Dieser wird jedesmal aus den Einheimischen gewählt, es besteht also nur insofern Stetigkeit, als der allgemeine Vorstand durch seine längere Amtsdauer bedingt. Bei der englischen Vereinigung besteht schon durch die zahlreichen Ausschüsse, die unbeschränkt nach Bedarf gebildet werden und die während des ganzen Jahres tätig sind, ein stärkeres Leben auch außerhalb der Zeit der Zusammenkünfte, Auch hat sich für die Versammlungstechnik eine Überlieferung und eine immer wieder benutzte Sammlung von Geräten herausgebildet, die den Ortsvertretern die Arbeit bedeutend erleichtern.

Die Art des Vortrages ist von der unseren ziemlich verschieden. Der Fachausdruck für diesen Vorgang lautet: »er liest ein Papier«, und man muß das ziemlich wörtlich nehmen. Fast immer wird eine schriftliche Aufzeichnung[133] wörtlich abgelesen, die hernach dem Schriftführer zum Abdruck übergeben wird.

Während man gern die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens zugeben wird, wenn auch nicht seine Schönheit, vermißte ich beide bei dem großen Vortrage des Präsidenten vor der ganzen Versammlung, die zur Hälfte aus Damen bestand. Es war diesmal der hervorragende Chemiker Abel, dessen Arbeitsfeld die Sprengstoffe waren. In mehr als zweistündiger Rede, die er ebenso sorgfältig wie eintönig aus seinem Heft ablas, verbreitete er sich über diesen Gegenstand, für den er sachliche Teilnahme nur bei wenigen erwarten durfte. Das Sonderbarste aber war, daß jeder Zuhörer auf seinem Sitzplatz ein gedrucktes Exemplar derselben Rede vorfand, die ihm eben vorgelesen wurde. Der ganze Vorgang vollzog sich aber mit der selbstverständlichen putzigen Würde, welche diese Nation bei offiziellen Feiern aufzubringen pflegt und keinerlei Unruhe in dem riesengroßen Saale gab Kunde von der ungeheuren Langeweile, die ich bei diesen tausend Menschen annehmen zu müssen glaubte. Anscheinend fühlten sie keine. Für mich war es eine willkommene Gelegenheit, gesprochenes Englisch verstehen zu lernen. Ich hörte aufmerksam zu, und wenn ich ein Wort nicht verstanden hatte, warf ich einen Blick in den gedruckten Text. So kam ich verhältnismäßig schnell in den Klang der Sprache hinein, was von großer Bedeutung für meine Teilnahme an den Verhandlungen war.

Die Verhandlungen. Für die Erörterungen der Fragen über Lösungen und Elektrolyse war reichlich Zeit angesetzt worden. Sie begannen mit einem langen Vortrage des oben erwähnten Herrn Pickering, der die Absicht verfolgte, sich zum Führer der ganzen Verhandlung aufzuschwingen und Lob und Tadel nach seiner Auswertung zu erteilen. Der Vortrag bestand aus zwei Teilen, nämlich erstens der Darlegung seines Verfahrens zum Auffinden[134] von Hydraten und zweitens der Widerlegung der Theorien von van't Haff und Arrhenius, von denen er, wie sich hierbei herausstellte, nur eine sehr oberflächliche Kenntnis hatte.

Dies füllte die erste Sitzung ganz aus, die an einem Donnerstag stattfand. An den beiden folgenden Tagen kamen auch nur Gegner – es gab ja außer uns fast nur Gegner – zu Wort, so daß mit dem Wochenschluß die kontinentalen Theorien vollständig abgetan schienen. Wir mußten uns darauf beschränken, im persönlichen Verkehr die Irrtümer und Mißverständnisse bei den bedeutenderen Teilnehmern der Versammlung zu beseitigen, soweit sie uns durch die geselligen Veranstaltungen zugänglich wurden. Insbesondere erinnere ich mich des Sonntagnachmittags, zu welchem Smithells eine Anzahl hervorragender Fachgenossen eingeladen hatte. Das Gespräch wurde sehr lebendig, und schließlich gelang es van't Hoff und mir, einige unserer Gegner zu überzeugen. Es waren natürlich die besten Köpfe.

Am Montag aber wendete sich das Blatt. Arrhenius hatte eine große Anzahl von Pickerings eigenen Messungen der Gefrierpunktserniedrigungen in verdünnter Schwefelsäure nach den Formeln der Dissoziationstheorie berechnet und eine erstaunlich gute Übereinstimmung gefunden, zum Beweise, daß Pickerings Messungen unvergleichlich viel besser waren, als seine Theorien. Diese Arbeit hatte er an Walker geschickt, der sie in seiner nüchtern-ruhigen Art vortrug und einen sehr starken Eindruck erzielte. Ferner hatte ich eine Beobachtung mitzuteilen, welche eine sehr anschauliche Erläuterung einer überraschenden Folge aus der Lehre ergab (Abscheidung von metallischem Kupfer durch den Strom an einer halbdurchlässigen Scheidewand). Ich mußte zum ersten Male eine wissenschaftliche Mitteilung in fremder Sprache machen. Nach dem Zeugnis meiner[135] Freunde hatte ich mich ganz gut damit abgefunden, so daß mir der Mut wuchs, nun auch in die Diskussion einzugreifen, um die großenteils mißverständlichen Einwendungen zu widerlegen, die man uns machte. Auch vant' Hoff hatte eine Mitteilung vorgetragen und sich erfolgreich an den Debatten beteiligt. So verschwand die »Hydrattheorie« unvermerkt gänzlich aus dem Gesichtsfelde und die Erörterungen bezogen sich ausschließlich auf die Frage nach der Durchführbarkeit der neuen Lehre. Von dem hervorragenden Physiker und Mathematiker Professor Fitzgerald war diese ursprünglich als ganz unmöglich angesehen worden, da er sich ganz falsche Vorstellungen von der Lehre gemacht hatte. Da er ein sehr naher Freund Ramsays war, so konnte dieser ihm klar machen, daß es sich hier nicht um einen willkürlichen Unsinn von Leuten ohne physikalische Kenntnisse handelte, sondern um wohlüberlegte und eingehend geprüfte Theorien, gegen die sich vom Standpunkt der thermodynamischen Exaktheit gar nichts einwenden ließ. Dies kam allerdings nicht in den Sitzungen zum Ausdruck, sondern wurde in langausgedehnten persönlichen Aussprachen behandelt.

Kinetik und Energetik. Kennzeichnend für die Natur der geistigen Schwierigkeiten, welche auch wohlwollende Kritiker gegenüber der Lehre vom osmotischen Druck empfanden, war der ständig wiederholte Einwand, daß man sich zwar sehr gut vorstellen kann, wie nach der Lehre der kinetischen Gastheorie der Druck der Gase durch die beständigen Anstöße der schnell dahinfliegenden Molekeln entsteht, dagegen durchaus nicht, wie etwas ähnliches in einer Lösung zustande kommen kann, wo die Molekeln des gelösten Stoffes beständig mit denen des Lösungsmittels zusammenprallen und dadurch an der Ausübung der Stöße gegen die Wand behindert werden. Vergeblich wendete van't Hoff dagegen ein, daß durch die Versuche[136] von Pfeffer das Vorhandensein des osmotischen Druckes experimentell über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen ist. Wenn also Schwierigkeiten bestehen, ihn kinetisch zu erklären, so sind das Schwierigkeiten für die kinetische Theorie, aber keine Gründe gegen die Tatsache. Die Hochachtung vor dieser Theorie, die hauptsächlich auf dem verwickelten mathematischen Apparat beruhte, welcher für ihre Durchführung auf einzelne, experimentell zugängliche Fälle erforderlich war, war so groß, daß man von vornherein mißtrauisch war, wo etwas mit ihr nicht stimmen wollte, mochten es auch Tatsachen sein.

Mir aber waren solche Erörterungen, an denen ich sehr oft teilzunehmen hatte, eine Ursache, meinerseits mißtrauisch gegen die kinetische Theorie zu werden. Dazu gehörte damals eine große Unabhängigkeit von der allgemeinen Meinung. Ich überzeugte mich, daß die bisherige Ausbeute der Lehre an reellen wissenschaftlichen Ergebnissen nicht groß war und sich fast nur darauf beschränkte, daß Gesetze aus diesen Vorstellungen abgeleitet wurden, die man ohnedies schon kannte. Nur wenig Neues, wie z.B. die Unabhängigkeit der inneren Reibung vom Druck, war vermittels der Lehre gefunden worden, und diese neuen Dinge hatten sich ohne erheblichen Einfluß auf die Erweiterung der Wissenschaft erwiesen.

Dieser kritischen Stimmung gab ich erst schüchtern, später immer deutlicher Ausdruck. Als ich dann aber mir Klarheit über die allgemeinen Methoden der Energetik verschafft und mich überzeugt hatte, wie schnell und sicher sie zu ganz bestimmten, zahlenmäßigen Ergebnissen führt, wo die Kinetik seitenlange Rechnungen mit entsprechend vielen Irrtumsmöglichkeiten erfordert, war meine Einstellung entschieden. Ich verlangte von mir und anderen vor allen Dingen zum Verständnis der Erscheinungen die energetische Rechenschaft und mißachtete die Kinetik als unsicher und zu wenig fördersam.[137]

Doch diese Dinge fallen in eine spätere Zeit und sollen alsdann erzählt werden.

Als wir endlich ermüdet aber befriedigt abreisten, konnten wir sagen, daß das Eis der Vorurteile gebrochen war und die Sache sich nun durch ihren eigenen Wert weiter entwickeln konnte. Zwar konnten wir nicht darauf rechnen, Gegner wie Pickering und Prof. Armstrong überzeugt zu haben, wie denn auch beide ihren Kampf später fortsetzten. Aber wir selbst hatten uns überzeugt, daß wir diese Gegner nicht ernst zu nehmen brauchten, denn sie waren Gegner auf Grund ihrer Gefühle und nicht auf Grund ihrer wissenschaftlichen Einsichten, die in beiden Fällen zur Bildung eines sachlichen Urteils nicht ausreichten. Auch verloren sie im eigenen Lande nach dieser Richtung bald den Einfluß, den sie vorher besaßen.

William Ramsay. Durch den ganzen Zeitraum, während dessen die chemischen Aufgaben im Mittelpunkt meiner Arbeit standen, zieht sich eine nahe Freundschaft mit dem ausgezeichneten englischen Chemiker William Ramsay. Wir waren von gleichem Alter und gleicher Geistesrichtung, nicht nur was die Wissenschaft anlangt, und dabei in der Art der Auffassung und des Betriebes unserer Aufgaben verschieden genug, um uns gegenseitig interessant zu finden. So entwickelte sich ein gutes Verhältnis gegenseitigen Vertrauens, das ungetrübt bis zum Weltkriege dauerte. Dieser riß ihn zu so leidenschaftlicher Teilnahme hin, wohl unter starker Beeinflussung seitens seiner Frau, deren Neigung von jeher sich vorwiegend nach Frankreich gewendet hatte, daß er in die Schmähreden gegen alles Deutsche ohne Ausnahme, die einen so erheblichen Anteil der gegnerischen Kriegsführung ausgemacht haben, nicht nur einstimmte, sondern sie durch eigene Beiträge vermehrte. Während des Krieges ist er dann gestorben.[138]

Unsere Beziehungen begannen durch die Zeitschrift. Er hatte um jene Zeit eine ganze Reihe weitreichender Forschungen über die Vorgänge der Verdampfung und Verflüssigung durchgeführt, und mir einiges davon zur Veröffentlichung geschickt. Ich bat ihn, einen Bericht über seine gesamten Arbeiten zu dieser Frage für die Zeitschrift abzufassen, den er gern gab; ebenso besorgte ich die Veröffentlichung weiterer Arbeiten von ihm.

Um jene Zeit bewarb er sich um den Lehrstuhl der Chemie am University College in London, der tätigsten der mehreren Universitäten Londons. In England werden die Kandidaten nicht von der Professorenversammlung aufgestellt und von der Regierung berufen, sondern freie Stellen werden ausgeschrieben und die Kandidaten bewerben sich selbst. Hierbei ist es Gewohnheit, soviel als möglich Zeugnisse, »testimonials« von namhaften Fachgenossen beizubringen, da die berufende Körperschaft kaum je einen Fachmann enthält. So hatte Ramsay auch mich um ein Zeugnis gebeten, und ich war ein wenig stolz darauf, es ihm erteilen zu dürfen.

Wann wir uns zum ersten Male persönlich kennengelernt haben, weiß ich nicht mehr. Da Ramsay in Deutschland bei Bunsen und Fittig (damals in Tübingen) studiert hatte, kam er häufig herüber und es ist wahrscheinlich, daß er mich gelegentlich in Leipzig besucht hat oder daß wir uns am dritten Orte getroffen haben. Jedenfalls war die Beziehung schon vorhanden, als wir uns während der Woche der Britischen Vereinigung in Leeds beständig sahen. Ramsay half mir überall, mich in den fremden Verhältnissen zurechtzufinden und wir traten uns so nahe, daß er mich einlud, ihn in seine Ferien zu begleiten, die er bei seinen Schwiegereltern an der schottischen Küste zuzubringen gedachte. Er war gebürtiger Schotte und erklärte mir, daß zwischen seinen Landsleuten und den Engländern ein sehr großer Unterschied[139] bestehe, der sich schon in der Sprache geltend mache; das Schottische Englisch sei dem Deutschen viel ähnlicher, als das Londoner. Ferner seien seine Landsleute für die Wissenschaft viel begabter als die Engländer, wie aus dem Umstande hervorgehe, daß z.B. unter den großen Chemikern seines Landes viel mehr Schotten als Engländer sind. Auch sei die Verfassung der Schottischen Universitäten der der Deutschen ähnlich, im Gegensatz zu der klerikalen Organisation der alten Englischen Cambridge und Oxford.

Ich glaube, daß er in allen diesen Beziehungen Recht gehabt hat.

Ich folgte sehr gern der Einladung. Ramsay zeigte mir einiges von seinem engeren Vaterlande. Zunächst Edinburgh, das eine der schönsten Städte Europas wäre, wenn das trübe Klima nicht störend dazwischen käme. Eine nationale Schwärmerei für Maria Stuart war noch reichlich vorhanden, obwohl oder vielleicht weil der Charakter dieser blendenden Persönlichkeit ganz und gar im Gegensatz zu dem ernsthaften und sachlichen Wesen der Schotten steht, bei denen schöne Gesichter viel seltener vorkommen als anderswo.

Dann besahen wir auf meinen besonderen Wunsch die Forth-Brücke, damals das kühnste Bauwerk dieser Art. Sie machte einen sehr starken Eindruck auf mich; ihre riesige Höhe empfand ich am deutlichsten von dem kleinen Dampfer aus, denn ein darüberfahrender Eisenbahnzug sah wie ein Spielzeug aus. Ich nahm eine Anzahl Photogramme mit, um sie zuhause meinem ältesten Sohn zu zeigen, den ich beeinflussen wollte, Werkwalt (Ingenieur) zu werden. Damit habe ich aber gar keinen Erfolg gehabt, denn da er längst im Laboratorium aus- und eingegangen war und mit den Praktikanten vielfach Freundschaften geschlossen hatte, konnte ihn nichts mehr von dem Schicksal fern halten, auch seinerseits einmal ein Naturforscher zu werden.[140]

In Ramsays Familie verbrachte ich dann eine angenehme Woche. Seine Frau war nach Gestalt und Kopfform der Königin Victoria ähnlich und bestrebte sich ohne großen Erfolg, der zunehmenden Körperfülle Herr zu werden. Sie hatten zwei nette Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, etwa im Alter der meinen. Die Schwiegermutter war eine liebe alte Frau, ganz Güte und Freundlichkeit. Der Schwiegervater war schweigsam und trat in den Hintergrund. Das Leben war ebenso ländlich, wie ich es am heimischen Strande gewohnt war, nur daß man sich viel mehr auf dem Wasser zu bewegen pflegte, woran Ramsay eine besondere Freude hatte. Ich tat sehr gerne mit. Auffallend war mir die stark betonte Kirchlichkeit. Am Sonntag wurde mir der zweimalige Kirchgang, am Vor- und Nachmittag, nicht geschenkt, ebensowenig die täglichen Hausandachten. Ich empfand keine Bedenken, mich der häuslichen Sitte anzubequemen.

Nach Hause. Auf der Heimfahrt machte ich einen flüchtigen Besuch in Glasgow, wo William Thomson (Lord Kelvin) Professor der Physik war. Ich hatte ihn in Leeds gesehen, war ihm auch vorgestellt worden und hatte mich seiner jugendlichen Lebendigkeit trotz des erheblichen Alters von 67 Jahren erfreut. Er hatte mein Herz von ferne dadurch gewonnen, daß er gelegentlich einer wissenschaftlichen Diskussion ohne Zögern erklärt hatte, daß eine vorher von ihm ausgesprochene Meinung irrtümlich gewesen sei, nachdem von einem anderen Redner – ich glaube, es war G. Stokes – ein Einwand erhoben war, den er als begründet anerkannte. Doch war es zu keiner persönlichen Annäherung gekommen. Ramsay, der sein Schüler gewesen war, hatte mich ermutigt, ihn aufzusuchen, doch war er gleichfalls in die Ferien gegangen.

Im übrigen erwies sich Glasgow als eine unbeschreiblich schmutzige Stadt, deren trübe und rauchsgechwängerte[141] Luft nach dem Aufenthalt am Meeresstrande besonders abstoßend wirkte. Ich fuhr nach Edinburgh zurück und ging von dort zu Schiff nach Deutschland, indem ich mir vorbehielt, die anderen Teile Englands später kennen zu lernen. Denn ich war von der Britischen Vereinigung zum auswärtigen Mitglied gewählt worden und hatte gern das Versprechen gegeben, das man mir abverlangte, die späteren Zusammenkünfte recht oft zu besuchen, was ich hernach auch mehrfach ausgeführt habe.

Edinburgh. Die Versammlung zu Nottingham im folgenden Jahre besuchte ich nicht, wohl aber die nächste, welche 1892 in Edinburgh stattfand und ungewöhnlich glänzend werden sollte.

Zur Reise nach Edinburgh bevorzugte ich wie immer, wenn ich die Wahl hatte, den Wasserweg. Ich ging in Hamburg auf einen Englischen Dampfer, der gerade nach Leith, der Hafenstadt Edinburghs fuhr und auf dem ich einige von den deutschen Teilnehmern an der bevorstehenden Versammlung antraf. Es standen Beschlußfassungen über elektrische Einheiten bevor, für welche seitens unserer physikalisch-technischen Reichsanstalt Sachverständige hingeschickt wurden. Im Gedächtnis geblieben ist mir der unermeßlich lange holländische Physiker du Bois, der als reicher Erbe sein Leben nach Gefallen gestalten konnte und sich ein Privatlaboratorium in Berlin eingerichtet hatte, wo er in regem Verkehr mit den wissenschaftlichen Kreisen magnetischen Forschungen oblag.

Die Fahrt verlief etwas stürmisch, doch ohne Seekrankheit für mich. Der kleine Kreis der Tischgenossen hatte sich mit dem Kapitän gut angefreundet. Als wir in den landschaftlich schönen Hafen einliefen, vollzog sich eben ein ungewöhnlich prachtvoller Sonnenuntergang, den wir von der Kapitänsbrücke aus bewunderten. Im lebhaften Geplauder dabei vergaß der Kapitän, auf den[142] Kurs zu achten und hätte uns geradlinig auf einen Felsen auflaufen lassen, wenn er nicht im letzten Augenblick aufmerksam gemacht worden wäre. Es gelang noch eben, das Schiff zu wenden und er ersuchte uns kurz, ihn bei seiner Arbeit nicht weiter zu stören. Einem deutschen Schiffsführer wäre derartiges wohl nicht begegnet.

Die Stellung der neuen Lehre. Auf der bevorstehenden Versammlung erwarteten mich ganz andere Verhältnisse, als ich sie vor zwei Jahren in Leeds angetroffen hatte.

Die Beurteilung der neuen Lehren hatte sich in den zwei Jahren seit 1890 von Grund aus geändert. Sie waren sozusagen völlig hoffähig geworden. Von einer grundsätzlichen Ablehnung war überhaupt nicht mehr die Rede; sie galten als anerkannte Bestandteile der Wissenschaft, über deren Tragweite im einzelnen man verschiedener Meinung sein konnte, die man aber als zweifellosen großen Fortschritt anzuerkennen bereit war. Sehr viel hatte zu diesem Erfolg der einflußreiche Professor Crum Brown beigetragen. Er war von einem meiner besten Schüler aus England, James Walker mit der Lehre bekannt gemacht worden, nachdem dieser bei ihm Assistent geworden war und hatte sie alsbald mit eigenen Gedanken zu fördern begonnen. Der diesmaligen Versammlung hatte er mit Walker eine sehr elegante Synthese organischer Säuren durch Elektrolyse mitzuteilen, die auf einem ganz neuen Gebiet die Fruchtbarkeit der Lehre zeigte.

Unter dem Einfluß dieser Stimmung erstattete der Elektrolyse-Ausschuß, in dem sich die glänzendsten Vertreter der Chemie und Physik unter den Englischen Gelehrten befanden, wie Lord Kelvin, Lord Rayleigh, J.J. Thomson, A. Schuster, J.H. Poynting, A. Crum Brown, W. Ramsay, E. Frankland, H.B. Dixon, J. Larmor und viele andere, seinen siebenten und letzten Bericht, in welchem Mitteilungen[143] über eine tabellarische Sammlung des einschlägigen Materials gemacht wurden, und verzichtete auf weitere Tätigkeit. Maßgebend hierfür war wohl der Umstand, daß nunmehr die Angelegenheit ihren eigenen Weg genommen hatte und einer besonderen Förderung nicht mehr bedurfte. Daneben mag wohl auch die Erwägung mitgewirkt haben, daß der Schwerpunkt der Entwicklung sich zurzeit so vollständig in Deutschland angesiedelt hatte, daß dadurch jene Arbeit in England unverhältnismäßig erschwert wurde. Man durfte sich ohnedies darauf verlassen, daß die Arbeit der Zusammenstellung und Ordnung in Deutschland bestens besorgt werden würde, was denn auch geschah.

Englische Persönlichkeiten. Die gebräuchliche Gastfreundschaft erfuhr ich diesmal von dem Professor der Chemie an der Universität Edinburgh Alexander Crum Brown. Dieser war ein Mann von ganz ungewöhnlicher Weite des Gesichtskreises. Neben hervorragenden chemischen Untersuchungen beschäftigten ihn geometrischmathematische und sinnesphysiologische Probleme; er war einer der gleichzeitigen Entdecker der Funktion, welche die halbkreisförmigen Kanäle im inneren Ohr des Menschen für den Gleichgewichtssinn haben. Persönlich war er ein lebhafter Mann von mittlerer Größe und kräftiger Gestalt, mit weißem Haar und kurzem Bart, aber lebhaften dunklen Augen; in seinem Verhalten mehr den Weltmann als den Gelehrten zeigend. Er bewohnte ein großes, prächtig eingerichtetes Haus, in welchem er Raum genug hatte, neben mir noch einige andere Besucher der Versammlung zu beherbergen. Auf diese Weise kam ich in wiederholte Berührung mit Sir George Stokes, dem hervorragenden mathematischen Physiker, an dem die seltene Verbindung von persönlicher Milde und wissenschaftlicher Strenge mich besonders fesselte. Er sah ungefähr wie ein ins Englische übersetzter Kohlrausch[144] aus, war aber bedeutend älter als dieser. Er fragte mich, ob die Dissoziationstheorie eine Erklärung für den von ihm vor langer Zeit beobachteten merkwürdigen Einfluß von Chloriden auf die Fluoreszenz von Chininsalzen liefern könne. Ich mußte bekennen, daß mir die Tatsache unbekannt war und versprach, die Sache näher ins Auge zu fassen. Auch habe ich in der Folge eine eingehendere Untersuchung durch einen Landsmann des Entdeckers ausführen lassen; doch ist er nicht viel weiter gekommen. Die gänzlich veränderte Stellung der neuen Wissenschaft wurde bei der ersten festlichen Sitzung der Versammlung deutlichst zum Ausdruck gebracht. Wie erwähnt standen wichtige Entscheidungen über elektrische Normen bevor und zu ihrer Vertretung waren nicht nur einige Beamte der physikalisch-technischen Reichsanstalt entsendet worden, sondern ihr Präsident Helmholtz hatte sich in eigener Person nach Edinburgh begeben, wo er neben seinem alten Freunde Lord Kelvin bei dessen Freund und Mitarbeiter P. Tait untergebracht war. Als auf der Plattform sich die Beamten der Versammlung, der allgemeine Präsident, der Ortsausschuß und die Sektionspräsidenten eingefunden hatten, wurden Helmholtz und Lord Kelvin eingeladen, als Ehrengäste neben ihnen Platz zu nehmen. Eine gleiche Einladung erging an mich und ich kam mir wirklich wie eine Maus zwischen zwei Löwen vor, als ich der Aufforderung zögernd gefolgt war. Denn beide waren Vertreter der mathematischen Physik, die sie als freie Meister schöpferisch handhabten, während ich gerade nach dieser Richtung frühzeitig hatte erkennen müssen, wie eng mir die Grenzen gezogen waren.

Erquickend, fast rührend war die Freundschaft, welche jene beiden Großen gegeneinander betätigten. Es konnte kaum ein gegensätzlicheres Paar geben. Helmholtz kurz, stämmig gebaut, graublond, mit ruhigen[145] und sparsamen Bewegungen und fast unbeweglichem Gesicht; Lord Kelvin lang, mager, mit schlenkrigen Gliedern, die er ebenso lebhaft bewegte wie die Muskeln seines höchst ausdrucksvollen Gesichts. Jener ein Klassiker, dieser ein Romantiker, beide in schärfster Ausprägung. Sie hatten oft gleiche oder naheliegende Aufgaben bearbeitet, waren aber niemals in Streitigkeiten dabei geraten. Beim Fortgehen aus der Versammlung führte der stämmige Helmholtz vorsichtig seinen langen Freund, der infolge eines Unfalles ein lahmes Bein hatte und beim Gehen stark hinkte.

Mein Gastfreund Crum Brown hatte mir bei einem kleineren Festessen in seinem Hause den Platz neben Lord Kelvin angewiesen und ich konnte ein lebhaft angeregtes Plauderstündchen mit ihm genießen. Er machte mich in freundlichster Form auf einen Fehler aufmerksam, der mir beim Bericht über eine seiner Arbeiten in meinem Lehrbuch passiert war und den ich in der nächsten Auflage verbessert habe. Dafür hatte ich in einem Vortrag in der physikalischen Sektion einen Fall beigebracht, wo die von ihm vertretene Theorie von der vollständigen Umwandlung der chemischen Reaktionswärme in elektrische Energie in galvanischen Elementen sicher als fehlerhaft, weil mit dem zweiten Hauptsatz im Widerspruch erwiesen wurde.

Lord Kelvin holte, um mir als Tischnachbar eine Freude zu machen, seine deutschen Erinnerungen hervor, wußte längere Stellen aus dem Faust wortgetreu, wenn auch in wunderlicher Aussprache aufzusagen und erwies sich in jeder Beziehung als ein entzückender Tischgenosse von stürmischer Lebhaftigkeit.

Diese betätigte er auch während der Verhandlungen. Eine Edinburgher Tageszeitung brachte scherzhafte Zeichnungen der hervorragendsten Teilnehmer, unter denen Lord Kelvin als Springteufelchen Jack in the box dargestellt[146] wurde, das bei jeder Gelegenheit hervorschnellt, sobald man nur auf den Knopf drückt.

Abschluß. Ich verließ Edinburgh mit der Sicherheit, daß für die weitere Entwicklung unserer Sache in England weiter nichts besonderes zu tun nötig sei. Zwar polemisierte H. Armstrong noch lange hernach von Zeit zu Zeit dagegen; er wurde aber nicht sehr ernst genommen und man konnte, was er sagte, auf sich beruhen lassen. Dagegen bildete J. Walker, ein geborener Lehrer, der bald in selbständige Stellungen gelangte – er ist jetzt Crum Browns Nachfolger in Edinburgh – eine Schar überzeugter Ionier aus und im Leipziger Laboratorium waren die Engländer immer in mehreren Teilnehmern vertreten, unter denen sich eine größere Anzahl besonderer Begabungen befanden, die später in ihrem Lande eine starke Wirkung von bedeutenden Lehrstühlen aus entfaltet und die Lehre völlig heimisch gemacht haben.

Nach der Versammlung begleitete ich Ramsay auf einige Tage in seine Sommerfrische, die er auf der schottischen Insel Arran in einem Fischerhäuschen abhielt, das noch primitiver war, als die Sommerhäuser am Rigaschen Strande. Ein gleichaltriger Verwandter betätigte sich als Seemann auf einem kleinen halbgedeckten Segelschiff, auf dem wir den größten Teil des Tages zubrachten, häufig gestört durch Regengüsse und Windstöße, denn das Wetter war vorwiegend trüb und oft stürmisch. Wenn frisches Gemüse für die Küche nötig war, mußte eine Segelfahrt nach einer benachbarten Insel unternommen werden; wir konnten von einer Höhe der unseren das Gärtchen zwischen hohen aus Steinen geschichteten Wänden erkennen, innerhalb deren die Kräuter zum Gedeihen gebracht wurden. Im Freien wuchs nur ein dürftiges hartes Strandgras und ein niedriger Dornbusch, der undurchdringliche Massen bildete, zwischen denen spärlich schmale Wege ausgehackt waren. Einen Acker, den selbst[147] zu düngen man nicht als Raub ansehen sollte, gab es nicht; hierfür waren etwas größere Flecken im Busch freigemacht. Nach dem vielen Essen und Trinken im Menschengedränge wirkte dies primitive Leben höchst erquicklich und ich nahm erfrischt und dankbar von meinem Freunde und seiner Familie Abschied, um geradeswegs heimzukehren.

Nach England bin ich später noch oft gereist, hauptsächlich um Promotionen zum Ehrendoktor an mir vollziehen zu lassen, durch die ich in diesem Lande häufiger ausgezeichnet worden bin, als in einem anderen. Doch fallen diese Fahrten in spätere Zeiten, über welche jetzt noch nicht berichtet werden kann, da andere, wichtigere Ereignisse der Erzählung harren.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 124-148.
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