Werkstatt-Hämmern

Gott hat gebeugten Seelen zwei Trösterinnen gewährt: Vergnügen und Arbeit, die manchmal umschichtig am Werke sind, einen Verzagten wieder aufzurichten, aber am stärksten wirken, wenn sie sich so verbünden, daß Arbeit, schwere Arbeit zum Vergnügen wird. Das ist mir in den neunziger Jahren freilich in reichstem Maße geworden. Anfangs tröstete mich allein Musik und Malerei. Ich komponierte, kontrapunktierte und wälzte dicke Folianten zur Instrumentationslehre, den Strauß-Berlioz, Gevaert, die fünf Bände Hoffmann und den alten Marx habe ich in unzähligen Notenproben durchgeackert. Ganze Körbe voll beschriebener Notenstöße wanderten immer wieder auf den Boden. Mit Malerei begann ich mich erst von hierab ernstlich zu befassen, namentlich angeregt durch den intimen Verkehr mit den Malern Eugen Hanetzog, Posner und Müller-Breslau und meinem Onkel Hans Schleich. Bei einigen exakten Vorversuchen über Farbmedien – ich wollte mir meine Farben durchaus allein bereiten, da ich ein wohlausgestattetes chemisches Requisit mein eigen nannte – stieß ich auf eine neue Erfindung: ich fand eine Reaktion, das reine Bienenwachs wasserlöslich zu machen, ein Verfahren, welches wahrscheinlich die alten Ägypter längst gekannt haben. Sofort leuchtete mir die enorme Verwendbarkeit dieser schön weißgelben Masse zum Malen und zur Hautpflege ein, und in beiden Disziplinen spielt sie nun heute eine nicht unerhebliche Rolle. Ihre Beziehung zur Medizin will ich hier nicht näher erörtern; allgemein ist sie bekannt geworden als Zutat zu einem Dutzend meiner hygienischen Mittel zur Körperpflege, die[273] nun alle in einem Institut gefertigt werden, nebst einer großen Zahl anderer medizinischer Neuerungen, Wundpulvern, Pasten, Narkosemitteln usw., von deren Entstehung ich hier noch berichten werde, obwohl sie beinahe allzu tief in medizinisches Fach- und Flachland führen, aber bei meinem Eingehen auf meine Erfindertätigkeit kann ich sie unmöglich ignorieren. Für die Wachspaste möchte ich nur hier erwähnen, daß die mir damals schon aufleuchtende Idee von der enormen Wichtigkeit des Wachses für den parasitären und Krebsschutz des Körpers heute volle Gestalt angenommen hat. Ich bin der Meinung, daß das dem menschlichen Körper wie jedem tierischen und pflanzlichen Organismus beigegebene Wachs eine kolossale Rolle spielt zur Bakterienabwehr, weil nur ein Wachs innerlich und äußerlich verarbeitender (durch Wachsantigenbildung) Verdauungsmechanismus die wachshaltigen Ballonhüllen der Bakterienleiber aufzulösen vermag. Ferner. daß die Kultur durch Seifung eine Wachsverarmung der menschlichen Organismen herbeigeführt hat, welche eine große Rolle bei der Tuberkulose und der Krebsbildung spielt. Ein wachsverarmter Leib verlernt es, die Tuberkelbazillen-Wachshüllen zu sprengen, und wird dadurch tuberkulosedisponiert, die wachsarmen Kittleisten zwischen dem Schilderhäuschenbesatz der Schleimhäute (Epithelien) werden durch Entwachsung der Gesamthaut durch den Mißbrauch der Seife also brüchig; die zeugungsfähigen Chromosomkerne, Nukleine der Epithelzellen gelangen in das Zellinnere der Nachbarzellen. Der Zellinzest, die anarchische Inzucht, wird möglich. Die Bildung des pathologischen Embryos (Krebs) gerade an den Umschlagfalten der Schleimhäute wird vorbereitet. Ich halte diese kurze Deduktion für die Lösung der Krebsursachenfrage und für den Weg, zu einer Vorbeugung gegen Krebserkrankungen durch Überwachsung des Leibes zu kommen; ist doch anscheinend während der Seifenarmut des Krieges die Zahl der Krebskrankheiten erheblich abgesunken. Aus diesem gewiß interessanten Gesichtspunkte[274] heraus wollte ich die medizinische Seite der Wachspasta wenigstens kurz streifen.

Nicht vergessen darf ich hier die Erwähnung meiner zahlreichen anderen Erfindungen und Entdeckungen, die an neuen, zum Teil die medizinische Welt arg verblüffenden Gesichtspunkten reich genug sind, deren schneller Anerkennung aber lange Zeit jener unverdiente Mißerfolg auf dem Chirurgenkongreß im Wege stand. So ersann ich, um auch die Narkose zu verbessern, eine ganz neue Form der sog. Siedegemisch-Narkose, bei der die ätherischen Flüssigkeiten derart gemischt sind, daß das verdampfende Narkotikum bei der Temperatur des zu Narkotisierenden, also bei 38 Grad, siedet, also Dampfdichte und innere Lungenwärme übereinstimmen, wodurch alle Gefahren der Narkose (Schädigungen der Lungen durch Gasüberdruck beim Äther, der bei 34 Grad siedet oder der inneren Organe beim Chloroform, das bei 65 Grad siedet) durch ein physikalisches Dampfmaximum mit Sicherheit vermieden werden können und der Chloroformtod zur Unmöglichkeit gemacht wird. An diesem Narkotikum kann niemand sterben, weil jede Ausatmung von dem Narkotikum wieder so viel entfernt, als die Einatmung dem Blute zugeführt hat. William Meyer, der berühmte New-Yorker Chirurg, hat diese Theorie und ihre durch mich erfolgte Verwirklichung die Lösung der ganzen Narkosenfrage genannt und sich ein Patent auf dieses Verfahren für Amerika geben lassen. Unser genialer Leipziger Chirurg Payr, mit dem mich meinerseits eine hohe Bewunderung seiner Schöpferkraft neuer Methoden, seinerseits eine wohltuende warme Anerkennung meines unermüdlichen Strebens und meines freien und unabhängigen Selfmadetums verbindet, hat diese Methode eine entzückende Idee genannt und mir ein wenig vorgeworfen, daß ich mir mit ihrer größeren, nachdrücklicheren Propagierung hätte die Welt erobern können. Das hat mich sehr erfreut, der ausgezeichnete Forscher, entschieden der Führer der technischen Chirurgie, vergißt aber, daß ich die Methode voll publiziert,[275] auf dem Chirurgenkongreß vorgetragen und in einer besonderen Schrift sie sogar als Selbstnarkose allen Soldaten im Felde für den Fall der Verwundung mitzugeben empfohlen hatte. Diese wenigstens durch Verteilung solcher unschädlicher Narkosensiedegemische durch die Ambulanzen auf den Schlachtfeldern, in Eis und Schnee, bei Unglücksfällen, für Transporte – diese höchst humane, selbstverständlich realisierbare Idee, wurde aber abgelehnt (»die Soldaten könnten die Gemische austrinken«! Dann eben sollten sie während der Schlacht verteilt werden und das Morphium ersetzen, das das Herz schädigt und Blutungen begünstigt), was konnte vom »Schleich« Gutes kommen! Der berühmte Chirurg Hamburgs, Kümmel, hat mir einst gesagt, es sei erstaunlich, wie ich die ganze Narkosenfrage reformiert habe. In der Tat, erst seit meinem Eingreifen ist der Narkosetod so gut wie verschwunden, und wenn man auch nicht überall meine Methoden verwendet, so hat man doch endlich den Schematismus bei der Narkotisierung ersetzt, und zahlreiche Intelligenzen sind in meinem Sinne der Narkose in ihrem rudimentären Mißbrauch zu Leibe gegangen just seit 1892, seit welcher Zeit (!) es auch erst eine Narkosenkommission gibt. Bedenkt man ferner, daß dieser Krieg mit seiner ausgedehnten lokalen Anästhesierung erwiesen hat, woraufhin man mich so arg verketzerte, daß 70 Prozent der Narkose bei allen Operationen überflüssig sind, so darf ich wohl mit Stolz sagen, daß diese ganze Reform nebst ihrer Erwürgung des schrecklichen Chloroformtodes, des katastrophalsten Unglückes und der schwersten Schuld eines helfenwollenden Arztes, direkt und indirekt mein Werk ist. Wenn ich dafür nie belohnt bin, außer durch die Verleihung der Rieneckermedaille seitens der Würzburger Universität, so liegt das an dem zähen Widerstand, den das alte, nun gestürzte Ministerium allen Anträgen auf eine Ehrung für mich entgegengesetzt hat. Mir und meinem nach dieser Richtung minimal entwickelten Ehrgeize genügt für meine bescheidenen Bedürfnisse das stolze Bewußtsein, eine Mission erfüllt zu haben.[276]

Eine andere Neuerung war die Einführung von Wundmedien in die Chirurgie, deren Grundbestandteile möglichst den natürlichen Verhältnissen des Körpers angenähert (homogen) waren. So entstand die Pasta aus Blutserum, Pepton, Gelatine und ein aus Formalingelatine gefertigtes Selbstdesinfektionsmittel des Körpers, bei welchem Blutsaft, Gewebsflüssigkeiten, weiße Blutkörperchen die durch Gasentwicklung entstehenden Desinfektionsdämpfe sich selbsttätig, gleichsam von Natur entwickeln: das Glutol. Alle diese Präparate haben ihre zahlreichen begeisterten Anhänger gefunden. Die Universitätskliniken haben sie, außer meiner Marmorseife zu Säuberungs- und Desinfektionszwecken statt der eklen Bürsten, abgelehnt. Diese, die Marmorseife, ist außerdem ein Mittel zur Behandlung der Herzkrankheiten und zur rationellen Hygiene des Gesamtkörpers ein Tausenden unentbehrliches Mittel (zur Erzeugung elektrisch-molekularer Ströme auf der Haut durch Friktion der Haut mit dem Reibungselektrizität erregenden, in ihr enthaltenen Wachs durch die Millionen Marmorkörnchen) geworden. Sie ist ein vasomotorisches Betriebsmittel ersten Ranges, ein Mittel zu systematischen sog. mikroskopischen Turnübungen der Blutgefäßelastizität, das einzige reelle Mittel, die Arterienverkalkung zu verhüten. Man reibt die Sohlen meist erst, wenn es zu spät ist, bei fast Ertrunkenen, bei Ohnmächtigen, Kollabierten, man muß sie täglich mit Marmorseife frottieren, um alle die elektrischen Strömungen zu ersetzen, die die Natur vor Erfindung der Stiefel uns zugedacht hat. Wir Toren haben uns alle gegen die Strahlungen, welche die Erde und der Boden aus ihrem Innern auf uns segnend senden, durch die Einführung der Ledersohlen künstlich isoliert und in der Stadt die Wunder des Bodens, der Scholle durch Asphalt und Makkadam abgeblendet, nur im Sommer am Strande besinnt man sich des Segens der Bodengeheimnisse auf die gerade in der Fußfläche so zahlreich gruppierten Sympathikusgeflechte durch Barfußlaufen, man kann das sehr gut durch tägliches Sohlenreiben mit meiner Marmorseife[277] und eine Friktion des ganzen Körpers mit nachfolgender Dusche ersetzen. Das Ganze wirkt in allen Phasen genau wie ein tägliches Seebad, herzstärkend, Arterien elastisch erhaltend. – Statt der Asepsis kenne ich nur noch die Atoxis, das heißt die Entfernung aller den Bakterien die Wundrasen urbar machenden prädisponierenden Gifte: Fermente, Alkaloide, zersetzte Fette, Fäulnisgifte usw. Das erreiche ich durch eine ständige Wundflächenbetupfung mit Chloroformalkohol. Chloroform löst außer Goldtrichlorid einzig alle die Infektionen ermöglichenden prädisponierenden Gifte. Mein Kampf geht nicht gegen die Bakterien, sondern gegen die Gifte, die ihnen Quartier machen, daher der Name »atoxische«, d.h. entgiftende Wundbehandlung mit 25 Prozent Chloroform und 75 Prozent Alkohol. Alle mit Chloroform geschüttelten Eiweißflüssigkeiten werden für Bakterien unangreifbar, antibakteriell ionisiert. Das chloroformalliierte Eiweißmolekül gestattet den Bakterien keine Ansiedlung, es ist unzersetzlich für Fäulnis. So nimmt z.B. Pepton bis zu 30 Prozent Chloroform, es fest bindend, an und kann nie faulen (mein »Desalgin«). Diese Atoxis der Wunden hat sich während meiner Leitung der chirurgischen Station im Lichterfelder Krankenhaus, in meiner Klinik und während des Krieges im Lazarett ganz unzweifelhaft als richtig erreichbar erwiesen. Damit ist der Möglichkeit einer Infektion der Boden entzogen.

Das ist eine kurze Revue meiner vielseitigen chirurgischen Reformen, von denen ein Kritiker meiner Neuerungen à tout prix, Herr Bockenheimer, gesagt hat: »Wenn alle diese Erfindungen richtig (!) wären, so müßte man Schleich ja schon bei Lebzeiten ein Denkmal setzen.« Ist das der einzige furchtbare Gegengrund? Sonderbarerweise sind sie aber alle so richtig und ebenso wissenschaftlich fundamentiert wie meine Lokalanästhesie. Der Autor soll erst noch geboren werden, der mich eines kardinalen wissenschaftlichen Irrtums überführen könnte. Die ganze moderne Neigung, Medikamente an Eiweißkörper zu binden, vom Tannalbin über das Silberkolloid bis zum Argentan[278] usw. usw., vielleicht auch dem herrlichen Chlorosan, fußt unbedingt auf meinem Bestreben der Bindung von Eiweißen (Serum, Pepton, Gelatine, Lipoide) an Metalle und ihre Salze. Ihr Paradigma und historisch erstes Präparat dieser Art ist meine Quecksilber-Peptonpasta, mein Glutol und meine Chromgelatine. Das muß einmal gesagt werden, denn keiner der zahllosen Nachentdecker von den Vorzügen der Verbindung chemischer Körper mit Eiweißen hat es je der Mühe für wert gehalten, meine Erstlingsideen dieser Art auch nur zu erwähnen. Ich glaube, nur Sahli hat einmal bei der Empfehlung von seinen Glutoid-Kapseln auf mich hingewiesen. Die Unnaschen Leimverbände, das Protargol, das Collargol sind alle nach meinem von mir zuerst propagierten Prinzip der homogenen Wundbehandlung historisch erweisbar erfunden worden. Das einmal energisch betont zu haben, war ich zur Steuer der Wahrheit mir und meinem Werk schuldig, für so überflüssig ich sonst Prioritätsstreite halte. Für mich ist die Hauptsache der Nutzen für eine möglichst große Zahl von Leidenden, woher er kommt, ist schließlich gleichgültig. Ich freue mich, daß meine Ideen siegreich waren, wenn man auch verschweigt, daß ich es war, der sie selbst von der Gunst der Bestimmungen anvertraut erhalten und nur weitergegeben hat wie einen Auftrag.

Sehr wertvoll ist mir die Wachspaste geworden für die Erfindung eines neuen Farbmediums, welches das Öl der Maler, das unter allen Umständen, trotz der leichten technischen und darum dominierenden Verwendung, große Nachteile hat, ersetzt. Es platzt leicht, es dunkelt nach, es gestattet den Farbkörpern nicht den vollen intensiven Glanz der Farbengebung. Wohl über 20 Jahre habe ich unablässig studiert an der Auffindung eines, alle diese Übelstände vermeidenden Farbmittelersatzes. Ich bin jetzt endlich fertig, nur der leidige Krieg hat diese Publikation bisher verhindert. Die Fabrik »Schleich« ist aber bereit, jederzeit mit der Fabrikation der Kunstfarben im großen Stile zu beginnen. Es wird eine Art Öl-Tempera, aber ohne Öl[279] sein. Zahlreiche Bilder habe ich mit diesen neuen Farben gemalt, meine Verwandten haben solche leicht gefertigten Festgaben in ihrem Besitz. Die Reproduktionen einiger solcher Gemälde von meiner Hand, natürlich im Original farbig, sind diesem Erinnerungswerke eingefügt. Dazwischen natürlich mußte eifrig operiert werden, denn eine große Anzahl von Patienten war mir trotz allem treu geblieben, aber der Anprall von Klienten hatte doch erheblich abgenommen unter dem Druck der allgemeinen absprechenden Abkehr der praktischen Ärzte von meiner chirurgischen Spezialität. Wahrlich, die Schwierigkeiten, unter denen ich mich langsam wieder erhoben habe, waren nicht gering.

Da blieb denn noch genug Zeit, auch der Muse meiner Kindheit, der Dichtung, meine Werkstätten zu eröffnen. Ich schrieb ein paar Dramen »Um Dorf und Gehöft«, welches einst Strindberg für so ausgezeichnet erklärte, daß er es Blumenthal dringend zur Aufführung empfahl, der es zu seinem großen Bedauern ablehnen mußte, da er unter keinen Umständen acht perfekt plattdeutsch sprechende Darsteller, wie sie das Drama benötigte, austreiben könne. Seine Beurteilung des Dramas an sich war durchaus ermutigend, ja, sogar höchst schmeichelhaft. »Wandlung«, »Judas und Jesus«, »Der Löwe im Schnee« und andere Einakter entstanden damals. Zwei größere dramatische Dichtungen wurden angelegt und teilweise ausgeführt, werden auch, falls mir noch das nächste Jahr dazu vergönnt wird, geschrieben werden und im Jahre 1921 zur Publikation gelangen: »Im Vorzimmer Leporellos« und »Don Juans Tod«. Meine zahlreichen kleinen humoristischen Einakter, die in Familienkreisen aufgeführt wurden, ordnete ich, ebenso alles bisher von mir poetisch Verfaßte, in großen Faszikeln. Ich habe eigentlich in keiner Periode meines Lebens der Schwanenfeder Ruhe gelassen. Das ganze Leben hindurch, von Kindheit an, rannen mir die Ereignisse zu poetischen Bildern zusammen. Im Spiel der Wolken formten sich namentlich in meiner Jugend mir Balladen, im Rauschen der Wellen und Wälder[280] klangen Begebnisse, und alle meine wissenschaftlichen Erkenntnisse setzten sich zu geformten Gedankenkristallen in dem Grund der Seele ab oder bildeten sich um zu Ereignissen mit einem Kerngehalt von neuem Schauen. Immer vermied ich, in meinen Versen durchschauen zu lassen, daß ich naturgeheime Zusammenhänge erkenntnisgemäß weiß. Ich stellte mich als Dichter absichtlich intuitiv, nie lehrhaft ein. Was Strindberg mir einmal sagte: »Ein Dichter muß vieles, vielleicht alles wissen. Wehe, wenn man merkt, was alles er weiß!« – da nach habe auch ich stets poetisch gearbeitet bei den reinen Dichtungen. Es wird schwer sein, in meinen Dichtungen etwas von Anatomie, Physiologie, Psychologie zu entdecken (außer in dem bewußten Lehrgedicht Aldebarans), und doch werden meine Poesien meine ganze Weltanschauung und mein Weltwissen im Kern enthalten, aber umgebildet zu fliehenden Wolken, zum fließenden Strom. Es gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen, alte Manuskripte durchzukramen, immer wieder an Liedern und Balladen zu feilen, zu streichen, zu verwerfen und zu pointieren, gleichsam wie an noch bildsamem Ton daran herumzukneten. Das ist wie Zeichnerei, Sticken, Instrumentieren. Auch der Dichter hat seine Werkstatt, es springt selten ein Lied wie eine Gottestochter aus dem Haupte des Zeus, es wird alles erst als ein Keim geboren, und nur ernste Arbeit macht es lebensfähig. Der Leser ahnt oft gar nicht, daß ein guter Vers, der so einfach, natürlich und schlicht klingt – das sind immer die besten – oft Dutzende von Malen umgegossen, beschabt und verhämmert wurde, bis er dem gewissenhaften Former gußfertig erscheint. Und welch eine Fülle von Material hatte ich liegen: in Mappen, Bündeln und ungeordneten Stößen von Einzelblättern. Nur meine arme »Jephtas Tochter«, schon in Stralsund auf dem Gymnasium in Sekunda gedichtet, konnte ich nicht wiederfinden. Vieles einst Besessene ist verlorengegangen, so die »Braune Venus« aus Kalkofen, die ich so wie in der Jugendzeit nie wieder schreiben kann. Da waren aber noch die Stralsunder Liebesliedchen,[281] Novellen, Meereselegien, das ganze Bündel galanter Gedichte aus der Greifswalder Zeit, vom »Nest der Schwalben« und »Brautlieder«, die meine Frau als ihren unentreißbaren Eigenbesitz hütet, der Züricher Liederkreis »Ufenau«, dann Wolliner »Meereslieder« usw., von denen ich relativ nur wenige für würdig gefunden habe zur Publikation. Ich hatte eine Auswahl unter Tausenden von Gedichten. Die zunächst bearbeiteten stehen im »Echo meiner Tage« und andere werden in meinem gleichzeitig mit dieser Biographie erscheinenden Gedichtbande »Aus der Heimat meiner Träume« der Öffentlichkeit übergeben werden. Andere Bände werden folgen.

Drei Bände zugleich herauszugeben, konnte sich mein junger Freund, der Verleger Hans Greve, Schubert-Verlag, in diesen papierarmen Zeiten denn doch nicht entschließen, er gibt mir aber, auf meinen Vorschlag, Gelegenheit, in einer bei ihm erscheinenden Monatsschrift »Antenne« nach und nach an Poesien und Betrachtungen, Aphorismen und ästhetischen Dingen zu publizieren, was ich für wert halte.

Hier im Schubertsaal, bei der Besitzerin desselben, Frau Hekking-Hasse, fand ich auch endlich eine Stätte neben der Lessing-Hochschule, wo ich in öffentlichen Vorträgen meine Ideen zu propagieren die mir angenehmste Gelegenheit fand. Ich darf wohl sagen, daß ich stets vor vollen Sälen spreche und daß unter den Zuhörern Studenten und Studentinnen aller Fakultäten zahlreich vertreten sind, so daß ich mir gleichsam selbst in Berlin den freien Lehrstuhl geschaffen habe, den das Schicksal und das Ministerium mir vorenthalten hat. Denn Althofs frühe Anerbietungen kleiner Universitätskliniken mußte ich ausschlagen, ich war zu fest mit Berlin verankert und konnte so viele fest gesponnene Fäden nicht zerreißen.

Meine neue Art dichterischer Publikation, in der »Antenne« gleichsam schubweise meine gesammelten Werke an das Publikum zu bringen, ist ein[282] kühner Versuch, durchzudringen, den ich wage angesichts des schönen Erfolges, den alle meine bisherigen literarischen Arbeiten gehabt haben. Ich habe lange gewartet, als Dichter gelten zu wollen. Diese Zurückhaltung hatte ihr Gutes; an dem hysterischen Wettringen, an neue Formen alte Ideen anzupassen, habe ich mich, ähnlich wie mein lieber Freund, der echte Dichter Franz Evers, nicht beteiligt, auch er zögert lange, um Meisterhaftes zu gestalten, ich habe lieber die alten Formen beibehalten, um ihnen nach Kräften neue Ideen einzuhauchen. Darum faßte ich bewußt meine neuen Erkenntnisse in alte Stilarten, weil ich sicher glaube, daß das Gute auch in schlichtestem Gewande einhergehen kann. Mein poetisches Lieblingsbuch ist und bleibt aber vorläufig der Phantasieroman »Es läuten die Glocken«, den ich einst beim Förster in Jordansee, Hegemeister Knuth, zu Gaste, konzipiert habe (1912) und den ich dann bei meinem teuren Freunde Edwin Bechstein auf dessen herrlichem Gute Stuthof (Herbst 1913) einmal in sechs Wochen niedergeschrieben habe. Wie war es schön! Des Morgens früh um 5 Uhr erhob ich mich und schrieb eigentlich den ganzen Tag, um abends der liebenswürdigen Gattin Edwins das Tageswerk am lodernden Kamin vorzulesen.

Gerne würde ich für viele meiner größeren Dichtungen Kommentare, Entstehungsandeutungen, zeitliche Beziehungen geben, aber ich fürchte, ich besitze als Dichter noch nicht Kredit genug, um mit Sicherheit dafür Interesse zu erwecken. Ob überhaupt jemand einst danach fragen wird, wo, wie und warum dieses und jenes entstanden ist? Hinsichtlich meiner Balladen und Legenden nur will ich bemerken, daß mir die Stoffe stets ohne mein Zutun plötzlich auftauchten, beim Einschlafen, beim Erwachen, beim Meeresbranden, beim Wolkenstarren. Ost war es nur ein Bild, eine fatamorganaartig auftauchende Situation, durch die dann das dichterische Besinnen motivische Fäden spann. Für das nächste Jahr plane ich ausschließlich die Ordnung und Herausgabe meiner dramatischen Entwürfe,[283] und so Gott will, erobere ich mir doch noch von irgendeiner bescheidenen Bühne her die Bretter, die die Welt bedeuten.

Dazu muß ich aber erst die große Fülle meiner philosophischen und psychologischen Arbeiten erledigt haben, die so viele Jahre mein ganzes Interesse und mein Schaffen beherrscht haben. Ich kam zu meiner eigenartigen Psychologie, die eigentlich eine Art ingenieurhafter Reise durch die Gehirnprovinzen ist, von der Narkose her. Sonderbar, daß so viele Tausende von Ärzten narkotisiert haben, ohne daran zu denken, daß sie eigentlich jedesmal ein psychologisches Experiment in allergrößtem Stile vornehmen. Selbstnarkosen haben meine Studien unterstützt, die Hirnverletzungen des Krieges boten ein ungeheures Material, und so geriet ich immer tiefer in die Funktionen der Nerven und Ganglien, für deren formale Gestalt und Anordnung ich ja durch Jürgens' enorm ausgedehnte Sammlung von Gehirnschnitten in Virchows Institut ein selten tiefgreifendes Fundament mir wie in den Schoß geworfen, nun doppelt dankbar empfangen hatte. Der auslösende Funke war jenes Kollegienheft Stanislaus Pczybischewskis aus der Meisterschule v. Waldeyers. Die neueren Anschauungen führten mich natürlich unversehens in die erkenntnistheoretischen Fragen hinein, und ich habe hier erst gründlichst meine Lücken ausfüllen müssen, ehe ich es wagen konnte, den schwierigen Problemen nahezutreten. Nun nennt man mich oft den Dichter-Philosophen – ach, nein – den hohen Titel eines wahren Philosophen beanspruche ich nicht, dazu ist mein Respekt vor Spinoza, Kant, Hegel denn doch zu groß, aber wenn ich nun schon des öfteren als ein »Gehirningenieur« öffentlich bezeichnet worden bin, so nehme ich diesen Titel allenfalls hin, denn in der Tat war es mein Bestreben, die Geistgeschehnisse kühn mit elektrischen Apparatvorrichtungen von wundervoller Präzision zu vergleichen. Nie aber habe ich geleugnet, daß das nur eine, vielleicht äußerst interessante Betrachtungsweise der heiligsten Wunder der Seele, nicht[284] aber eine erkenntnistheoretische Entschleierung ihrer metaphysischen Heimat und ihres gottgegebenen Waltens ist. Allerdings wäre es eine dankbare Aufgabe, Kant einmal in diese meine neue Sprache versuchsweise zu übersetzen, wozu ich glaube, weit genug in die Technik des Hirnorgelspiels eingedrungen zu sein. Mein ganzes leidenschaftliches Streben geht aber dahin, an der Hand der »Wunder in uns« die Menschen abzukehren von dem öden Materialismus und sie zu zwingen, das Walten noch ganz anderer Mächte als Kapital, Politik, Daseinskampf und Erbgesetze anzuerkennen. Ich bin auf meine Art gläubig geworden durch das Mikroskop und das Naturbetrachten und will, was ich kann, dazu beitragen, Wissen und Religion ganz zu vereinen. Wer von der Natur vieles und gründlich weiß, der muß unbedingt gläubig an ein metaphysisches Walten werden. Der Wunder sind zu viele, und es ist eine der vornehmsten Aufgaben der Wissenschaft zu erweisen, daß unsere gewohntesten Dinge, die scheinbar vertrautesten und simpelsten Vorgänge schon eine Kette von staunenswerten Offenbarungen und Geheimnissen enthalten.

Ein Kritiker hat mich einmal einen Feind der Wissenschaft genannt; ja, das bin ich auch geworden, nämlich jener Wissenschaft, die mit dogmatischer Engherzigkeit einfach alles befehdet, was außerhalb des Geheges ihres selbst umzäunten, methodischen Gartens liegt, der nur jene Gemüse trägt, die ihren Mann ernähren, vom schönen freien Urwald aller Möglichkeiten aber nichts wissen will, worinnen man sich zwar verirren und sogar verhungern kann, wo man aber dauernd der freien Natur gegenübersteht, »ein Mann allein!«[285]

Quelle:
Schleich, Carl Ludwig: Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen (1859–1919), Berlin 1921, S. 271-287.
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