Harren und Streben. Prag

1811

[401] Nach dem wechselvollen Leben, das ich so lange geführt, erschien der herkömmliche Besatzungsdienst und überhaupt der ganze Aufenthalt in Prag sehr beschränkt und einförmig. Die drückenden Zeitläufte machten sich überall fühlbar,[401] der sinkende Wert des Papiergeldes verursachte auf allen Seiten Verlust und Unsicherheit, der gesellige Zusammenhang war schwach, und außer der schroffen Trennung der Stände wirkte hier auch der Unterschied der Volksstämme sehr merklich. Doch standen die deutsch und die böhmisch redenden Eingebornen noch nicht so sehr voneinander ab als von beiden wir deutsche Ausländer, die wir an Sinn, Richtung und Gewohnheiten hier entschieden fremd waren und trotz manches Bemühens nicht heimisch wurden. Besonders traf dies die zahlreichen Offiziere, welche aus Norddeutschland wegen des Krieges nach Österreich gekommen waren und jetzt im Heere noch fortdienten. Auf einander angewiesen, hielten wir soviel als möglich zusammen, erfuhren aber auch, daß die Gleichheit des Äußerlichen noch lange keine Gemeinschaft bildet. Die mir am wertvollsten gewesen wären, hatte der Zufall entfernt, und der Nähe und Bereitwilligkeit mancher Anwesenden mocht ich mich lieber entziehen. Dagegen hört ich zwei deutsche Namen jetzt in Prag nennen, nach denen ich früher dort und anderswo vergebens gefragt hatte und zu welchen ich mich lebhaft hingezogen fühlte. Der Hauptmann Ernst von Pfuel, mir aus dem Lebenskreise von Nennhausen sehr wohl, aber noch nicht persönlich bekannt, war der eine dieser Männer; der ehemalige preußische Minister Freiherr vom Stein, geächtet von Napoleon und hochgeehrt von allen deutschen Vaterlandsfreunden, war der andre.

Stein war in Berlin durch die französische Achtserklärung mitten in seinen Amtsgeschäften überrascht worden und hatte seine Zuflucht nach Österreich genommen. Hier waren während des Krieges seine Hoffnungen und sein Haß heftig angeregt, und auch nach dem Frieden hielten beide sich voll unmutigen Eifers aufrecht. Er wollte jetzt in Prag möglichst ruhig abwarten, wie die Weltereignisse sich ferner entwickeln würden; der Ort war zu Beobachtungen wohlgelegen, bot vielerlei Hülfsmittel und auch geselligen Anhalt genug für einen Mann, der durch Geburt[402] und Würden überall zu den Kreisen der hohen Aristokratie gehörte.

Von seiner unbeugsamen Gesinnung, der Schärfe seines Geistes und der ungemeinen Heftigkeit seiner Gemütsart erzählte man vielerlei Züge, welche ihm überall, wo der Franzosenhaß glühte, Bewunderung und Zutrauen erwarben und einen Helden in ihm sehen ließen, auf den das Vaterland einst würde rechnen dürfen. Zwar fanden sich schon damals manche Stimmen, welche so raschem Mute nicht ganz vertrauen wollten, an den Grundsätzen des Staatsmannes vieles tadelten, ihn törichter Vorurteile für alles Alte beschuldigten und denen die Befreiung Deutschlands weit eher durch maßvolle Klugheit und besonnene Tapferkeit als durch heftigen Ungestüm zu hoffen schien; solche Stimmen riefen dann auch wohl die Umstände zurück, durch welche Stein in seine jetzige Lage geraten war und höchst unzeitig einen Wirkungskreis verloren hatte, der ihm für seine Zwecke nicht schöner geboten sein konnte. Diese Umstände konnten allerdings seiner Besonnenheit nicht zum Lobe gereichen; doch waren sie damals nur ungefähr bekannt, der genauere Hergang aber war folgender: Von Königsberg sollte der Assessor Koppe mit Aufträgen nach Berlin und weiter in das nördliche Deutschland abgesendet werden. Stein kam von einer Mittagstafel, wo viel getrunken worden war, und fand den schon Reisefertigen, der sich die letzten Befehle erbat; Stein hieß ihn einen Augenblick warten, trat an ein Pult und schrieb stehend in Eile und Eifer noch an den Fürsten von Wittgenstein einen Brief, den jener empfing und dann abreiste. Die Sache blieb so gut wie vergessen, als plötzlich die Nachricht kam, Koppe sei von den Franzosen aufgefangen und seiner Briefschaften beraubt worden. In der Unruhe und Besorgnis, welche dies erregte, bekannte der Graf von der Goltz, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, er sei in großer Angst wegen einiger Briefe, in denen er sich über Napoleon scherzend ausgelassen. »Das war recht dumm von Ihnen!« fuhr ihn[403] Stein sogleich an; und sodann befragt, was er selber denn für Briefe geschrieben, versetzte er gutes Mutes: »Oh, was ich geschrieben habe, das dürfen die Franzosen alles lesen!« Bald nachher las er seinen Brief an den Fürsten von Wittgenstein im »Moniteur« abgedruckt und mußte nun den Inhalt, auf den er sich vorher kaum hatte besinnen mögen, allerdings für verfänglich und unbedacht erkennen. Bei dem lautgewordenen Unwillen Napoleons konnte Stein nicht füglich preußischer Minister bleiben. Er reichte daher seine Entlassung ein, dachte indes auch jetzt so wenig an Gefahr, daß er vorläufig nach Berlin zu reisen wagte. Hier aber las er unerwartet im »Moniteur« ein Dekret Napoleons aus Madrid, durch welches »le nommé Stein«, als Aufruhrstifter gegen die Franzosen, vogelfrei erklärt wurde. Für Stein blieb nun nichts übrig, als zu fliehen. Da die Wege nach England versperrt waren, so konnte nur Österreich eine sichere Zuflucht bieten. Die französischen Behörden hatten den preußischen bereits die Auslieferung des Geächteten nachsuchen müssen, taten jedoch nichts, was seine Flucht hindern konnte; in dem Dekrete war »le nommé Stein« nicht auch als der Minister bezeichnet, diese Unbestimmtheit kam ihm zustatten, er behielt zwei Tage Zeit, seine Anstalten zu treffen, und gelangte glücklich nach Österreich.

In solchen Fällen aber zeigt sich die Echtheit eines Charakters im glänzendsten Lichte; die wahre Größe ist von ihren sie begleitenden Mängeln unabhängig, und Schwächen und Irrtümer werden ihr nicht angerechnet; die Stimme des Volks, von richtigem Gefühl geleitet, hält ihre echten Helden über Unfälle und Mißgeschicke empor und spricht sie los von der Verpflichtung des Erfolgs. Daß Blücher bei Lübeck sich mit seinen Truppen gefangengeben mußte, hat ihm in der Meinung nicht geschadet, man sah in ihm nicht minder den Helden, dem die Zukunft anzuvertrauen sei. Ebenso können wir von Stein sagen, daß die erzählte Übereilung, welche so große Entwürfe und Bereitungen zerrüttete,[404] ihm in der Meinung eigentlich kaum geschadet hat; man bedauerte das Vorgegangene, lächelte darüber, aber die Verehrung und das Zutrauen nahmen nicht ab, im Gegenteil, Steins Unfall beglaubigte ihn als unwiderruflichen Feind der Franzosen, dem keine Aussöhnung möglich sei und dessen Versehen sogar nur den Eifer kundgab, der in jeder auch kleinsten Gelegenheit sich selber bloßzustellen kein Bedenken trug. In solchem Ansehen und solcher Würdigung lebte Stein bei den Besten und Würdigsten in Prag.

Er stand mit den vornehmen Familien in hergebrachtem Verkehr, hielt sich aber im ganzen sehr zurückgezogen und hatte nur wenig Umgang, der auch selten seinen Ansprüchen genügen konnte. Denn er machte unausgesetzt die größten Forderungen. Ehrenfest und deutsch wollte er die Menschen, aber auch fein und wohlgesittet, von wissenschaftlicher Bildung, aber auch entschlossen und tatkräftig, womöglich noch unterhaltend durch Geist und Witz. Freilich war er selbst dies alles, aber nur selten wurde ihm dergleichen dargeboten, in Prag nur durch Pfuel, die Grafen von Sternberg und vielleicht noch zwei bis drei andere. Er war auch schon zufrieden, solche Eigenschaften teilweise vorzufinden oder in solcher Richtung den guten Willen. Ich hatte über Paris und Napoleon mancherlei aufgeschrieben, war kürzlich durch einen großen Teil von Deutschland gereist, hatte ja auch schon gegen die Franzosen gefochten, dies alles, wovon Stein hörte und angezogen wurde, verschaffte auch mir die Gunst, daß er mich kennenlernen wollte. Pfuel führte mich zu ihm.

Der Empfang sollte freundlich sein, die Absicht war nicht zu verkennen, aber trotz derselben geriet er doch ziemlich schroff und rücksichtslos. Man sah es dem Manne gleich an, daß er ohne viele Umstände zu verfahren liebte und fast nur gezwungen, durch entschiedenes Machtansehen, wahre Geisteskraft oder trotzige Selbständigkeit einen andern Menschen so gelten ließ, um mit ihm auf einer Art von gleichem[405] Fuße zu verkehren. Ich werde mich nicht rühmen, gegen Stein irgendeine Positur behauptet zu haben; wie hätte ich daran denken und dies mir gelingen können. Aber ich kann sagen, daß auch er mir im geringsten nicht imponierte und daß ich ihm gegenüber meine Selbständigkeit irgend beschränkt gefühlt hätte. Ich fand ihn einfach und ungezwungen, ganz ohne Stolz und Schein, und so war ich ebenfalls einfach und natürlich, ohne andere Unterordnung, als welche der äußerliche Abstand gebot. Gleich bei dem ersten Besuche, bei Erwähnung mancher politischen Bezüge, in dem Urteil über Personen und Schriften, taten sich merkliche Verschiedenheiten der Ansichten hervor, und Stein schien verwundert, daß ich die meinigen nicht sogleich berichtigen ließ. Doch reizte ihn der Widerspruch nicht unangenehm, und er lud mich lebhaft und dringend zu häufigen Besuchen ein. Ich hatte dazu mehr als einen Antrieb. Meine Verehrung war aufrichtig und unbegrenzt; den hohen Wert eines solchen Mannes erkannte ich mit allem Eifer, mit entschiedener Hoffnung künftigen Erfolgs, sowohl für die allgemeine Sache als für mich insbesondere. Hier ein näheres Verhältnis anzuknüpfen schien in meinen Lebenszwecken ganz eigentlich begründet, früher oder später mußten wir doch in gleichen Richtungen zusammentreffen, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß mir dabei nur Ehre und Vorteil erwachsen würde. Aber ich hatte noch ein anderes Anliegen. Für meine künftige Laufbahn mußte ich Studien unternehmen, die ich früher hatte vernachlässigen dürfen und für welche mir jetzt in Prag sowohl Anleitung als Bücher fehlten. Mit völligem Vertrauen hatte ich dem kenntnisreichen Staatsmanne meine Unwissenheit aufgedeckt und seinen Rat und Beistand erbeten, um auf kürzestem Wege in die Zweige praktischer Staatskunde einzudringen, deren ich am meisten zu bedürfen schien. Sehr bereitwillig sagte er mir Hülfe zu, sowohl durch mündliche Belehrung als durch den reichen Vorrat seiner Bücher, die er nach Prag hatte nachkommen lassen.[406]

Sooft ich nun zu Stein kam, hörte ich gleichsam ein Privatissimum über Gegenstände der Staatswirtschaft, erläutert durch Beispiele aus dem Geschäftsleben selbst, wobei zwar keine geordnete Folge herrschte, aber doch die wichtigsten Ansichten und Tatsachen mir auf die lebendigste Weise dargeboten wurden. Seine eigne Lebhaftigkeit riß ihn fort; jede Unkunde, die er wahrzunehmen glaubte, jeder Zweifel, der sich zu äußern wagte, steigerte seinen Eifer, und er nahm sich die Geduld, in die ausführlichsten Erläuterungen einzugehen. Bei solcher Gelegenheit fehlte es nicht an persönlichen Bemerkungen, besonders über preußische Staatsbeamte, und die Kritik ihrer Handlungen gab ihm noch mehr Herzenserleichterung als mir Belehrung, wobei mir nicht entging, daß in der Sache und in der Form seine raschen Aussprüche als parlamentarische Opposition oft von außerordentlicher Wirkung hätten sein müssen. In seinen Lieblingsvorstellungen ganz ritterlich gesinnt, auf einen starken und reichen Adel haltend, war Stein zugleich der eifrigste Bauernfreund und wollte den Landmann durchaus frei und selbständig wissen. In diesem Betreff rühmte er die neue preußische Gesetzgebung, die zwar nicht, wie man fast allgemein geglaubt, von ihm ausgegangen war, aber doch jede Förderung erhalten hatte. Hierbei kam er auf die Verdienste des in Königsberg verstorbenen Professor Kraus, dessen Schriften er mir gab und empfahl und den er gegen neuere Angriffe mit Zorn verteidigte. In Berlin nämlich gab damals Heinrich von Kleist deutsche Blätter heraus, in welchen Adam Müller den Wert von Kraus sehr herabsetzte und ihn für einen bloßen Nachsprecher Adam Smiths erklärte, dessen Grundsätze, als den Gewerbefleiß zum Nachteil des Adels begünstigend, schon nicht mehr gelten sollten. Stein aber sagte von Kraus: »Der Mann hat mehr getan, als diese Herren je verrichten werden. Die ganze Provinz hat an Licht und Anbau durch ihn zugenommen, seine Belehrung drang in alle Zweige des Lebens, in die Regierung und Gesetzgebung ein. Hat er keine neuen glänzenden Ideen[407] aufgestellt, so ist er dafür auch kein ruhmsüchtiger Sophist gewesen, und die einfache Wahrheit klar und rein vorgetragen, auf ihren richtigsten Ausdruck gebracht und Tausenden von Zuhörern erfolgreich mitgeteilt zu haben ist ein größeres Verdienst, als durch Geschwätz und Paradoxien Aufsehen zu erregen. Aber so verhält es sich nicht einmal: Kraus war kein Nachbeter, Kraus hatte eine unscheinbare und doch geniale Persönlichkeit, die seine Umgebungen mächtig ergriff, er hatte Blitze neuer Einsichten, großer Anwendungen und setzte uns durch sein unerwartetes Urteil oft in Erstaunen. Wenn er indes sein Abc vortrug, suchte er das B nicht hinter das C zu setzen und eine solche Neuerung als geistreich auszuschreien. Lesen Sie seine Schriften, klar und einfach ist da alles, und mehr brauchen Sie für jetzt nicht. Nebenher lesen Sie mir auch die Franzosen, um zu vergleichen und zu prüfen, die Leute haben auch was getan!« Wenn Stein so eiferte, geriet seine Stimme und Gebärde in eine eigene Art von Zitterung, wobei er die Augen zudrückte und die Worte zuletzt kaum noch ausklingen ließ. Aber wie traf gleich darauf sein Blick groß und durchdringend den Zuhörer, welchem er dann jeden geheimen Widerspruch auf dem Gesichte las und mit neuem, oft hartem und verletzendem Anlauf entgegendrang! Mit ihm ein Gespräch zu haben war ein steter Kampf, eine stete Gefahr, nie konnte man sicher sein, durch eine plötzliche Wendung sich feindlich behandelt zu sehen, weil es ihm beliebte, den gerade Anwesenden, mochte dieser auch ganz einstimmig sein, sich als Widersacher vorzustellen; und dies ohne üblen Willen, ohne persönliche Absicht und ohne irgendeinen bleibenden Eindruck in ihm selber. Dies gab dann auch dem Umgange Steins einen eignen Reiz und ließ die Erregung, in welche sein Gespräch versetzte, eher aufsuchen als meiden; wie denn insbesondere der Kaiser Alexander späterhin von diesem rüstigen und derben Wesen, das sich den höchsten Personen gegenüber nur etwa durch einen Zusatz von Laune mäßigte, ganz bezaubert war und[408] für Stein ebenso große Zuneigung als Bewunderung empfand.

Durch Stein wurde ich auch mit mancherlei Zusammenhang der politischen Dinge bekannt, der mir bisher entgangen war. Ich bekam Aufschluß über allerlei, was in Berlin und im nördlichen Deutschland vorbereitet wurde, und sah nun Weg und Feld mit zahlreichen Fäden überkreuzt, die beim Weiterschreiten nicht unbeachtet bleiben durften. Stein hatte tätige Verbindungen beibehalten und war von allem, was in Berlin vorging, genau unterrichtet. Scharnhorst und Gneisenau waren die Männer seines Herzens. Nächst ihnen rühmte er Niebuhr, den er als praktischen Staatsbeamten und als gründlichen Gelehrten gleich sehr schätzte und dessen Buch über die Geschichte Roms er mir zuerst mitteilte, wobei er in aller Bewunderung des Scharfsinns und der Gelehrsamkeit doch bedauerte, daß Niebuhr eigentlich kein Deutsch schriebe, sondern im Deutschen immer englisch werden wolle, durch dessen frühes und eifriges Studium er seinen Stil verdorben habe. Von den deutschen Gelehrten dachte er im ganzen nicht vorteilhaft; doch lobte und empfahl er die Schriften von Heeren als gründlich und praktisch, und besonders pries er Fichten wegen seiner »Reden an die deutsche Nation«; die Philosophen mochte er sonst wenig leiden und erklärte die damaligen neuesten geradezu für verrückt. Auch Schleiermachers philosophische Religion war ihm zu geistreich und in betreff der Rechtgläubigkeit mehr als verdächtig. Große Stücken hielt er auf Justus Gruner, von dessen Mut und Gewandtheit im Geheimkriege der preußischen Behörden gegen die französische Polizei und Herrschaft die merkwürdigsten Beispiele erzählt wurden. Von ihm wird später noch die Rede sein.

Hatte ich bei diesen Unterweisungen und Aufschlüssen mich nur belehren zu lassen und fügsam und dankbar zu erweisen, so gab es dagegen andere Gegenstände, bei welchen mir eine tätigere Rolle zugewiesen war. Um seine vielen[409] Stunden würdig und zugleich fruchtbar auszufüllen, hatte Stein ein ernstes Studium der Französischen Revolution vorgenommen, er wollte diesen Ereignissen, aus welchen die Geschicke der Welt noch unmittelbar herabströmten, einmal auf den Grund sehen, ihre starken und schwachen Seiten kennen. Die damals erreichbaren Hülfsmittel lagen auf seinen Tischen, er las die Schriften aller Parteien und scheute die großen Bände des »Moniteur« nicht, um die öffentlichen Verhandlungen aus der Quelle zu schöpfen. Seine Gespräche lenkten natürlich jedesmal auch auf diesen Gegenstand ein, über den seine Empfindungen und Ansichten auszusprechen er am liebsten selbst eine Rednerbühne bestiegen hätte. Jeder meiner Besuche fand ihn fortgeschritten in dem Geschichtsgange, und ich konnte die Eindrücke jeder Epoche genau wahrnehmen. Sein Haß gegen die Revolution war grenzenlos, besonders in den ersten Zeiten, wo noch so oft durch wenige Maßregeln und einige Entschlossenheit alles hätte gewendet werden können. Die Franzosen von 1789 waren ihm schon die jetzigen, die Republikaner schon die von Napoleon unterjochten und den Deutschen schmachvoll aufliegenden kaiserlichen Kriegsknechte; die Vorgänge, in denen das Volk siegte, erfüllten ihn mit Grimm, er hätte dem Hof, den Ministern, den Generalen noch jetzt seine Kraft und Entschlossenheit leihen mögen. Wenn Mirabeau und Lafayette einige Gnade bei ihm fanden, so war es, weil sie solche Kraft, die sie zuerst gegen den Hof wandten, zuletzt auch der Volksmeinung entgegensetzten. Sonst verwarf er alle Teilnehmer der Revolution in ein und dieselbe Verdammnis. Ich stimmte ihm hierin nicht bei und faßte überhaupt die Ereignisse mehr in ihrer Besonderheit auf, suchte sie aus ihren eigentümlichen Umständen und Antrieben zu erklären und wollte eine unabwendbare Entwickelungsfolge in ihnen sehen. Stein fand dies kleinliche Geschichts-Sachwalterei, wollte von genauen Erwägungen wenig hören und hielt sich als Mann der Tat und des Kampfes an den kurzen Entscheid:[410] alles dort drüben sei der Feind und er müsse in summa geschlagen und vertilgt werden.

Jedesmal hatten wir hierüber Streitigkeiten. Ich gab zu, daß im Schweben der Schlacht kein Unterschied zu machen sei, aber nach dem Kampfe folge die Geschichte wie ein Lazarett, wo man auch den Feind schonend behandle und wohl Rücksicht nehme, ob er aus Wahl und Absicht oder Zufall und Zwang es geworden sei. Ich war in der französischen Revolutionsgeschichte, besonders in den Anfängen, nicht unbewandert und konnte manche Tatsache, manchen Charakterzug anführen, welche Stein nicht ganz verwerfen durfte; bisweilen ließ er sich den Widerspruch gefallen, wie er denn überhaupt mit jeder Entschiedenheit artiger umging als mit feigem Nachgeben, welches er gewöhnlich mißhandelte. Allein ich stand in jedem Betracht hier zu sehr im Nachteil, um diese Erörterungen zu lieben, welche doch jedesmal den ganzen Umgang aufs Spiel setzten. Verschweigen wollt ich meine Meinung nicht, aber sie ganz herauszusagen war oft kaum tunlich. Ich erinnere mich, einmal gereizt und gedrängt zu Stein gesagt zu haben, er sei ein Reichsfreiherr, ein Adeliger und Vornehmer und habe als solcher im gegebenen Falle ein bestochenes Urteil. Ich erschrak, als ich diese Kühnheit ausgesprochen. Stein aber schwieg einen Augenblick, wurde ganz gelassen und sagte mit mildem Ernst und großer Würde, ich machte ihm da einen Vorwurf, der einigen Schein habe, jedoch um mir zu zeigen, daß er ihn im allgemeinen doch nicht so ganz verdiene, wolle er mir beispielsweise nur sagen, daß, wenn er auch zu dem ältesten Adel gehöre und in adeligen Gewöhnungen und Ansichten herangewachsen sei, doch die eigentlichen vertrauten Freunde, die er in seinem Leben gehabt, freilich aber später wieder habe aufgeben müssen, beide bürgerlich gewesen; er meinte Rehberg und Brandes. »Nicht wahr?« fügte er hinzu, »das haben Sie wohl nicht gedacht?« Meine Beschämung konnte mich so sehr nicht beugen, daß nicht der Anblick des trefflichen und in solchen Momenten[411] wahrhaft liebenswürdigen Mannes mich noch mehr erhoben hätte.

Eines Tages aber fand ich ihn wieder über dem »Moniteur« und ganz ungewöhnlich aufgeregt. Er sprach mit Lebhaftigkeit über die Revolution, aber schimpfte nicht. Er war zu dem Nationalkonvent gelangt, und hier, wo sein Haß den Gipfel erreicht haben mußte, wo die Verurteilung und Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten, die gehäuften Greuel und Schrecknisse aller Art ihn empören mußten, sah er sich zu staunender Bewunderung hingerissen durch die ungeheure Kraft und beispiellose Macht, mit welcher der Wohlfahrtsausschuß das innere Frankreich beherrschte und nach außen allen Feinden siegreich die Spitze bot. Diese gewaltsamen Maßregeln, diese furchtbare Strenge und fast übermenschliche Tätigkeit imponierten ihm, diese waren seines Wesens und Geschmacks, solche hätte er selber jetzt zur Rettung Deutschlands gegen die Franzosen anwenden mögen. Wie kräftig diese Leute gewesen, was sie alles geleistet und durchgesetzt, hörte er nicht auf zu preisen und hielt eine begeisterte Lobrede auf jenen Ausschuß, den er mir vorwarf nicht gehörig zu erkennen. Denn freilich konnt ich auch diesmal ihm nicht beistimmen: manche Vorgänge der Revolution waren mir in günstigem Licht erschienen, ich hatte die erste Nationalversammlung bewundert, die talentvollen Girondisten beklagt, aber von frühster Zeit waren mir die Jakobiner und ihre Greuel zum Abscheu und die Größe eines Danton und Robespierre nur schauderhaft. Schon bei dem nächsten Besuche hatte auch Stein von seiner Bewunderung nur noch Abscheu, und im weitern Verfolge der Revolutionsgeschichte fand ich ihn nur noch einmal besonders aufgeweckt, als er zu den Unfällen des Direktoriums gekommen war, wo es ihm wohltat, seinem Hasse auch einmal volle Verachtung beimischen zu können. Man wird mir zugeben, daß ich durch die Gesprächsbegleitung des Steinschen Studiums einen Kursus über die neuere Zeitgeschichte gemacht, wie er nicht leicht wieder vorkommt![412]

Mehr als mit meinen mündlichen Äußerungen war Stein mit meinen schriftlichen Aufsätzen zufrieden, in denen ich einen Teil meiner Reisewahrnehmungen niedergelegt hatte. Er trieb mich unaufhörlich zum Schreiben an, zum Schreiben im deutschen Sinn, zum Schreiben gegen die Franzosen. Es könne nicht genug in dieser Art geleistet werden, und der Augenblick, meinte er, wo dergleichen gedruckt werden könne, werde schon kommen. Er freute sich, daß Graf Schlabrendorf, von dem ich viel hatte erzählen müssen, durch sein Buch über Napoleon diesem den größten Schaden getan und die Augen der Welt enttäuscht habe, er freute sich der Blätter Arndts, die zu ihm gelangt waren. Jede feindliche Äußerung gegen das französische Kaisertum tat ihm durchaus Genüge. Überhaupt blieb das Vernehmen, solange sein Aufenthalt in Prag dauerte, ziemlich ungestört. Später wurde der Abstand in Meinungen nicht nur, sondern auch in Rang und Stellung allzu trennend. Seine Heftigkeit hab ich als auf mich persönlich gerichtete nie erfahren, wohl aber oft peinlich bestanden, wenn er sich wider andre tobend ausließ.

Steins Raschheit und Ungestüm hing ganz mit seiner körperlichen Organisation zusammen. Er fragte mich einmal nach der Zahl meiner Pulsschläge und hielt mir dann lachend die Hand hin, ich solle die seinigen einmal zählen. Es waren über hundert in der Minute. Dies, versicherte er, sei von jeher sein gewöhnlicher Puls, bei dem er sich vollkommen wohlbefinde. Er schien selber diese Eigenheit als einen Freibrief der Natur anzusehen, der ihm schon erlaube, etwas lebhaftere Aufwallungen zu haben als andere Menschen.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 401-413.
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