Herkommen. Erste Jugend. Düsseldorf

1785–1790

[7] Daß die Stellung der Himmelskörper im bestimmten Augenblicke der Geburt eines Menschen auf dessen ganzes Geschick einen entscheidenden Einfluß übe, kann man schon gelten lassen; wenigstens liegt in dieser Annahme der Sinn eines großen Verhältnisses, in welchem der Mikrokosmus zu dem Makrokosmus unmittelbar zu stehen sich wohl berühmen darf. Näher indes als die Berechnung und Deutung jenes Einflusses der Gestirne drängt sich uns heutigestages als bedingend für das anhebende Einzelleben die Stellung der Geschichtsbahnen auf, in welche die neue Geburt eintritt; und von Goethen hierzu angeleitet, müssen wir diesen einige Betrachtung widmen, um den nachherigen Verlauf klarer einzusehen.

Das Jahr 1785 bezeichnet, wie jeder Zeitpunkt der Geschichte, eine ganz bestimmte Stufe von Gewordenem und Werdendem und darin für jeden, der diesem Moment angehört, ein unwiderruflich gegebnes Schicksal. Was auch die Umstände sonst, günstig oder ungünstig, darbieten, wie auch Gesinnung und Kräfte innerhalb des freigelassenen Raumes auf die Schranken selbst zurückwirken, immer bleibt die allgemeine Notwendigkeit jenes besondern Moments das Umfassende und Bedingende, dem nicht zu entfliehen ist. Auch in meinen Lebensereignissen kann ich das Entscheidende jenes Anfangspunktes überall deutlich genug verfolgen, und daß ich damals, dort und unter solchen Umständen geboren wurde, erkenne ich, wenn auch nicht als meine[7] erste Tat, wie ein Freund es einst allzu stark ausdrücken wollte, doch als meine erste Habe und unverlierbare Mitgift, deren Signatur in allen meinen Begegnissen sich wiederfindet.

Das achtzehnte Jahrhundert hatte seine weitaussehenden, mit allgemeiner Anstrengung verfolgten Aufgaben bereits tüchtig gefördert, das Mühsamste und Undankbarste seiner Arbeiten war getan, das Wünschenswerteste glaubte man nah, die bewegteste Entwickelung war im Gange, die gewaltsamsten Erfolge aber standen noch bevor. Die eigentliche Mitte, von woher eine gänzliche Umwandlung aller europäischen Lebenszustände betrieben wurde, war Frankreich; religiöse Denkart, Staatsverfassung, Erziehung, Geselligkeit, alles wollte sich auf neuen Grundlagen völlig verändert erheben, die alten Verhältnisse wichen, der Staat selbst erwies sich alsbald fügsam, und die lebhafte, geistreiche, für Umgang und Mitteilung höchst ausgebildete Nation wirkte durch ihre Gaben und Tätigkeit unwiderstehlich auf die andern Länder ein, selbst Polen und Rußland nicht ausgenommen, wel che weder entlegen genug noch so weit zurück waren, um sich dem anmutigen und verheißenden Einfluß entziehen zu können. Die neue Richtung gewann die Häupter der Nationen, die Kaiser, Könige, Fürsten, und hatte sich der höheren Stände längst vollkommen bemächtigt, ehe sie zu den mittlern und untern gelangen konnte. In Nordamerika hatte dieser Einfluß zu einer neuen Freiheitsgestalt mitgewirkt, gegen welche die in England und Holland, in der Schweiz und zum Teil auch in Deutschland bestehenden Formen der Freiheit nur noch als ein Schein galten.

Man würde jedoch sehr irren, wenn man den Anteil der Deutschen an der umfassenden Arbeit dieses Jahrhunderts für geringer halten wollte als den der Franzosen, obgleich der Glanz des voranschreitenden Tuns meist bei diesen war; jene hatten nicht minder einen völlig neuen Lebensinhalt hervorgearbeitet, der seiner neuen Formen harrte[8] und inzwischen nachhaltig überall einwirkte, wo diese daheim und in der Fremde sich öffneten. Der preußischen Monarchie leuchtete noch das letzte Jahr Friedrichs des Großen, für die österreichischen Erblande und das deutsche Reich wirkten schon die lichten Bestrebungen Kaiser Josephs des Zweiten. Auf größeren und kleineren Thronen sah man die Zöglinge der Menschenfreundlichkeit, der Aufklärung, der Duldungs- und Gleichstellungslehren; in vieljährigem Frieden war Wohl stand, Verkehr, Untersuchung und Einsicht aller Art gewachsen; alle Stände befleißigten sich der Bildung, der Ablegung von Vorurteilen, und die Nation hatte für ihren allgemeinen Aufschwung, für ihre Gesinnung, für ihre Gemüts- und Gedankenkraft eben jetzt in Literatur, Sprachausbildung und Kunstbestreben so glückliche als harmlose Organe errungen. Indes hielten die alten Einrichtungen noch vor, und das Leben wogte frisch und kräftig, aber zugleich bescheiden und erfreulich zwischen seinen oft seltsam verbauten oder ganz vernachlässigten Ufern hin.

Am Niederrhein schlugen die Wellen dieser deutschen Fluten besonders lebhaft und vielartig. Dem Handelsverkehr mit Holland und England offen, nach Frankreich in beständiger Teilnahme an dortiger Bildung und Mode hingewandt, von Österreich in Belgien, noch näher von preußischer Macht berührt, aus fürstlichen Gebieten, freien Reichsstädten, erzbischöflich-kurfürstlichen und andern geistlichen Herrschaften zusammengesetzt, ritterschaftliche, mönchische, bürgerfreie Elemente vereinend, boten diese Gegenden das wunderbarste Gemisch von lebendiger Wechselwirkung.

Düsseldorf ragte in mannigfacher Beziehung günstig hervor. Früher eine fürstliche Residenz und noch stets, wiewohl die kurpfälzische Hofhaltung immer in Mannheim blieb, als solche angesehen und gehalten, als Hauptstadt der Herzogtümer Jülich und Berg der Sitz einer eigenen Landesregierung, nach bequemer Lage am Rheinhandel teilnehmend, heiter gebaut und fortwährend erweitert und[9] verschönert, durch gebildete Einwohner von freiem und munterm Sinn, durch zahlreiche Beamte, Militär, benachbarten reichen Adel und viele Fremde belebt, welche zum Teil wegen der berühmten Bildergalerie verweilten, im Winter auch wohl um des zuzeiten wohlbesetzten Schauspiels willen kamen, durfte diese Stadt unter die vorzüglichsten und angenehmsten am Rhein gezählt werden. Als namhafte Repräsentanten dieses Lebenskreises kann ich zuvörderst den Kanzler Grafen von Nesselrode nennen, der mir als ein edles Bild hoher Amtswürde und milder Vornehmheit noch vor Augen steht, dann seinen Sohn, der innig befreundet mit Jacobi und in brieflichem Verkehr mit dem Grafen von Mirabeau war, den Freiherrn von Hompesch, den Hofkammerrat Beuth, der eine schöne Kunst- und Naturaliensammlung besaß, den Medizinalrat Brinkmann, den Regimentsarzt Nägele, ferner manche Offiziere, Kaufleute, Künstler und Schauspieler, die durch Talent und feines Betragen zu der besten Gesellschaft Eingang hatten; als Frauen von höchster Auszeichnung sind zwei Gräfinnen von Hatzfeld, die beiden Schwestern Jacobis und die jüngere Gräfin von Nesselrode schon aus anderweitigen Erwähnungen bekannt; unter den gebildeten Damen der vornehmen Klasse fehlten aber auch solche nicht, deren glänzende Vorzüge nicht immer günstig zu beurteilen waren.

Durch Jacobis Nennung ist schon ein Mittelpunkt bezeichnet, mit dem die ersten Geister des Vaterlandes in Verbindung standen und dessen Strahlen sogar über Deutschland hinaus sich verbreiteten. Zunächst aber gehörte er durchaus dem Niederrhein und dessen Nachbarschaft an, indem mit Köln, Aachen, Koblenz und auf andrer Seite mit Elberfeld, Duisburg, Xanten, Münster der lebhafteste Verkehr unterhalten wurde. In Pempelfort, neben einer bedeutenden Fabrikanstalt, gab ein schönes großes Wohnhaus und angenehmer Garten die reichste Gelegenheit zur edelsten Gastfreundschaft, die selten in solcher Ausdehnung mit glücklichem Maß und ohne allen Prunk so reichlich ausgeübt[10] worden. Dies Verhältnis war für Düsseldorf, wo Jacobi seines Amtes wegen ebensooft wie in Pempelfort war, überaus belebend, und Geselligkeit, Literatur und Kunstbildung hatten ihren festen Anhalt an ihm. Ich habe späterhin oft bedauert, daß von diesem Hause, mit welchem doch mein Großvater schon wohlbekannt gewesen, mein Vater sich aus einer, ich weiß nicht welcher, stolzen Verstimmung zurückgehalten hat. Er pflog niemals Umgang nach jener Seite hin, wiewohl er die Personen nach Gebühr achtete und von ihrem Dasein und Wirken vielfach berührt sein mußte.

Meine frühesten Eindrücke und Erinnerungen sind nicht aus dem städtischen Leben, sondern von Garten und Flusse her. Das kleine Haus, welches wir in einer Seitenstraße bewohnten, ging rückwärts auf den Rhein, dem hier noch grade soviel Boden abgewonnen war, um ein Gärtchen und ein schmales Weidenufer zu bilden, durch einige vorgelagerte Felsenstücke gegen den Andrang des Stromes, selbst bei einigem Schwellen desselben, ziemlich geschützt. Aus einem Fenster des Wohnzimmers führten Treppenstufen in diesen Raum hinab, der in seiner engen Umhegung, nach kleinstem Maßstabe mit Rasen und Beeten, Sträuchern und Bäumchen versehen, bei großem Himmelsblick und reicher Aussicht aufwärts auf die mächtig vorüberströmende Wasserflut und ihre jenseitigen Ufer, bei nährend gesunder Luft, von Sonnenwärme und frischem Hauche zugleich getroffen, in seiner stillen, gedrängten Abgeschlossenheit uns Kindern ein wirkliches Paradies war und als solches mir noch jetzt vor Augen schwebt. Ich erinnere mich deutlich des genossenen reinsten Glücks, der unschuldigsten Freudigkeit des Gemüts, des klarsten Auffassens der Welt und des harmlosesten Verbringens schöner Tage. Meine Schwester, Rosa Maria, doch gewöhnlich Röschen genannt, um anderthalb Jahr älter, gewährte mir das Glück einer lieblichen, in Spiel und Ernst gleich wohltätigen Genossenschaft und dabei eines reiferen Vorbildes, für Rat und Anhalt immer bei der Hand. Wir liebten uns wahrhaft, hatten ein unbeschränktes[11] Kindervertrauen zueinander, und wenn ja kleine Zänke eintraten, dessen ich mich doch kaum erinnere, so gingen sie schnell und spurlos vorüber.

Selten wagten wir die Hecke des Gärtchens gegen das Wasser hin zu überschreiten; die Gefahr stellte sich uns um so erschreckender vor Augen, als eines Morgens sich ergab, daß ein Rabe, der zahm und redend uns so vertraut geworden als wunderbar geblieben war, sein Gitterhaus über Nacht durchbrochen und wahrscheinlich, da er nicht fliegen konnte, seinen Tod im Rhein gefunden hatte. Um so reizender war es, wenn wir denn doch zuweilen, unter Aufsicht des Vaters, über die strenge Grenze vorgingen, das mit Weiden und Gebüsch bewachsene Ufer durchstörten, die daran festgelegten schwimmenden Floßbalken betraten, möglichst nah die großen Schiffe und die ungeheuern Flöße, die, von vielen hundert Armen fortgerudert, nach Holland hinabgingen, stolz vorbeiziehen, Nachen heranrudern, zuweilen Schwimmer sich ergötzen sahen oder auch nachsinnend zu unsern Füßen das lebendige Spiel der Wellen und Wirbel betrachteten und wohl gar in das reine Wasser unsre Stückchen Weißbrot eintauchten, die so benetzt uns das labendste Gericht dünkten.

Von meinem dritten Jahre ungefähr bis über mein fünftes hinaus sind meine Erinnerungen in dieser Gartenlust zusammengedrängt als das Bild eines ununterbrochenen großen Sommers, so wie die dazwischenliegenden Winter gleichfalls zu einem zusammenhängenden Ganzen sich mir ausgeschieden haben. Die Zeitbestimmung meines fünften Jahres wird mir durch den Umstand sicher, daß mir ein anhaltendes allgemeines Glockengeläut, welches aus den kurkölnischen Ortschaften, und besonders von Neuß her, lange Zeit tagtäglich in regelmäßigen Fristen erschallte, durch sein betrübendes Einerlei, das der Rhein als Leiter nur allzu hell heranführte, zur unleidlichsten Qual wurde; dieses Geläute aber geschah wegen des Ablebens Kaiser Josephs, der am 20. Februar 1790 gestorben war.[12]

Mit dieser stillen Gartenlust wetteiferte bald ein buntes Teilnehmen an lebhafterem Verkehr. Der schöne Hofgarten wurde mit beiden Eltern und der Schwester häufig besucht, ich fing an, den Vater auf vielen seiner Ausgänge zu begleiten, zu städtischen Besuchen, auf das Land zur geselligen Einkehr in nahen Gärten und Dörfern oder auch zu entfernteren Ortschaften, nach Grafenberg, Benrath, Neuß, Ratingen, Zons, wohin den Vater zum Teil Amtsberuf, zum Teil das Bedürfnis größern Ausflugs führte. War die Wanderung zu Fuß, so trieb ich gewöhnlich dabei ganz für mich ein Spiel abenteuerlicher Vorstellungen und abgesonderten Hinlaufens, welches ich beim Nachhausegehen dann wohl mit peinlichster Ermüdung büßen mußte, wenn nicht mein Vater, dessen Liebe sich grenzenlos erwies, dadurch zu Hülfe kam, daß er mich weite Strecken zärtlich auf dem Arme trug. Auch in das Theater, welches jeden Herbst in Düsseldorf sich einfand, wurde ich frühzeitig mitgenommen und habe zwischen Mutter und Schwester, obwohl ich sogar letztere manchmal darüber lächeln sah, bei rührenden Vorgängen, die ich doch nur im allgemeinen als solche fassen konnte, heiße Tränen geweint.

Was aber inmitten aller dieser Dinge meinen Sinn und ganzes Dasein außerordentlich erhob und meinem Bewußtsein einen ungewöhnlichen Schwung gab, war die Sonderbarkeit, daß ich, wenigstens zum Ausgehen, als Türke gekleidet war. Das achtzehnte Jahrhundert hatte in seinen Zügen, ehe sie schrecklich wurden, ungemein viel Kindisches, besonders in Deutschland, wo die Vorstellungen und Triebe eines lebhaft angeregten Bessern, zu dem man strebte, für die Ausübung in die engsten Schranken geklemmt waren und da, wo sie sich nun doch Luft machten, oft nur als närrische Spielereien hervorkamen. Sprachbildung und Kinderzucht waren die jedem Tätigen am nächsten offnen Gebiete; wer sonst nichts konnte, machte sich eine eigene Orthographie, worin die Deutschen, zwischen den siebzig und neunziger Jahren, zahllose Versuche angestellt, oder bearbeitete[13] seine Kinder, was niemand wehren konnte. Durch Jean-Jacques Rousseaus dringende Mahnungen war man auf bequeme, der Gesundheit vorteilhafte Bekleidung der Kinder allgemein bedacht, er selbst trug sich armenisch, die orientalische Tracht überhaupt hatte unleugbare Vorzüge, und mit ihr stimmten die neuaufgebrachten Kleidungsstücke wenigstens in Weite und Fülle überein. Es war nur ein Schritt auf diesem Wege weiter, machte aber dennoch allgemeines Aufsehn, als mein Vater, mit eigengesinnter Kühnheit, seinen Knaben völlig türkisch gekleidet einhergehen ließ. Ich war lange Zeit für Erwachsene und Kinder ein Gegenstand des Staunens, des Bewunderns, wohl auch des Neides, denn mein Kaftan und meine Schärpe leuchteten in buntem Glanz, und mein Bund war mit Perlen und Steinen reich besetzt. Das Ärgernis einiger pfäffischgesinnten Leute, welche von solcher, den Ungläubigen nachgeahmten Kleidung auch auf die unchristlichen Grundsätze schließen wollten, die sich darin argwöhnen ließen, konnte nur den Trotz verstärken und die Befriedigung erhöhen, welche mein Vater dabei empfand, daß dieser Augenscherz auch ein erfreuliches Bild sein wolle, das auf die allgepriesene Toleranz so glücklich hindeutete.

Mit dem Aberglauben und Pfaffenwesen stand mein Vater längst in offnem Kriege. Schon seine Heirat mit einer Protestantin hatte sehr mißfallen, noch mehr aber wurde ihm übelgenommen, daß, während man diese sich fleißig zu ihrer Kirche halten und selten am Sonntage die Predigt versäumen sah, er selber die katholischen Gebräuche gänzlich vernachlässigte und auch sein Söhnchen ohne deren sichtbare Übung aufwachsen ließ. Wer mit ihm in näheres Gespräch kam, blieb auch nicht lange zweifelhaft über seine Denkungsart, die er freimütig und heiter vortrug und mit Gründen und Beispielen geschickt zu belegen wußte. Die Mehrzahl seiner Mitbürger, die Vornehmen durchaus, der Mittelstand aber größtenteils, stimmten im wesentlichen mit ihm überein; die Aufklärung war von allen Seiten wirksam, nicht nur[14] von der weltlichen, sondern auch von der geistlichen selbst; Bischöfe und Äbte, Pfarrer und Mönche wetteiferten in dem Bestreben, sich selber als Teilnehmer an dem wohltätigen Lichte des Jahrhunderts darzutun und dieses Licht auch im Volke zu verbreiten. Die meisten wollten hierbei doch mit einiger Klugheit verfahren und mußten es auch, insofern sie den eigenen Boden, der sie trug, einstweilen noch zu schonen hatten; andre hingegen trieben ihr Werk mit rücksichtslosem Ungestüm, den eingebornen Fanatismus, der unter andern Umständen die Ketzer verfolgt hätte, jetzt gegen das Dogma selbst wendend. In den obern Ständen waren zwei Richtungen auffallend zu unter scheiden, die eine, verfeinerten und verwegenen Geistes, leugnete und verspottete alles, was dem Verstande und den Sinnen nicht genehm war, wollte aber, weltmännisch klug und herzlos selbstsüchtig, dieses vermeinte Höherstehen für sich allein behalten und das gemeine Volk in Wahn und Dumpfheit halten; die andre Richtung, weniger stark in sich, aber um so verbreiteter, wagte nicht zu leugnen und zu verspotten, was sie im tiefsten stets noch als ein geheimer Schauder durchzuckte, betäubte sich aber gegen alles, was sie im sinnlichen Genusse des Lebens stören wollte, und begnügte sich, kaum einmal im Jahre oder auch wohl erst beim Annähern des Todes, in kirchlichen Äußerlichkeiten eine Art schwächlicher Abfindung mit dem Himmel zu suchen. Keiner dieser beiden Richtungen gehörte mein Vater an; von der letztern trennte ihn sein freier, durch Bildung und Nachdenken selbständiger Geist, von der erstern mußte seine allgemeine Menschenliebe ihn scheiden, sein warmes Herz für das Volk, das er nicht der Bevormundung dünkelhafter Selbstsucht preisgegeben, sondern zur Teilnahme an jeder Bildung und Freiheit emporgehoben sehen wollte. So stand er unter scheinbar Gleichdenkenden mit seiner Gesinnung doch ziemlich allein, stützte sich auf keine Genossenschaft, hielt sich zu keiner Partei. Diese Art wird von gegnerischer Seite immer am ersten und heftigsten angefeindet und fällt ihr am schnellsten zum[15] Opfer. Im allgemeinen achteten und liebten ihn seine Mitbürger, die Armen wußten ihn zu ihrer Hülfe stets bereit, auf seine Redlichkeit, seinen Eifer konnten alle rechnen. Aber ein Kern von Pfäffischgesinnten, der sich im Dunkel enger zusammengezogen hatte und sich im stillen stets wirksam erhielt, wählte ihn früh zum Ziele des Hasses und der Verfolgung. Anfangs lachte er des machtlosen und ihm, wie er glaubte, unschädlichen Bestrebens und fand die ausreichendste Genugtuung in dem Zutrauen, welches auch die entschiednen Feinde ihm als Arzt erwiesen, denn in ernsten Krankheitsfällen wurde nur immer er zu Rate gezogen, mit großem Ärger eines frömmeren Kollegen, der fleißig in die Messe und zur Beichte ging und an dessen Seelenheil dieselben Leute nicht zweifelten, die ihr leibliches doch lieber in andre Hände legten! In späterer Zeit, als die pfäffische Feindschaft mit weltlichen Umständen sich verbünden konnte, wußte sie ihre verkannte Kraft leider rücksichtslos genug fühlbar zu machen.

Zwei Gattungen von Menschen hingegen, welche in jener Zeit als entschiedenster Gegensatz alles Pfaffenwesens galten, waren meinem Vater besonders befreundet, die Militärpersonen und die Schauspieler, beide auch für mich Knaben natürlich von größter Anziehung. Das kurpfälzische Militär war freilich in großem Verfall, den man größtenteils den Verwaltungsmaßregeln des vom Kurfürsten Karl Theodor begünstigten Engländers Thompson, des nachmaligen Grafen Rumford, beimaß, den ich damals in Düsseldorf und Mannheim nie so lobwürdig nennen hörte als wohl in späterer Zeit und an fremden Orten; die Mannschaft war unansehnlich, nicht nach der Tauglichkeit, sondern nach besondern Rücksichten ausgewählt, schlecht ausgerüstet und verpflegt, in allen Übungen vernachlässigt, die Offizierstellen wurden häufig nach Hofgunst verliehen, öfters auch verkauft, und die Gesamtheit stand in geringen Ehren; allein es gab auch ehrenwerte und tüchtige Männer darunter, die mit Unwillen diesen Zustand beklagten und alles, was in[16] ihrer Macht lag, anwandten, um ihn zu verbessern. Vorzüglich ein Oberst erwies sich unermüdet in tätiger Sorge für das Wohl seiner Untergebenen; er suchte Offiziere und Gemeine zu tüchtigen Soldaten zu bilden, zeigte im Dienste die größte Strenge, sonst aber gegen jedermann die gütigste Freundlichkeit. Dem Exerzieren zuzusehen, welches selten ohne Strafen ablief, war ein schauerliches Vergnügen; auf Kaffeehäusern, in den Gärten vor der Stadt und andern Lustorten nahm das Militär sich weit angenehmer aus: da wurden Scherze getrieben, Kriegssachen verhandelt und vor allem die Großtaten der Preußen gerühmt, die seit dem Siebenjährigen Kriege das unerreichbare Vorbild aller deutschen Truppen waren; die Kaiserlichen waren dagegen die Zielscheibe des Spottes, und dabei bemerkte man mit Bitterkeit, daß man leider ihnen mehr als den Preußen ähnlich sei. Diese früh vernommenen Urteile machten einen tiefen und dauernden Eindruck auf mich.

Ich habe schon meines frühen Schauspielbesuchs erwähnt und eines Vorfalls gedacht, wo meiner Neigung zu einer schönen Sängerin übel mitgespielt wurde. Doch meine Freude am Theater erlitt dadurch keine Störung; die Tage, an denen gespielt wurde, erschienen mir schon am frühen Morgen in aller Macht des Zaubers, der sich am Abend herrlich entfalten sollte. Ein großer Teil meines Kinderglückes bestand in diesen Festen der Phantasie, in denen eine zweite Welt mir aufging. Selten geschah es, daß eine Vorstellung versäumt wurde; denn da mein Vater als Arzt von den Schauspielern keine Vergütung nehmen wollte, so hatten wir wenigstens freien Eintritt, den wir gern benutzten. Die deutsche Schaubühne gehörte damals zu den Ehrensachen der Nationalbildung, die jeder Strebende zu fördern verpflichtet und für welche der ernstlichste Eifer entzündet war. Doch mit Schauspielern und Schauspielerinnen nähern Umgang zu haben war noch ungewöhnlich, und mein Vater, der wie in andern so auch in dieser Vorurteilslosigkeit munter voranging, erwarb sich den Dank und die Liebe der durch ihn[17] Gehobenen. Der ganze Stand hatte damals wohl nicht weniger Bildung als jetzt, viele seiner Mitglieder waren nicht für ihn erzogen, sondern für einen höhern, dem sie aus Laune oder Unglück entsagt hatten; frisches Leben aber und geniale Kraft fanden sich in reichsten Maßen ausgeteilt, auch bei den wandernden Gesellschaften, welche in ihrer wechselvollen Freiheit vor den spätern Hof- und Stadtbühnen und deren gebundenem Amts- und Schulwesen manchen Vorzug behaupteten. Es traf sich nicht selten, daß Schauspieler sich mit meinem Vater in lateinischer Sprache ganz fertig unterhielten, bei andern bewunderte man die Meisterschaft in ritterlichen Übungen; aus der Hof- und Staatswelt sogar hatten sich Liebhaber angefunden, die unter selbstgewählten Namen sich um den Beifall des Publikums bemühten, denn den angeborenen Namen zu führen wurde den Schauspielern noch nicht zugemutet. Nicht zu übersehen ist auch der Umstand, daß die rheinischen und süddeutschen Bestandteile damals beim Theater vorherrschten, wie in späterer Zeit die norddeutschen, worin sich ein bedeutender Unterschied angibt, den der Kundige wohl wird zu würdigen wissen.

Die guten Tage, welche mir unter wechselndem Vergnügen oder doch in stiller Zufriedenheit dahinflossen, wurden durch kein frühzeitiges Lernen getrübt. Die herrschende Denkart war aller geistigen Anstrengung der Kinder durchaus entgegen. Die Kenntnisse, welche schon dem zartesten Alter mit Mühe und Pein pflegten eingetrieben zu werden, kamen in scharfe Prüfung; ein Teil wurde als unnütz geradezu verworfen, die andern einer reifern Zeit vorbehalten. Ich lernte zwar keine Buchstaben, aber dafür desto mehr Sachen durch Anschauung und Benennung vieler Gegenstände, durch Mitgehen in so vielen Bewegungen und Verhältnissen des Lebens. Vermöge Hörens und Nachsprechens machte ich zwar einen Anfang im Französischen, aber ich wußte kaum, daß dies ein Lernen sei. Das einzige, wobei mir zum ersten Male bekannt wurde, was ein Lehrmeister[18] bedeute und was Lehrstunden seien, war dem Anscheine nach die vergnüglichste Unterhaltung, nämlich das Tanzen, welches als nützliche Leibesübung früh zugelassen wurde. Doch mir wurden gerade diese Stunden und der ganze Unterricht bald unsäglich verhaßt. Der Meister war ein griesgramiger Pedant, von roher und tückischer Gemütsart, der die kleinen Schüler unaufhörlich schalt und strafte, so daß wir selten ohne Weinen abkamen und uns auch wohl, wenn wir den gefürchteten Mann kommen sahen, im Garten vor ihm verbargen, welches fruchtlose Bemühen unser Los bei ihm nicht verbesserte. Meine entschiedene Abneigung hatte zur Folge, daß, als der Unterricht zufällig auf einige Zeit ausgesetzt worden war, seine Wiederaufnahme weit hinaus verschoben blieb, und die Umstände fügten es so, daß er nie mehr stattfand; denn meinen nächsten Jahren fehlte jeder Wunsch darnach und den spätern der Entschluß, mich in dieser Sache noch als Anfänger zu gebärden, während ich in andern Dingen schon vorgeschritten war.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 7-19.
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