Zwölftes Kapitel.
Stickstoff.

[278] Das Problem. Meinem Lehrer Karl Schmidt, dessen Ausbildung unter dem unmittelbaren Einfluß Justus Liebigs stattgefunden hatte, war dessen Begriff des Kreislaufes der Stoffe geläufig. Nach diesem gingen die Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel usw. immer abwechselnd in organische und unorganische Verbindungen über. Die Pflanzen nähren sich von Kohlensäure, Wasser, Ammoniak usw. und verwandeln sich nach ihrem Tode unter dem Einfluß von Fäulnis und Verwesung wieder in diese, so daß auf solche Weise das Leben dauernd möglich ist.

Wodurch diese »Mühle des Lebens«, wie ich diese Gruppe von Vorgängen später genannt habe, in Bewegung gehalten wird, hat sich Liebig zwar gefragt. Die Antwort aber gab erst J. R. Mayer, dessen erste grundlegende Arbeit er in seinen Annalen der Chemie veröffentlichte. Es ist die Energie, und zwar die des Sonnenlichtes.

Während bei den anderen Elementen keine Schwierigkeit besteht, sie in Verbindungen hinein und wieder heraus zu bringen, ist dies allein beim Stickstoff anders. Seine Verbindungen zu zersetzen, ist zwar leicht, aber ob freier Stickstoff, wie er in der Luft massenhaft vorhanden ist, überhaupt wieder gebunden werden kann,[279] schien damals sehr zweifelhaft. So erinnere ich mich u.a. einer großzügig gedachten Vorlesung meines Fachgenossen Gustav Bunge in Dorpat, welcher bei der Behandlung dieser Fragen zu dem Ergebnis kam, daß die Bindungsmöglichkeiten des Stickstoffs sehr gering seien. Es sei deshalb eine Sache von größter weltwirtschaftlicher Wichtigkeit, mit dem mäßigen Kapital von gebundenem Stickstoff, das auf der Erdoberfläche vorhanden ist, so vorsichtig und pfleglich wie möglich umzugehen und alles zu vermeiden, wodurch es vermindert werden könnte. So verwarf er unter anderem die damals gerade lebhaft erörterte Leichenbestattung durch Feuer, weil dabei der Stickstoffgehalt des Leichnams wegen der hohen Verbrennungstemperatur in elementares Stickstoffgas übergeht, also dem Kreislauf, vermutlich auf immer, entzogen wird.

Auf mich hatten diese Gedanken einen starken Eindruck gemacht, zumal ich nicht zustimmen wollte. Meiner damaligen radikalen Gesinnung (die sich inzwischen nur wenig abgeschwächt hat) gefiel die Leichenverbrennung als reinlicher und praktischer gegenüber der langsamen fauligen Zersetzung in der Erde und ich dachte über die Frage nach. Ich besann mich darauf, daß auch das Holz und die fossilen Kohlen stickstoffhaltig sind und daß hier beim Verbrennen eine ähnliche, nur viel ausgedehntere Beeinträchtigung des Stickstoffkapitals stattfindet, ohne daß dies sich durch eine Verkümmerung der Pflanzendecke der Erde geltend macht. Da die Verbindung von Stickstoff und Sauerstoff der Luft durch elektrische Entladungen bekannt war, schloß ich, daß aus dieser Quelle (und vielleicht aus anderen, noch unbekannten) die Verluste gedeckt werden, daß also für jene verhältnismäßig kleine Ersparung kein genügender Grund vorhanden sei.

Immerhin hatte sich jene Erörterung wegen des weiten Horizontes, den sie umfaßte, mir so stark eingeprägt,[280] daß mir die zugehörigen Fragen niemals ganz aus dem Bewußtsein schwanden.

Die Synthese des Ammoniaks. In den Vordergrund des Bewußtseins traten mir die Fragen erst wieder zu Beginn des Jahres 1900, also rund 25 Jahre später. Ich war damals versenkt in die Probleme der Katalyse, deren begriffliche Ordnung mir durch die entschlossene Anwendung der Energetik geglückt war. Es war jene Zeit, in welcher die Erschöpfungserscheinungen durch die vorangegangene übermäßige Arbeit noch nicht ganz überwunden waren. Ich war der Einladung des Kaufmännischen Vereins zu irgendeinem Festessen gefolgt, hatte dort aber eine höchst verstimmte Gesellschaft gefunden, da eben der Zusammenbruch der Leipziger Bank durch sinnlose Spekulationen ihres Direktors erfolgt war, wobei ich Gefahr gelaufen war, mitgezogen zu werden.

Der Zufall brachte mich in die Gesellschaft des damaligen Leipziger Oberbürgermeisters Tröndlin, des Bürgermeisters Dietrich und einiger Bankherren und ich sprach meine Verwunderung darüber aus, daß in Leipzig die chemische Großindustrie so wenig entwickelt war, da doch die Universität eine große Anzahl brauchbarer Chemiker alljährlich ausbildet. Die Antwort war, daß alles vorhandene Kapital anderweit nutzbare Verwendung gefunden habe. Dagegen sagte ich, daß die chemische Industrie zurzeit eine Art Goldland sei, in welchem noch große Funde möglich sind, die unverhältnismäßig hohe Gewinne bringen und führte als Beispiel die Synthese des Ammoniaks an. Der in der Nähe sitzende Professor der Landwirtschaft gab die Auskunft, daß tatsächlich von den drei Pflanzennährmitteln Kalium, Phosphor und Stickstoff dieser das teuerste sei; erst wenn sein Preis auf ein Zehntel herabgesetzt werden könne, würde Gleichgewicht bestehen. Stickstoffverbindungen aus Luft wären aber etwas wie der Stein der Weisen.[281]

Ich aber war der Ausführbarkeit gewiß. Durch Despretz und andere war beobachtet worden, daß Ammoniak beim Leiten über schwach glühendes Eisen fast vollständig in seine Elemente zerlegt wird. Das ist eine katalytische Wirkung, denn ohne das Eisen wird das Ammoniak bei dieser Temperatur nicht meßbar zersetzt. Folglich muß unter gleichen Umständen auch eine Synthese des Ammoniaks aus seinen Elementen stattfinden, denn der Katalysator kann nichts tun, als die Erreichung des Gleichgewichts beschleunigen. Dieses liegt vermutlich so, daß nur wenig Ammoniak neben viel Wasserstoff und Stickstoff vorhanden ist. Da aber bei der Verbindung eine Verminderung des Volums stattfindet, so muß der Anteil Ammoniak mit steigendem Druck nach wohlbekannten Gesetzen zunehmen.

Das Gespräch wandte sich nach anderer Richtung, ich aber brach auf und überlegte mir die Folgen, welche die Durchführung des Gedankens für das Deutsche Volk haben würde. Aus den Aufzeichnungen, die ich bald hernach (April 1900) meiner Frau in die Feder diktiert hatte, entnehme ich die folgenden Sätze:

»Deutschland käme in die Lage, den größeren Teil seines Brotbedarfs selbst zu bauen. Mit der Hebung der Landwirtschaft ist die Erhaltung des Bauernstandes und damit der Wehrfähigkeit Deutschlands auf ein weiteres halbes Jahrhundert gesichert. Auch würde nicht durch einen für Deutschland unglücklichen Seekrieg die Zufuhr des Stickstoffs unterbunden, der zu neun Zehntel als Chilesalpeter eingeführt wird. Ja, selbst die für den Krieg nötige Salpetersäure ließe sich durch Oxydation des synthetischen Ammoniaks mittels Luftsauerstoff unter Benutzung von Katalysatoren erzeugen.« Diese und manche andere Gedanken machten so lebhaften Eindruck auf mich, daß ich mich mit dem Entschluß zur Ruhe legte, am nächsten Tage das Problem experimentell in Angriff zu nehmen.[282]

So lebhaft mich diese Gedanken ergriffen hatten, fühlte ich mich doch außerstande, selbst entsprechende Versuche anzustellen, was mir früher nicht nur leicht, sondern ein Vergnügen gewesen wäre. Ich bat meine Assistenten, zuerst Dr. Bodenstein und später Dr. Brauer, das Gemisch von drei Raumteilen Wasserstoff und einem Stickstoff über mäßig erhitzte Eisendrahtbündel zu leiten und in den austretenden Gasen nach Ammoniak zu suchen. Nach ganz kurzer Zeit wurde es gefunden. Also bestätigte sich die theoretisch wohlbegründete Erwartung.

Ich hatte vorher sorgfältig die Möglichkeit erwogen, meine Entdeckung einfach zu veröffentlichen und der Industrie ihre Ausführung und Verwertung zu überlassen. Aber dann hätte Deutschland keinen Vorsprung erhalten, den ich meinem Vaterlande in dieser großen volkswirtschaftlichen Sache doch zu erhalten wünschte. Ich sprach mit meinen Mitarbeitern, mit Beckmann, der inzwischen durch die Berufung zum Professor für angewandte Chemie mein nächster Kollege geworden war und zuletzt mit Wilhelm Wundt, dessen freundschaftliche Teilnahme auch in diesem ihm fernliegenden Falle nicht versagte. Es ergab sich, daß die von mir zunächst geplante Übergabe der Sache an die Sächsische Regierung unzweckmäßig sein würde, da ich voraussichtlich keine freie Hand für die von mir als nötig angesehenen Maßnahmen behalten würde und daß die Einreichung einer Patentanmeldung und Verhandlungen mit der deutschen Großindustrie den kürzesten und erfolgreichsten Weg ergeben würden. Dies war insbesondere die Meinung Wundts, der ich mich anschloß.

Denn als Nebenergebnis winkte mir auf diesem Wege auch die Erfüllung eines persönlichen Wunsches, die ich mehr und mehr als Notwendigkeit empfand.

Bei halbwegs angemessener Verwertung konnte mir die längst ersehnte Befreiung von der Last des Lehramtes[283] ermöglicht werden, ohne daß ich meine und meiner Familie wirtschaftliche Zukunft zu gefährden brauchte.

So entschloß ich mich, nicht ohne Zögern und Scheu, mich auf das stürmische und tückische Meer der wirtschaftlichen Interessen zu wagen, von dem ich eben durch den Krach der Leipziger Bank eine sehr unerfreuliche Anschauung erhalten hatte. Vom eingereichten Patentgesuch hat sich der ursprüngliche Text erhalten, den ich als geschichtliches Dokument hersetze:

»Verfahren zur Herstellung von Ammoniak und Ammoniakverbindungen aus freiem Stickstoff und Wasserstoff.

Es ist bekannt, daß sich freier Stickstoff und Wasserstoff durch gewöhnliche Mittel nicht zu Ammoniak verbinden lassen; erst durch die Anwendung des elektrischen Funkens erzielt man eine sehr langsame und unvollkommene Vereinigung.

Ich habe gefunden, daß die Verbindung von freiem Stickstoff und Wasserstoff durch geeignete Kontaktsubstanzen oder Katalysatoren bereits bei geringer Erhitzung auf 250° bis 300° mit meßbarer Geschwindigkeit bewirkt werden kann. Die Geschwindigkeit nimmt mit steigender Temperatur schnell zu. Als Katalysatoren dienen beispielsweise Metalle, hauptsächlich Eisen und Kupfer, denen man große Oberflächen gibt. Die Verbindung ist nie vollständig, sondern führt zu einem chemischen Gleichgewicht und die gebildete Ammoniakmenge ist daher von dem Mengenverhältnis der Stoffe abhängig. Um die Verbindung vollständig zu machen, muß man das Ammoniak aus dem Reaktionsgemisch entfernen, was durch Aufnahme desselben mit Wasser oder Säuren geschehen kann. Das Gasgemisch kann zu diesem Zweck einen Kreislauf, nötigenfalls unter Abkühlung und Wiedergewinnung der Wärme durchmachen.[284]

Da die verhältnismäßige Menge des Ammoniaks im Gasgemische mit steigendem Druck zunimmt, so ist es zweckmäßig, die Synthese unter vermehrtem Druck auszuführen.

Patentanspruch: Die Gewinnung von Ammoniak und Ammoniakverbindungen durch Vereinigung von freiem Stickstoff und Wasserstoff mittels Kontaktsubstanzen«.

Wie der Fachmann alsbald erkennt, sind hier (März 1900) die Grundgedanken der gegenwärtig zu solcher Wichtigkeit gelangten Synthese des Ammoniaks sämtlich eindeutig und klar ausgesprochen, so daß ich mich wohl den geistigen Vater dieser Industrie nennen darf. Ihr leiblicher Vater bin ich freilich nicht geworden. Denn alle die schwierigen und mannigfaltigen Arbeiten, um aus einem richtigen Gedanken eine technisch und wirtschaftlich lebensfähige Industrie zu schaffen, sind von denen durchgeführt worden, die sich hernach des verlassenen Kindleins angenommen haben.

Die Verhandlungen mit den Vertretern der Großindustrie verliefen unter sehr angenehmen persönlichen Eindrücken. Ich hatte mich gleichzeitig an die drei oder vier führenden Fabriken gewandt, weil ich eine allgemeine deutsche Sache daraus machen wollte. Die ersten Besprechungen fanden mit Direktor Brunck von der Badischen Anilin- und Sodafabrik statt, der auf der Heimreise von Berlin mich in Leipzig besuchte; in seiner Begleitung befand sich Dr. Knietsch. Dann reiste ich, begleitet von meiner Frau, nach Frankfurt a.M., wo sich mein früherer Assistent und späterer Nachfolger im Amt, M. Le Blanc, befand, der damals eine Tätigkeit an den Höchster Farbwerken übernommen hatte. Auch die Vorverhandlungen mit den dort maßgebenden Herren vom Rat, von Brüningk, Laubenheimer, De Rydder verliefen hoffnungsvoll. Ich teilte mit, daß ich noch mit Ludwigshafen und Elberfeld in Verhandlung[285] stände und sie fanden es möglich, gegebenenfalls die Fabrikation nach einem Schlüssel zu verteilen. Ein Besuch in Ludwigshafen und eine Besprechung mit Dr. Duisberg von Elberfeld in Wiesbaden, wo wir die weitere Entwicklung der Angelegenheit abwarteten, führte nach einigen weiteren Verhandlungen zu einer vorläufigen Übereinkunft, die mir eine mehr als bequeme wirtschaftliche Zukunft in Aussicht stellte. Ich hatte nichts dawider, daß meine Einnahmen günstigstenfalls drei Millionen Mark nicht überschreiten sollten, da ich besorgte, daß schon die Verwaltung dieses Betrages meine Zeit und Kraft mehr als billig in Anspruch nehmen würde.

Inzwischen waren sowohl in Ludwigshafen wie in Höchst die von mir angegebenen Versuche wiederholt worden. Anfangs ohne Erfolg; später wurde jedoch regelmäßig Ammoniak erhalten. Die Mengen waren allerdings gering, während in Leipzig Ausbeuten bis 8 v.H. erhalten waren; freilich dazwischen auch viel kleinere.

Nach Leipzig zurückgekehrt, organisierte ich die tiefere wissenschaftliche Erforschung der Gesetze, nach denen der Vorgang verläuft und die Messung der maßgebenden Konstanten. Einige Zeit verging, bis die nötigen Geräte zugerichtet waren. Am Morgen des Tages, wo die ersten messenden Versuche angestellt werden sollten, lief aus Ludwigshafen ein Bericht ein, nach welchem die dort und in Leipzig gefundenen Ammoniakmengen daher rühren sollten, daß alles technische Eisen Stickstoff gebunden enthält, welches mit dem Wasserstoff des Gemisches Ammoniak bildet, gleichgültig, ob freier Stickstoff zugegen ist oder nicht.

Versuche, die ich daraufhin in Leipzig anstellen ließ und bei denen ich zugegen war, schienen diese Behauptung zu bestätigen. Mir war der Stickstoffgehalt des technischen Eisens nicht bekannt gewesen, doch enthielt die[286] Literatur allerdings entsprechende Angaben, die jedenfalls berücksichtigt werden mußten. Ferner aber ergab sich aus der Literatur, daß Wasserdampf die katalytische Zerlegung des Ammoniaks stark hemmt, also auch die Verbindung hemmen muß. Ich arbeitete deshalb mit trockenen Gasen und erhielt wieder Ammoniak. Als ich aber als Katalysator Eisenschwamm verwertete, der aus Schwefelkiesabbränden mit Wasserstoff erhalten war, ließ sich kein Ammoniak erkennen.

Aus Höchst waren inzwischen ähnliche Berichte wie aus Ludwigshafen angelangt, die wieder neue Arbeiten erforderten. Ich versuchte, Aufklärung zu gewinnen, fühlte mich aber bald durch das unaufhörliche Auf und Ab so erschöpft, daß ich eine weitere Beschäftigung mit diesen Dingen nicht mehr ertragen konnte. Vergeblich taten meine getreuen Assistenten alles, was sie konnten; ich sah, daß nur eine vollständige Befreiung von dieser aufreibenden Beschäftigung mich vor einem neuen Zusammenbruch meiner Gesundheit bewahren konnte. Ich verzichtete also auf den geschlossenen Vertrag und ließ das Patentgesuch verfallen. Das freundliche Anerbieten des Direktors Brunck von Ludwigshafen, mir die gehabten nicht ganz geringen Kosten zu ersetzen, lehnte ich dankend ab, da die Verhandlungen ja auf meine Anregung stattgefunden hatten. Der Verzicht auf die erhofften Millionen fiel mir zu meiner eigenen Überraschung nicht besonders schwer.

Salpetersäure aus Ammoniak. Im Herbst 1901 kam ich wieder auf die Stickstoffsache zurück. Es war in einem Sonntagnachmittaggespräch mit W. Pfeffer. Dieser war grundsätzlich pessimistisch gestimmt und ergriff jede Gelegenheit, um unerfreulichen Gedanken nachzuhängen, ganz im Gegensatz zu meinem grundsätzlichen Optimismus. Es war um jene Zeit wieder einmal durch eine unbedachte Äußerung des damaligen Kaisers eine Verstimmung[287] auf englischer Seite gegen uns entstanden und Pfeffer bezog sich auf die hilflose Lage, in welcher sich Deutschland im Falle eines Krieges mit England befinden würde. Wenn durch die englische Flotte die Zufuhr von Chilesalpeter verhindert wird, so müssen wir den Krieg notwendig verlieren, weil wir kein Pulver mehr machen könnten, nachdem das vorhandene aufgebraucht ist. Denn alles Schießpulver, vom uralten Schwarzpulver bis zum modernsten Pikratpulver kann nur mit Hilfe von Salpeter oder Salpetersäure hergestellt werden, und deren einzige Quelle ist der Chilesalpeter.

Ich mußte ihm Recht geben, da ich den gleichen Gedanken schon gelegentlich der versuchten Ammoniaksynthese erwogen hatte. Doch verdroß mich sehr der Sieg seiner pessimistischen Ansicht über meine optimistische. So sagte ich ihm, daß es Pflicht der deutschen Chemiker sei, diesem Mangel abzuhelfen und daß die Aufgabe durchaus lösbar sei.

Bei den Verhandlungen über jene Ammoniaksynthese war mir von Dr. Duisberg entgegengehalten worden, daß die künstliche Herstellung von Ammoniak wenig lohnend sein würde, da man dieses aus den Nebenprodukten der Kokereien, die damals nur zum Teil nutzbar gemacht wurden, in praktisch unbeschränkten Mengen gewinnen könne. Ich nahm dies als gegeben an und beschloß, die Umwandlung des Ammoniaks zu Salpetersäure zu untersuchen. Denn für die Lösung meiner Aufgabe standen zwei Wege offen. Einerseits die unmittelbare Verbindung von Stickstoff mit Sauerstoff, wie sie im elektrischen Flammenbogen vor sich geht. Andererseits die Umwandlung anderer Stickstoffverbindungen in Salpetersäure, wobei nur Ammoniak in Frage kam. Da die Umwandlung gebundenen Stickstoffs in das erwünschte Endprodukt zweifellos die leichtere Aufgabe war, so wendete ich mich dieser zu.[288]

Wieder reichte meine Energie nicht aus, um die einfachen Vorversuche selbst zu machen. Ich übertrug sie zuerst einem meiner Schüler, einem Deutsch-Amerikaner, der aber ihre Ausführung verzögerte. Mir aber erschien die Sache um so wichtiger, je länger ich über sie nachdachte. So entzog ich sie dem Ersten und übergab sie dem bewährten Mitarbeiter Dr. E. Brauer, der mir schon bei der versuchten Ammoniaksynthese treffliche Hilfe geleistet hatte und darauf brannte, jenen Mißerfolg auszugleichen.

Als Ausgangspunkt diente ein wohlbekanntes Vorlesungsexperiment. In ein Kelchglas werden einige Tropfen konzentrierte Ammoniaklösung gegossen. In das Gemisch von Luft und Ammoniakgas, welches im Glase entsteht, hängt man eine glühend gemachte Spirale von Platindraht. Dann glüht der Draht fort und das Glas füllt sich mit roten Nebeln von Stickstoffperoxyd.

Es wurde also ein einfaches Gerät aufgebaut, welches ein möglichst vollständiges Aufsammeln der entstehenden Stickoxyde ermöglichte. Schon der erste Versuch ergab, daß mehr als die Hälfte des verbrannten Ammoniaks in Salpetersäure übergegangen war, wobei der Katalysator aus einem kleinen Streifchen von Platinblech bestand, das mit Platinschwamm bedeckt war.

Für den nächsten Versuch wurde, um die Ausbeute zu steigern, die Strömung verlangsamt, damit der Katalysator länger wirken konnte. Die Ausbeute wurde aber nicht größer, sondern sank auf etwa 30 v.H. Als umgekehrt die Geschwindigkeit gesteigert wurde, stieg die Ausbeute bis auf 85 v.H.

Das sah aus, wie die verkehrte Welt. Ich ging unruhig herum und zerbrach mir den Kopf. Da kam mir plötzlich eine Verallgemeinerung in den Sinn, auf welche ich bei meinen Untersuchungen über die Grenze des festen Zustandes (II, 222) gelangt war. Wenn ein Gebilde[289] sich in einem Zustande erhöhter freier Energie befindet, von dem aus es sich umwandeln kann (und muß), so geht es nicht alsbald in den Zustand geringster freier Energie über, in dem es fernerhin ruhend verharren muß, sondern es geht in den nächsten Zustand über, bei dem seine freie Energie zwar geringer ist, aber noch nicht so gering, wie im Ruhezustande. Ammoniak und Sauerstoff haben die höchste freie Energie, Stickstoffoxyde und Wasser, die daraus entstehen können, haben die mittlere, freier Stickstoff und Wasser haben die geringste freie Energie. Je länger das Platin einwirkt, um so mehr muß also das Gebilde sich dem letzten Zustande nähern, wo überhaupt keine Salpetersäure mehr gefunden wird. Um in den mittleren Zustand zu gelangen, den ich anstrebte, durfte das Gemisch nur solange mit dem Platin in Berührung sein, daß zwar die Verbrennung vollständig, aber noch keine Bildung von freiem Stickstoff eingetreten war.

Es gibt also eine günstigste Berührungsdauer für den angestrebten Zweck, und sowohl eine kürzere wie eine längere muß schlechtere Ausbeuten ergeben. Natürlich hängt diese Berührungsdauer von der Art und Gestalt des Katalysators ab; es ist aber eine technisch leicht zu lösende Aufgabe, diese günstigste Dauer für einen gegebenen Kontakt zu finden.

Diese Deutung erwies sich als richtig. In wenigen Tagen hatte Dr. Brauer die Versuche durchgeführt, welche sie bestätigten und ich stand nun vor der Aufgabe, diese erhebliche Angelegenheit zweckmäßig fortzuführen.

Das einfachste wäre gewesen, alles Gedachte und Beobachtete als wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen. Dazu konnte ich mich nicht entschließen. Denn alsdann wäre die Sache in dem Ozean der wissenschaftlichen Mitteilungen im chemischen Gebiet unbeachtet geblieben und die Entwicklung des Laboratoriumsexperiments[290] zum technischen Großbetriebsverfahren, die erfahrungsgemäß fünf bis zehn Jahre zum mindesten beansprucht, wäre gerade zu der Zeit noch nicht vorhanden gewesen, wo sie im Ernstfalle notwendig gewesen wäre.

Neben diesen allgemeinen Erwägungen machten sich noch persönliche nicht weniger dringend geltend. Es ist schon angedeutet worden, wie sich durch die Änderung der psychophysischen Voraussetzungen auch eine Änderung meiner Lebensgestaltung als wünschenswert, ja notwendig herausstellte. Ich war nach Leipzig gekommen, um die Fülle des Arbeitswillens und der Arbeitsgedanken, die in Riga keine hinreichende Betätigung fanden, an einer aufnahmefähigen und willigen Schülerschaft sich auswirken, ja austoben zu lassen und hatte meine Absichten reichlich verwirklichen können. Nun war die Zeit des drängenden Überschusses vorüber und die Organe für die Anregung der Schüler zu immer neuen Arbeiten, welche so schonungslos in Betrieb genommen waren, erwiesen sich als erschöpft. Und zwar nicht nur vorübergehend, sondern dauernd. Denn wenn auch die anderen Funktionen, die schöpferische Arbeit im Laboratorium und am Schreibtisch sich nach der allgemeinen Genesung als wiederhergestellt und betriebsfähig erwiesen: für die Funktion des Forschungslehrers, die schwierigste von allen, machte sich die allgemeine biologische Tatsache geltend, daß die letzterworbenen Fähigkeiten beim Abbau am ersten schwinden.

Nun hatte sich allerdings gezeigt, daß diese Funktion mit gutem Erfolge von den Assistenten hatte übernommen werden können. Ich erlebte immer wieder mit Freude und Überraschung, in wie hohem Grade diese innerhalb der allgemeinen Arbeitsrichtung Fortschritte durch eigene, unabhängige Beiträge sowohl allgemeiner Gedanken wie experimenteller Verfahren bewirkten. Es[291] war im Laboratorium eine eigenartige wissenschaftliche Luft entstanden, welche alles Entwicklungsfähige, was dahinein geriet, zu reicher und fröhlicher Entfaltung brachte. Und dies, obwohl meine persönliche Einwirkung bei weitem geringer sein mußte, als früher.

Ich wußte damals nicht, daß meine Person, auch ohne unmittelbare Einwirkung auf die laufenden Arbeiten, doch in sehr wirksamer Weise als Katalysator für die Aufrechterhaltung der bisherigen Reaktionsgeschwindigkeit tätig war. Und ich war nicht geneigt, hierauf Acht zu geben, da ich durch die stark gewachsenen philosophischen und kulturellen Neigungen nur zu bereitwillig war, mich aus den bisherigen Verhältnissen loszulösen.

Hier bot sich eine Möglichkeit an, die Loslösung zu bewirken, ohne daß ich mich mit wirtschaftlichen Sorgen um die Zukunft meiner Frau und fünf Kinder zu belasten brauchte, falls nämlich mir jene Erfindung genügende Einnahmen sicherte. Die Erfahrungen, welche ich mit meinem Mitarbeiter Brauer schon seit Jahren hatte machen können, wo er sich als Lehrer und Freund meiner Söhne bewährt hatte, gaben mir die Sicherheit, daß in seinen Händen die Einzelausführung der bevorstehenden Arbeiten allerbestens aufgehoben sein würden. Und andererseits waren mir die Summen bekannt (wenigstens der Größenordnung nach), die mit Erfindungen von geringerer Tragweite erzielt worden waren.

Wenn ich beim Rückblick auf die Linien meines Lebens in den meisten Fällen, wo diese einen Knick oder doch eine schnelle Wendung aufweisen, mich nachträglich zweifellos zufrieden mit der damals eingeschlagenen Richtung aussprechen kann, so bin ich doch in diesem Falle unsicher. Denn die Wendung in den Wirbelsturm wirtschaftlichen Wettbewerbs hat mir mehr Unerfreuliches gebracht, als jede andere. Und was den in Geld[292] abzählbaren Erfolg anlangt, so beträgt er schwerlich mehr, als was mir meine Bücher eingebracht haben, und sicher weniger, als sie mir eingebracht hätten, wenn ich die vorhandenen literarischen Möglichkeiten energisch ausgenutzt hätte. Und bei den Büchern bekam ich noch wissenschaftlichen und literarischen Ruhm in den Kauf.

Die Wage würde also zweifellos zum Nachteil der technisch-wirtschaftlichen Schwenkung ausschlagen, wenn ich nicht im letzten Jahrzehnt eine Erfahrung gemacht hätte, welche die Gewichtsverhältnisse stark verschiebt. Ich hatte angenommen, daß jene Unerfreulichkeiten wegen der Geldfragen entstanden waren, die dabei ins Spiel kamen. Nun habe ich aber bei meinen Bemühungen, die neuen Gedanken der messenden Farbenlehre in Deutschland auszubreiten, wobei die etwaigen wirtschaftlichen Gewinne nur auf Seiten der Empfänger liegen mußten, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich muß daraus schließen, daß Neid und Trägheit, die beiden großen Gegner jedes Fortschrittes, noch bedeutend stärkere Faktoren sind, als Geld.

Vor allen Dingen ist es der Neid, welcher das Arbeiten nach außen, wobei zahlreiche Menschen beeinflußt werden sollen, so unerfreulich macht. Bismarck, der hierüber sehr ausgedehnte Erfahrungen hatte sammeln können, kennzeichnet die Deutschen dahin, daß bei uns jeder Fortschritt leidenschaftlich durch Leute bekämpft wird, die sich bis zum Erscheinen der ersten Erfolge überhaupt nicht um die Sache bekümmert hatten.

Es besteht kein Zweifel, daß der Neid eine allgemeine Eigenschaft ist, die der Mensch von seinen tierischen Vorfahren ererbt hat. Und zwar scheint sie beim Menschen durch einen Höchstwert zu gehen, denn je näher das Tier dem Menschen steht, um so entwickelter ist der Neid. Die Kuh ist frei davon, der Hund hat ihn im höchsten Maße. Beim primitiven Menschen ist Neid und[293] Eifersucht selbstverständlich. Und es gehört, wenn ich meine persönlichen Erfahrungen verallgemeinern darf, eine sehr kräftige Selbsterziehung dazu, sich von diesem niederträchtigen Gefühl zu befreien. Sogar in unserer neuesten sozialen Ordnung war der Neid gesetzlich festgelegt, wenn den Arbeitern gleiche Löhne zugeschrieben wurden, ohne Rücksicht auf die niederen oder höheren Leistungen der einzelnen.

Nun ist es durchaus nicht wahrscheinlich, daß diese Eigenschaft bei den Deutschen stärker entwickelt ist, als bei den anderen Völkern. Vielmehr dürfte im allgemeinen der Neid mit steigender Kultur etwas zurückgehen und hat sich demgemäß bei den Franzosen merklich stärker erhalten, als bei uns. Aber bei den anderen Völkern werden die Wirkungen des Neids einigermaßen gut gemacht durch das völkische Gesamtgefühl. Hat ein Franzose oder Italiener usw. jene Hindernisse überwunden und sich durchgesetzt, so wird er als ein Mittel empfunden, Ruhm und Glanz des eigenen Volkes im Wettbewerb der Nationen erfolgreich zu erhöhen und wird demgemäß nunmehr von den Landesgenossen erhoben und gepriesen, meist über die Ansprüche hinaus, die er bei unparteiischer Wertung erheben dürfte.

Bei den Deutschen fehlt diese Ausgleichung, entsprechend ihrem krankhaft schwach gebliebenen Volksbewußtsein. Hier wird der Neid erst recht aktiv, wenn der Landsmann nicht nur die heimatlichen Wettbewerber hinter sich läßt, sondern auch die ausländischen. Wie oft habe ich das beschämende Schauspiel beobachten müssen, daß zur Verkleinerung deutscher Erfolge fremdländische Konkurrenten oder Vorgänger von Deutschen ausgegraben und hervorgezerrt wurden, auch wo solche Ansprüche keineswegs gut begründet waren und daher von den Auswärtigen auch nicht erhoben wurden.[294]

Es war schon erwähnt worden, daß zwischen dem gelungenen Laboratoriumsversuch und dem technischen Großbetrieb ein Abstand besteht, dessen Weite nur der ermessen kann, der ihn auszufüllen unternommen hat. Zunächst ist ein Ort erforderlich, wo eine Versuchsanlage größerer Abmessung erbaut werden kann, und ferner müssen die Mittel dazu aufgebracht werden. Beide sind im wissenschaftlichen Laboratorium nicht vorhanden. Sind sie beschafft, so zeigt sich, daß eine Erfindung keine ist; es sind noch Dutzende weiterer Erfindungen nötig, um alle Schritte vom Rohstoff zum fertigen Erzeugnis zu ermöglichen. Und jeder dieser Schritte ist darauf zu untersuchen ob er nicht durch einen kürzeren, d.h. schnelleren und billigeren ersetzt werden kann. Denn außer den physikalischen und chemischen Notwendigkeiten muß in der Technik vor allem den wirtschaftlichen Genüge geschehen.

Duttenhofer. Bei den Bemühungen, den nötigen Anschluß an die Großindustrie zu finden, hatte ich diesmal zunächst gutes Glück. W. Will, den ich schon bei meiner ersten Anwesenheit in Deutschland kennen gelernt hatte (I, 186), war inzwischen wissenschaftlicher Leiter einer Forschungsanstalt, der »Zentralstelle« in Neu-Babelsberg bei Berlin geworden, welche von einem großen Konzern für Sprengstoffe gegründet war und unterhalten wurde. Er pflegte mich von Zeit zu Zeit zu besuchen, um mit mir besondere Aufgaben zu besprechen, die ihm in seinem Beruf entstanden waren. Ich war, da ich ihn sehr gern hatte, stets mit Hingabe auf seine Fragen eingegangen und hatte ihm wohl auch zuweilen gut verwertbare Auskunft gegeben. Da die Salpetersäure für seine Gesellschaften von besonderer Wichtigkeit war, konnte durch seine Vermittlung bald ein Vertrag geschlossen werden, der die technische Entwicklung des Verfahrens und alsdann seine wirtschaftliche Verwertung betraf.[295]

Die leitende Persönlichkeit des Konzerns war der Geheimrat Duttenhofer. In kleinen Verhältnissen in Schwaben geboren, dann zum Apotheker ausgebildet, hatte er sich durch Scharfsinn, Energie und organisatorische Fähigkeit zum Leiter der Köln-Rottweiler Sprengstoff-Gesellschaft emporgearbeitet und ein großes Vermögen erworben. Er gehörte zu den nicht seltenen Reichen, die um so mehr arbeiten, je größer der Kreis wird, den sie beherrschen. Schon war er in dem Alter, wo die Natur gebieterisch Schonung verlangt. Wenn man ihm aber riet, sich zu entlasten, so antwortete er: »Ich habe das ein paar Male probiert; wissen Sie, was Entlastung ist? Daß man Ihnen alle Sachen fortnimmt, die Ihnen Vergnügen machen und Ihnen nur die unangenehmen übrig läßt.«

Für die großen volks- und weltwirtschaftlichen Gesichtspunkte, welche meine Freude an diesen Dingen bedingten, hatte er offene Augen und ein offenes Gemüt. So kam er mir in großzügiger Weise entgegen und sorgte so ausgiebig für meine persönlichen Einnahmen, daß sie von dieser Seite bald höher waren, als was mir meine gesamte Unterrichtstätigkeit eintrug. Darum brachte ich ihm auch meinerseits ein volles Vertrauen entgegen und habe das nie zu bereuen gehabt.

Als ich mich einmal einige Minuten vor der angegebenen Stunde im Kaiserhof, Berlin, einfand, um eine Besprechung zu erledigen, traf ich ihn in herzlichster Weise abschiednehmend vor einem weißharigen, lebhaften Mann, der noch etwas kleiner und von weit zierlicherem Körperbau war, als der kurze, untersetzte Duttenhofer. Weißhaarig war eigentlich ein übertriebener Ausdruck, denn die Haare beschränkten sich auf einen dünnen Kranz im Nacken bis zu den Ohren und ein kurzes Schnurrbärtchen; die Bewegungen waren elastisch und die Sprache lebhaft. Beide Herren[296] schüttelten sich wiederholt auf das lebhafteste die Hand und beendeten offenbar ein Gespräch, das beide stark ergriffen hatte.

»Kannten Sie den Herrn?« fragte Duttenhofer mich hernach. Und als ich verneinte, sagte er: »Das war der arme Graf Zeppelin mit seinem lenkbaren Luftschiff. Er ist wieder einmal ganz abgebrannt. Er selbst hat all sein Vermögen hineingesteckt, seine Frau hat ihm alles gegeben, ich selbst habe ein paarmal reichlich ausgeholfen; er hat aber alles verbraucht. Eben wollte er wieder Geld haben, ich mußte ihm aber sagen, daß ich mich nicht mehr dazu entschließen kann. Er scheint es auch eingesehen zu haben. Aber geheult haben wir dabei beide!«

E. Brauer. Mit der technischen Entwicklung des Verfahrens betraute ich Dr. Eberhard Brauer, der schon die grundlegenden Laboratoriumsversuche gemacht hatte. Seine unermüdliche Sorgfalt und technische Begabung machte es erst möglich, daß sich aus jenen kleinen Anfängen eine große und wichtige Industrie entwickelt hat, welche später im Weltkriege den Zweck erfüllte, für den sie geschaffen war. Wenn während des größten Krieges, den die Menschheit erlebt hatte (möchte es doch der letzte gewesen sein!) Deutschland gegen fast die ganze Welt seinen Boden von Feinden hat frei halten können, so verdanken wir dies in erster Linie der Tapferkeit unserer Krieger und der Umsicht ihrer Führer. Aber beide hätten aus technischen Gründen den Widerstand nicht durchführen können, wenn nicht das in ungeheuren Mengen notwendige Schießpulver nach unserem Verfahren hätte hergestellt werden können.

Zunächst galt es, überhaupt erst die Formen zu finden, welche eine Übertragung des Laboratoriumsversuches in den technischen Maßstab möglich machten. Die Zentralstelle besaß in der Umgebung Berlins ein[297] großes Gelände für die Anstellung von Schießversuchen und die Herstellung von Sprengstoffen. Hier wurde uns ein Platz eingeräumt, auf dem die ersten Einrichtungen erbaut wurden, zunächst ein wenig ins Blaue oder auf gut Glück, weil die angemessenen Verhältnisse und Geräte erst unter der Arbeit entstehen mußten. Demgemäß entstanden zunächst Formen, die den Kampf ums Dasein nicht bestehen konnten und durch passendere verdrängt wurden. Ich mußte mein Amt in Leipzig versehen und kam nur alle zwei oder drei Wochen nach Berlin; Dr. Brauer nahm zunächst der Arbeitsstelle Wohnung.

Viel langsamer als wir gedacht und gehofft hatten, doch immerhin in angemessener Zeit entwickelte sich das technische Verfahren, so daß die Möglichkeit einer regelmäßigen Fabrikation in absehbarer Nähe erschien. Da wurden unsere Pläne und Hoffnungen durch das schlimmste Unglück durchkreuzt, das uns und unsere Sache treffen konnte, den Tod Duttenhofers. Durch ein schweres Brandunglück war eine wichtige Fabrikanlage der Gesellschaft zerstört worden und Duttenhofer hatte ohne Rücksicht auf seine Kräfte Übermenschliches geleistet, um die zerstörten Betriebe wieder zu organisieren. Er hatte in Erinnerung an seine frühere Unverwüstlichkeit dem weitgehend ausgenutzten Organismus zu viel zugemutet und war der Überanstrengung erlegen.

Dies war nicht nur ein sehr großer persönlicher Verlust für mich, sondern auch einer für die Sache. Denn die Personen, welche nach ihm die Zügel der Gesellschaft in die Hand nahmen, besaßen nicht die Weitsichtigkeit des Verstorbenen und bemühten sich mit Erfolg, die bestehenden Verträge zu lösen. So wurde unser Kind wieder heimatlos.

Nach einiger Zeit fanden wir einen neuen Pfleger. Er gehörte der Kohleindustrie an und schaute als Leiter[298] großer Kokereien nach einer vorteilhaften Verwertung des Ammoniaks aus, welches dabei als Nebenprodukt erzeugt wurde. Kaum aber war ein Übereinkommen geschlossen, so nahm auch ihn der Tod hinweg. Er hieß Klüssener.

Die Irrfahrten, zu denen wir wieder verurteilt waren, sollen nicht im einzelnen beschrieben werden. Wir landeten schließlich in einen Vertrag mit der Bergwerksgesellschaft Lothringen in Bochum. Für diese baute Dr. Brauer eine Anlage, welche von 1906 ab regelmäßig Salpetersäure und Ammoniumnitrat in technischem Maßstabe und mit gutem Gewinn herstellte.

Die weiteren Schicksale der Angelegenheit gehören in eine spätere Zeit.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 278-299.
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Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

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