Die Universität. Halle

1806

[166] In der ersten Tagesfrühe des 21. Aprils fuhren wir in Halle ein; Rasseln und Stöße des Wagens auf dem holperigen Steinpflaster entrissen uns der Schlaftrunkenheit, und die[166] altertümliche, noch in tiefer Ruhe liegende Stadt mit ihren stillen Straßen und Fenstern sprach uns Ermunterte geisterhaft an. Ich fühlte das ganze Gewicht dieses Augenblicks, der mich in ein neues Leben eingehen ließ, das ich längst ersehnt und gehofft hatte und in seiner Erfüllung fast noch bezweifelte! Mir war zumut, als beträte ich ein Heiligtum, eine geweihte Stätte. Die Stille hatte etwas Ahndungsvolles und Schauerliches, sie verhüllte ein unendliches Leben der Jugend und des Geistes, das mit der steigenden Sonne sogleich neben allem Treiben der städtischen Welt in tausendfachen Regungen zu erwachen begann. Unser Freund Löbell, der von Hamburg schon früher unsre Aufträge empfangen hatte, war schnell aufgefunden, und ein erster Ausflug nach Wohnung verschaffte uns gleich die entzückendste, außerhalb des Tores, in den sogenannten Pulverweiden, dicht an der Saale, die hier einen ihrer rauschenden Wasserfälle bildete; unsre Fenster zeigten uns üppige Wiesen, schöne Pappelreihen, dahinter die sich erhebende Stadt, auf der andern Seite den gebogenen Lauf der Saale, Feld und Wald jenseits und über die hohe Brücke hinaus die Felsenwände eines großen Steinbruchs. Mit welch seliger Befriedigung setzten wir uns hier fest, mit welchen herrlichen Aussichten auf den Vollgenuß des göttlichsten Studienlebens! Unsre Zimmer lagen in zweien Stockwerken, sie waren nicht dreifach abzuteilen, und einer von uns mußte Neandern bei sich aufnehmen; wir losten, und er fiel mir zu, da wir denn in Stube und Kammer uns gemeinschaftlich zu behelfen suchten. Von einem kärglichen Mittagessen an einem Studententische, das unsrer Begeisterung nicht störend wurde, eilten wir in Stadt und Umgegend, vorläufig Kenntnis der Örtlichkeit zu nehmen und für so viele bedeutende Namen und Beziehungen, die wir schon wußten, nun auch die wirklichen Gegenstände zu erblicken. Besonders beglückte uns Giebichenstein mit seinen traulichen Ufern, hohen Felsen, alten Sagen und frischen Erinnerungen, die sich uns dort aus Koreffs Erzählungen anknüpften.[167] Zum erstenmal in einer Universitätsstadt von dem Anblicke des Studentenwesens getroffen, empfingen wir auch von dieser Seite Reiz und Stoff der lebhaftesten Betrachtung; Benehmen, Tracht und Sprache der Jünglinge bezeugte ihre Freiheit, die denn doch durch eigne Satzungen und Regeln in vieler Art gezügelt und auch sonst durch Sitte, Dürftigkeit und Rücksichten genugsam wieder beschränkt wurde, um nicht unleidlich zu erscheinen. Die Mehrzahl der Burschen zwar lebte in dem üblichen Herkommen, hatte ihre Fechtübungen und Zweikämpfe sowie ihre Gelage und Heldentaten im Breihahntrinken und Tabakrauchen, gönnte aber jedem, der sich nicht zu ihnen halten mochte und ihr Treiben nur nicht etwa sonderbar finden wollte – wie denn dieser Ausdruck selbst höchlich verpönt war –, gern seinen eignen Weg, sogar auf dem breiten Stein in der Mitte der Straßen, den man sich untereinander schon leichter freigab und nur den sogenannten Philistern mit Eifersucht bestritt. Die Frequenz war sehr groß, man rechnete gegen fünfzehnhundert Studierende, die sich in verschiedene Landsmannschaften teilten, wiewohl auch eine nicht geringe Anzahl sich wenig oder gar nicht an diese Vereine hielt. Wir blieben natürlich von solcher Teilnahme fern und konnten überhaupt uns nicht verhehlen, daß wir das eigentliche Studentengefühl doch nicht in uns hegten, daß wir in manchem Betracht die Universität, die vor uns lag, schon im Rücken hatten und schon weiteren Verhältnissen angehörten, die mit völliger Hingebung an die neue Lage kaum vereinbar waren.

Der Bezug dieser Verhältnisse erschien mir in starker Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon während der Reise hatte ich über die zukünftige Gestalt meines Lebens ernstlich nachgedacht und wohl gefühlt, daß es Frevel wäre, ohne Rücksicht auf die gewöhnlichen Fügungen durchaus eine geniale Laufbahn anzusprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gründliche Tätigkeit in der bürgerlichen[168] Welt haben, dachte ich so viele Erwartungen und Wünsche, die mir zugewachsen waren, nicht völlig zu täuschen oder in ungemessene Ferne zu schieben, so mußte ich notwendig die Arzneiwissenschaft wieder pflegen, da die Philologie entweder nur handwerksmäßig dem Schulfache zuführte oder für andre Stellung eine Meisterschaft erforderte, die wir uns keinesweges vermaßen, so schnell, wenn irgend je, zu erwerben. Ich ließ mich daher als Beflissenen der Medizin und Philologie einschreiben, zur Verwunderung der andern, die meines Sinnes noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augenmerk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich mir nur die beruhigende Frist, noch wenigstens das erste halbe Jahr ungeteilt meiner freiesten Neigung zuzuwenden, welches auch um so leichter anging, als mir eine gewisse Stufe in der Kenntnis der Alten und in allgemeiner Geistesbildung unentbehrliches Bedürfnis war und meine medizinischen Vorkenntnisse mich über die schwierigsten Anfänge dieses Stadiums weit hinwegsetzten.

Nach der Einschreibung begaben wir uns zuvörderst zum Geheimen Rat Wolf, an den uns Gurlitt und Nolte Empfehlungsschreiben gegeben hatten, und meldeten uns zu seinen Vorlesungen; leider las er diesmal nicht über den Homer noch sonst über einen alten Schriftsteller, doch waren wir auf seine Geschichte der alten Völker sehr begierig. Friedrich August Wolf erschien unter den Gelehrten wie ein König, umgeben von solchem geistigen Ansehn, von solcher Macht und Größe der Gegenwart. Seine hohe, behagliche Gestalt, seine großartige Ruhe und alles wie durch Gebot leicht beherrschende Tätigkeit gaben ihm den Glanz einer Würde, deren er nicht einmal zu bedürfen schien, denn er stellte sich bereitwillig den andern gleich und liebte, nach Art eines Friedrich, auch ohne den Prunk seiner Macht, bloß als Mensch in freiem Witz, in Laune und Scherz, noch immer herrscherlich zu wirken. Er besaß alle Güter und Hülfsmittel der Pedanterie, aber alle hatte er[169] durchgeistet und schaltete frei mit ihnen, so daß er wie über seinem Wissen auch über allen seinen Wissensgenossen stand und hinwieder durch sein Wissen jedem andern Gelehrten eine beneidenswerte Grundlage aller Geistesbildung zu schauen gab. Sein freundlicher Empfang, seine Fragen und Ratschläge ließen uns gleich die scharfgeistige Munterkeit empfinden, auf die man uns schon vorbereitet hatte; seine herzliche Achtung für Gurlitt tat uns wohl, über Bernhardi und Nolte hatten wir auch nur Erwünschtes zu vernehmen, und als wir uns nicht ohne Absicht rühmten, von letzterem auch an Niemeyer empfohlen zu sein, der uns längst als Zielscheibe der scharfen und neckenden Pfeile des fernhintreffenden Helden bekannt war, hatten wir uns des heitersten Scherzes zu erfreuen, der höchst anmutig den Gegenstand gleichsam durch die Finger gleiten ließ, ohne ihn halten zu wollen noch geradezu wegzuwerfen. Späterhin fand ich bei Niemeyer denn doch einen wohlmeinenden Sinn, der an seiner Stelle viel Gutes gewirkt haben mag, aber freilich im Wissenschaftlichen einer eitlen Mittelmäßigkeit frönte, die sich auch im Geselligen nicht verleugnen konnte und mich ungeachtet der eifrigsten Einladungen nur abschreckte, ihn und sein Haus öfters zu besuchen.

Durch Lea Mendelssohn war ich dem Kapellmeister Reichardt empfohlen, der in Giebichenstein mit zahlreicher Familie ein eignes Haus bewohnte und einen schönen Garten mit glücklichen Anlagen und Pflanzungen hügelauf erweiterte. Kunstübend und gastfrei, dabei literarisch und nach Umständen politisch vieltätig, mit Gelehrten und Vornehmen weit und breit verbunden oder bekannt, führte Reichardt in Halle gleichsam das Ansehn und Wort des gebildeten Weltmannes, und wenn auch seine vermittelnde oder beschützende Vornehmheit heimlich einigen Spott erfuhr, so wurden sie doch in offenbarer Weise nicht leicht streitig gemacht. Selbst die Studenten, von denen er in einer Zeitschrift allzu leichtsinnig gesagt, sie seien leider[170] noch sehr roh und ungesittet, und die ihm deshalb kürzlich die Fenster eingeworfen hatten, erkannten seine Überlegenheit mit lächelnder Billigung an, als er gleich darauf in derselben Zeitschrift unter Berufung auf das Vorgefallene seine frühere Äußerung widerrief. Auch für mich und Neumann eröffnete sich freundlich seine Gönnerschaft, und er machte es zu einer Hauptsache, daß wir seinen Schwiegersohn Steffens und dessen und seinen Freund Schleiermacher, für welche wir unbegrenzte Verehrung bezeigten, zuerst bei ihm sehen sollten. Dies geschah am nächsten Sonntage zu Mittag, und gerade in der reichen Umgebung weniger günstig. Denn der heitre, jugendlich hübsche, von beredter Geistigkeit sprudelnde Steffens ließ zwar unter keinen Umständen sich in seiner Lebhaftigkeit stören und war eine so liebenswürdige als geniale Erscheinung; aber der unansehnliche, in seinem Benehmen zurückhaltende, Gemüt und Begeisterung fast verleugnende und nur zuweilen kurz und scharf dazwischenredende Schleiermacher verschwamm in der Gesellschaft, die ihn mehr bedeckte als trug, und beide Freunde zeigten sich in eingeübten Scherzen und übereinkömmlichen Redensarten dieses Kreises mehr daheim und behaglich als uns, die wir solchen Männern vor allem unsre Bewunderung und unser Zutrauen anzubringen strebten, lieb sein konnte. Besonders war Schleiermacher ganz wider unsre Erwartung, ohne daß dies jedoch der großen Verehrung, die wir für ihn hegten, Abbruch tat; denn was er der Einbildungskraft nahm, ersetzte er durch klaren, leuchtenden Verstand. Die Frauen des Hauses huldigten ihm sehr, und man widersprach ihm nicht leicht, welches Steffens schon eher leiden mußte, besonders von Reichardt, der seine Nächsten auch wohl in Dingen, worin sie ihn übersahen, zu berichtigen liebte und so auch seinen Schwiegersohn, zu unserm großen Ärgernisse, zuweilen etwas zu hofmeistern versuchte. Die Kapellmeisterin war schweigsam, dem Anscheine nach eine steife Fee, aber in Wahrheit ein hartnäckiges Familienhaupt, welches die ganze Verwandtschaft[171] und den Haushalt in gegebene Eigengehörigkeit streng zusammenhielt. Luise, die älteste Tochter, von den Blattern mißhandelt und vom Schicksal, das ihr hintereinander zwei ausgezeichnete Bräutigame, Eschen und Gareis, durch frühen Tod geraubt, hatte als Tonkünstlerin Verdienst und Ruf, übrigens aber, bei sehr tüchtigen und wertvollen Eigenschaften, ein weichmütig empfindelndes Reden und Benehmen, das dem Belächeln allzu leichtes Spiel gab. Die Professorin Steffens strahlte in gesunder Schönheit, sie war an Huldigungen gewöhnt, erwartete sie jederzeit, dankte nie dafür und zeigte bei Gelegenheit einen stolzen und harten Charakter; hierin stimmte ihr eine jüngere schöne Schwester, Friederike, merklich zu, was man indes noch eher als jugendliche Schalkhaftigkeit auslegen mochte; eine jüngste Tochter, Sophie, und ein Knabe, Fritz, waren noch Kinder, der letztere jedoch schon merkwürdig verzogen und verhätschelt. Die ganze Familie gebärdete sich vornehm, sang und musizierte ausgezeichnet und fast im Übermaße. Schleiermachers Schwester Nanny machte dazwischen eine stille, doch zuweilen auch auflachende, herrnhutische Erscheinung, Wilhelmine Wolf die eines begabten und munteren Weltkindes; Karoline Wucherer stellte ein harmonisch gebildetes Frauenzimmer von Gefühl und Verstand und von gediegenem Werte dar, und einige ab- und zugehende Freundinnen sowie auch mancherlei Herren aus dem Kreise der Stadt und der Universität füllten die Statistenrollen dieser Gesellschaft zahlreich aus.

Schleiermacher und Steffens luden uns zu ihren Gesellschaften ein, wozu jeder von ihnen einen bestimmten Abend in der Woche ausersehen hatte. Wir kamen dadurch sogleich in ein näheres Vernehmen mit diesen Lehrern, denen uns anzuschließen wir die entschiedene Neigung auch in jeder Weise darlegten. Nicht an festgesetzten Tagen, aber zuweilen, nach Gunst und Gelegenheit, lud uns auch Wolf zu sich, und Haus und Garten von Reichardt standen fast jederzeit dem Besuch eröffnet.[172]

Von allen diesen Beziehungen hatte sich gleich anfangs Neander hartnäckig zurückgehalten, und seine zum starren Trotz gewordene Schüchternheit war durch kein Zureden zu überwinden. Er machte die notdürftigen Besuche bei den Professoren, deren Vorlesungen er zu hören dachte, ließ sich mit ein paar jungen Theologen, Budde und Strauß, bekannt werden, die hinter dem Sonderling einige bedeutende Eigenschaften witterten, und saß übrigens immerfort bei seinen Büchern, indem weder Natur noch Geselligkeit für ihn den geringsten Reiz hatten. Diese angehende Entfernung zwischen uns mußte aber gerade durch die große Nähe unsres Zusammenlebens noch stärker hervorwachsen; die Unordnung, der Schmutz und die Zerstreutheit des Stubengenossen wurden mit jedem Tage unerträglicher, ich konnte weder meine Papiere und Bücher noch meine Wäsche und Kleider gehörig schützen; alles Geräte des täglichen Gebrauchs war ohnehin preisgegeben; wenn er Lust bekam, laut zu lesen, ließ er sich durch keine Einwendung hindern; meinen Platz am Schreibtisch, wenn er ihn besetzt hatte, wollte er nicht räumen, ja, ich fand ihn sogar anstatt in seinem Bette in dem meinigen liegen, weil ihm dergleichen Vertauschung ganz gleichgültig war und er meinte, sie sollte es dem andern ebenso sein. Die wiederholten Zurechtweisungen, die sich nach Verhältnis der wachsenden Ungebühr steigerten, waren ihm unleidlich, er sah sie als willkürliche Schikanen an, und da er überdies das Mißgeschick hatte, fast bei jedem Gange zur Stadt und nach Hause den doch sehr einfachen Weg zu verfehlen, so entschloß er sich eines Tages kurz und gut, nahm mit Hülfe jener Theologen eine eigne Wohnung in der Stadt und sagte mir die Gemeinschaft auf, wodurch ich einer großen Last ledig wurde, wiewohl ich mit Neumann nicht wenig in Sorgen stand, was nun aus dem Unbeholfenen werden solle, bis wir uns versichert hatten, daß seine neuen Bekannten ihm die dringendste Aushülfe nicht fehlen ließen.[173]

Aber auch ich sollte des reizenden Wohnortes auf dem Lande in dieser gewonnenen Erleichterung nicht lange froh sein. Das Haus hatte eine Gastwirtschaft, welche in der Woche fast gar nicht und selbst an Sonntagen nur mäßig besucht wurde. Die meiste Zeit war der ganze Raum, Saal, Garten, Stromufer und Wiesen wie für uns allein da; herrliche Vormittage und Abende verlebten wir im Freien, und nicht selten ließen wir den Gesang Homers am Wasserfall mit den schäumenden Wogen laut um die Wette rauschen. In dieser schönen Freiheit fand mich noch Eberty, der mich auf ein paar Tage von Leipzig her besuchte und sich meines Glückes teilnehmend freute. Gleich nachher aber änderte sich alles dies plötzlich, indem der Saal dicht neben mir vermietet wurde und die pommersche Landsmannschaft ihren Fechtboden dahin verlegte. Hunderte von Studenten strömten nun zu allen Tageszeiten ab und zu, und das Geklirr der Waffen und das Geschrei bei den Fechtübungen überstieg alle Vorstellung; keine Abgezogenheit hielt gegen diese Betäubung stand, und da eine solche Nähe auch in andrer Hinsicht manches gegenseitige Mißbehagen und Grenzstreitigkeiten erwecken mußte, die noch zum Glück bei großer Dreistigkeit von meiner Seite ohne Reibung abliefen, so fand ich es geraten, diese Wohnung zu verlassen und ebenfalls in die Stadt zu ziehen, während Neumann ein Stockwerk höher ungestört noch verbleiben konnte. So war wenige Wochen nach unsrer Ankunft das gewollte und erlangte Zusammenleben durch zufällige Äußerlichkeiten schon wieder aufgehoben, und von uns dreien wohnte keiner mehr mit dem andern, ja sogar die Studien, in welchen wir so eng vereint zu sein dachten, trieben uns bereits in abweichende Richtungen.

Die Vorlesungen hatten angefangen, und fleißiger und eifriger, als wir in dieser Zeit waren, ließen sich wohl keine Zuhörer denken. Die Alte Geschichte bei Wolf war ungemein reichhaltig und anregend; er trug weniger eine Erzählung als vielmehr eine fortlaufende Kritik vor und versetzte die[174] Zuhörer unmerklich in solche Selbsttätigkeit und Mitarbeit, daß man am Schlusse der Stunde sich stets in der heitersten und wärmsten Stimmung, in der angenehmsten Aufregung aller Geisteskräfte fand. Meiner philologischen Neigung versagte ich nicht, in den Frühstunden die Exegese der Briefe des Apostels Paulus bei Schleiermacher zu hören, und meinen medizinischen Absichten sollten vorläufig die zwiefachen Vorlesungen von Steffens über philosophische Physiologie und experimentale Physik genügen, indem vor den völlig medizinischen Vorlesungen eines Reil, Loder oder Kurt Sprengel mich noch einigermaßen schauderte. Bei Schleiermacher empfand ich bald entschiedenen Gewinn; seine Behandlung des Gegenstandes, die sichre Kritik, die feine Dialektik waren bildend auch für anderweitige Einsicht, und selbst dem Gemüt eröffneten sich aus diesen geordneten und klaren Geisteswegen sittliche Einwirkungen. Steffens hingegen riß gleich von Anfang seine Zuhörer in Begeisterung fort, es war unmöglich in diesem Gedränge von tiefen Anschauungen, großartigen Verknüpfungen und blühenden Sprechweisen, die seiner Beredsamkeit entquollen, sich einer aufwallenden Teilnahme zu erwehren. Ich versetzte mich mit Leichtigkeit in die naturphilosophischen Ansichten und Ausdrücke, ich sah mit Bewunderung den begeisterten Lehrer einen ungeheuern Stoff herrschend durchschalten, ich freute mich der Liebenswürdigkeit eines Vortrags, der immer ein bewegtes Herz erkennen ließ und selbst in dem steten Kampfe des Dänen mit der nur halb bezwungenen deutschen Sprache einen neuen Reiz empfing. Diese Vorlesungen waren auf solche Weise ein stets erneuertes Fest, ein Genuß, dem man mit gleichem Vergnügen nachsah und wieder entgegenblickte; sie zeigten aber ihren höchsten Wert erst dann, wenn man sie mit den Schleiermacherschen gleichsam in ein Ganzes verflocht; diese Besonnenheit und jene Begeisterung schienen sich wechselseitig zu vervollständigen, und beide Männer, in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich[175] gern in diese Gemeinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so daß die Theologen auch Steffens hörten und die Naturbeflissenen sich Schleiermachern anschlossen.


Während der schönen Sommermonate kam hierauf noch andrer Besuch nach Halle, der uns schon eine Zeitlang angekündigt und uns höchst erwünscht war. Achim von Arnim erschien und bezog in Giebichenstein bei Reichardt die für ihn schon bereitgehaltene Gastwohnung. Seine stattliche Größe und edle Haltung, sein ungezwungener Freimut und geselliger Frohsinn vereinigten sich zu einem durchaus wohltätigen Eindruck. Man sah ihm sogleich an, daß in ihm weder über ihn selbst noch über die Außendinge ein störender Zweifel war, daß er seinen Neigungen harmlos folgte und durch keinerlei falsche oder verdeckte Ansprüche geleitet wurde. Auch daß das Glück ihn durch Naturgaben und Umstände günstig bedacht, ihn zu keinen verkehrten oder beengten Verhältnissen hinabgedrückt, sondern ihm jede Entwickelung erleichtert hatte, ließ sich an diesem gelungenen Menschengebilde wohl wahrnehmen. Ich spreche hier von seiner damaligen Erscheinung; was in späterer Zeit dieses heitere Bild hin und wieder getrübt haben mag, bleibt künftigem Orte, sofern es nötig sein wird, vorbehalten. Arnim war für mich ein herrlicher Anblick, den einiges übelwillige Reden Harschers und kopfschüttelnde Lächeln von Marwitz und selbst von Steffens, sowenig wie die Reichardtsche Umgebung, welche hier ganz untrennbar war, mir nicht verkümmern konnten. Mit mehr liebevoller Offenheit war mir noch niemand entgegengekommen, mein grüßendes Wort aus Hamburg hatte den freundlichsten Sinn zu herzlicher Erwiderung aufgefordert, und ich sah mich auf den besten Fuß zu dem ansehnlichen jungen Manne gestellt. Gleichwohl entstand keine eigentliche Vertraulichkeit, und sowohl das Reichardtsche Wesen als auch unsre sehr abweichenden Beschäftigungen hielten uns auseinander.[176]

Eine zweite ausgezeichnete Erscheinung war Karl von Raumer, der Freund Koreffs und auch schon unser Genosse durch seine Almanachsbeiträge. Von mittler Gestalt, leicht und beweglich in Gliedern und Sinn, verband auch er Heiterkeit und Ernst in seinem jugendlichen Wesen, das neben kräftigem Übermut auch zarte Schwärmerei durchblicken ließ. Er hatte mit beflügeltem Geiste die Kunden der Natur und der Geschichte ausgebeutet und alles Wissen zu den glänzendsten Ideen verarbeitet, die er reich, gebildet und sanft jeder Mitteilung lebhaft darbot. Steffens war mit ihm in traulichster Freundschaft, Schleiermacher aber, der sich mit dem Jünglinge Du nannte, zeigte eine fast verehrende Liebe für ihn und nahm seine oft nur flüchtigen Äußerungen wie goldne Sprüche eines Begeisterten auf. Auch Raumer eilte, uns mit Herzlichkeit zu empfangen, sprach mir von seinen großen Studien zur Begründung philosophischer Geschichtseinsicht, die nach Maßgabe der damals noch sehr dürftigen Mittel schon geradezu auf Indien und auf das Sanskrit losdrangen, und zeigte mir in seinen Auszügen und Sammlungen Früchte eines erstaunlichen Fleißes, die ich aus meinen Büchern mit einigen seltenen Gaben sehr erwünscht vermehren konnte. Zu meinem Leidwesen aber war auch Raumer von dem Reichardtschen Kreise ganz befangen, und zwar mit den stärksten Banden; denn er war heftig in die schöne Friederike verliebt, schon mit der Hoffnung, sie zu heiraten, wie auch später in Erfüllung ging. Diese Gebundenheit wirkte kühlend auf unser Verhältnis, und die außerordentliche Gunst Schleiermachers und die künftige Verschwägerung mit Steffens konnte Raumern auch sonst in dem jüngern Kreise nicht gegen die scharfen Zweifel und Angriffe schützen, welche Harscher und Marwitz, deren stolze Strenge im Versagen oft bis zur Härte ging, über die Tüchtigkeit und Gründlichkeit seines Strebens und Wissens fast mit Feindschaft ausdrückten; ihren Liebling gegen diese zu verteidigen gelang den Meistern selbst nicht immer, um so weniger[177] mir, der ich mich seiner doch stets annahm, während jene dagegen fest auf ihrem Sinn, auch in der Folgezeit, verharrten. Bekker und Przystanowski aber, welche auch schwer sich zur Anerkennung bequemten und Raumern damals gar nicht wollten gelten lassen, mußten in späterer Zeit seine Anziehungskraft um so stärker erfahren, indem sie bei näherem Zusammenleben leidenschaftliche Zuneigung für ihn faßten.

Unter den Ausflügen, die wir in die Landschaft machten – am häufigsten nach Giebichenstein, niemals nach Passendorf, wo die Menge der Studenten jenseits der preußischen Akzise im Sächsischen zu wohlfeilerem Tabak und Bier täglich hinzog –, war auch eine Fahrt nach Lauchstädt, dem lieblichen Badeorte, wo die weimarische Schauspielertruppe im Sommer ihre Vorstellungen gab. Neumann, Marwitz, ich und noch zwei andere bestiegen an einem schönen Tage zusammen ein Wägelchen, das uns auf den schlechten Wegen, mit Hülfe eifrigen Gesprächs, noch schnell genug an Ort und Stelle brachte. Die schattenreichen breiten Anlagen, einladende Gebäude und bunte regsame Gesellschaft überraschten uns wie eine erquickliche Oase in der Öde der zurückgelegten und nochmals zurückzulegenden Stunden und Räume. Wir trafen, wie dies an Theaterabenden gewöhnlich war, noch viele hallische Gäste dort, so wie auch aus Leipzig, Merseburg und Weimar der Besuch nicht fehlte. Unsre Hoffnung, Goethen zu finden, blieb aber leider getäuscht. Um so eifriger waren wir, seine Eugenie zu sehen, welche zu unsrer Freude statt eines angekündigten anderen Stückes gegeben wurde. Arnim, der auch mit Gesellschaft gekommen war, fand sich zwischendurch zu uns, und unser gemeinsames Vergnügen wurde noch durch den Reiz erhöht, welchen die anmutige Erscheinung der Demoiselle Jagemann aus Weimar für uns hatte; sie war nicht zum Mitspielen, sondern nur als Zuschauerin gekommen, da sie jedoch mit Arnim wohlbekannt und von ihm lebhaft empfangen war, so hatten auch wir näheren Gewinn von ihrer Gegenwart.[178] Das Stück wurde vortrefflich gegeben, die Hauptrollen mit leidenschaftlicher Wirkung, das Ganze mit einem schönen Maße und wohltätiger Ordnung, daß man alsbald fühlte, über diesem Kunstwesen müsse großer Verstand und tiefe Bildung mächtig schalten. Graff als Herzog, Madame Wolff als Eugenie machten einen tiefen Eindruck, der auch die sonst laute Studentenschar zu aufmerksamer Stille bezwang. Überhaupt taten Schauspieler und Zuhörer beiderseits ihr Bestes, und das kleine Haus, von dessen Erbauung uns Goethe so anteilvollen Bericht gibt, konnte in der Tat ein Musentempel dünken, in welchem Sinn, Anstand und Zusammenstimmung des Örtlichen wie des Spiels den Mangel reicherer Mittel völlig vergessen machten.

Von Berlin her war die Gründung eines besondern Gottesdienstes für die Universität betrieben und so weit gefördert worden, daß diese Anstalt am 3. August, dem Geburtstage des Königs, wirklich eröffnet werden konnte. Eine leerstehende, bisher zu andern Zwecken gebrauchte Kirche war der Akademie überwiesen und Schleiermacher zum akademischen Prediger bestellt. In jetzigen Tagen würde sich niemand über eine solche Einrichtung wundern, sondern die meisten sie ganz in der herrschenden Ordnung finden und mancher vielleicht mit jammerndem Rückblick auf die arge Vergangenheit sogar die Frage aufstellen, wie man bis dahin ohne dergleichen nur habe bestehen und einen solchen Mangel verantworten mögen. Man muß aber in die Stimmung von damals sich zurückversetzen, um zu begreifen, welch auffallende Neuerung und welch gewagter Versuch diese Sache war. Das Christentum war durch philosophischen Anschluß und poetische Behandlung in der letzten Zeit allerdings wieder zu größerem Ansehn gekommen, aber deshalb glaubte man doch der kirchlichen Seite noch völlig fremd bleiben zu dürfen. Es gehörte der ganze Ruf Schleiermachers als eines tiefdenkenden, geistreichen, gelehrten Mannes dazu, um ein solches neues Predigtamt bei Ehren zu halten, indem Professoren, Bürger und Studenten,[179] deren Mehrzahl sich kaum einfallen lassen konnte, eine fromme Erbauung zu suchen, nun doch insgesamt gewiß sein durften, eine durch Scharfsinn und Gewandtheit merkwürdige Rede zu vernehmen. Wirklich war die Kirche gepreßt voll, und eine angemessene Stille ehrte den Redner, der aber die herrschende Stimmung seiner bunten Gemeinde so gut kannte, daß er einen höheren Standpunkt, auf welchen er sie zu erheben wünschte, gleich durch die Wahl des Textes andeutete und über die Worte des Apostels Paulus predigte: »Ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.« Man hörte ihn aufmerksam und ehrerbietig an und versprach sich, diese würdige Unterhaltung fortzusetzen, in welcher wir näheren Jünger eine segenreiche Kraft schon lebendiger verspürten. In der Tat hatte die Sache guten Fortgang, und das religiöse Element, auf dessen Hervorrufung Schleiermacher seine ganze Kraft richtete, gewann mehr und mehr Boden, indem auch die hiefür empfänglichen Gemüter sich eifriger heranzogen und die bloß aus Bildung oder Neugier Zuhörenden mehr und mehr abfielen.

Ich versäumte diese Vorträge nie, wiewohl mich kein eigentlich religiöses Bedürfnis zu ihnen zog. Ich wüßte keinen Abschnitt meines Lebens, in welchem ich der Innigkeit frommer Empfindungen ganz entbehrt hätte, ein geheimes Erkennen und Verehren der göttlichen Macht und Liebe hatte mich selbst in den Anwandlungen des Übermutes und Hasses nie verlassen; ich führte meinen Gnadenbrief, um hier so zu sprechen, wenn auch zusammengedrückt und zerknittert, stets bei mir, und er konnte jeden Augenblick wieder entfaltet werden. Allein keine meiner Beziehungen zur Frömmigkeit hat jemals einer Kirche sich wahrhaft verknüpfen wollen; die katholische hatte mir von Kindheit an nur Eindrücke des widrigsten Aberglaubens und der schnödesten Verkehrtheit gegeben; die protestantische schien mir den Glauben, mit welchem sie sich noch trug, entbehren zu[180] können, und was dann übrigblieb an guten Lehren und Bildern, pflegt wahrlich trocken und nüchtern genug zu sein. In dem Zwiespalte der Vernünftelei dieser Kirche und des Aberglaubens der katholischen schien das religiöse Gebilde völlig entschwunden; das rein Sittliche konnte ohne solche Unterlage für sich recht gut bestehen, und die Gottergebenheit war auch aus der Philosophie herzuleiten, womit die vorchristlichen Weisen der Griechen und Römer sich ohnehin hatten behelfen müssen. Die geschichtlichen Gestalten der weltlichen Erscheinungen des Christentums durften am wenigsten anziehen, sie hatten zu der verkündigten Liebe nur allzuoft kein andres Verhältnis als die Schreckenszeit der Französischen Revolution zu den Verheißungen der Freiheit und Gleichheit, und mir war schon früh aus den Betrachtungen des Weltganges das Ergebnis unzweifelhaft, daß dieses hierarchische Christentum sich überlebt habe und völlig weichen müsse, während der geistige Hauch und die liebliche Wärme der ursprünglichen Lehre freilich zu ewigem Fortwirken berufen seien. In diesem Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und sein unverhohlenes Bestreben ging hauptsächlich dahinaus, die Religionslehre von dem Buchstaben der Bibel ganz unabhängig zu machen. Nicht anders als dieses mein Verhältnis in betreff der Religion habe ich das der meisten Menschen gefunden, die ich während meines Lebens gekannt habe, der Vornehmen und Geringen, der Starken und Schwachen, und oft genug, wenn irgendwo sich eine Wunder- und Offenbarungsgläubigkeit noch behaupten wollte, ergab ein näheres Erprüfen, daß hiebei nur ein täuschender Schein waltete. Die kleine Zahl derer, welche ganz im Schoße des unbedingten Glaubens ruhen, konnte gegen die ungeheure Mehrheit schon nicht mehr in Betracht kommen, welche mit den Füßen allenfalls noch auf den alten Vorstellungen weilt, das Haupt hingegen längst von denselben abgewendet hat. Und wenn ich nicht nur auf den Glauben, sondern auch auf den Wandel und die Werke sehen wollte, so dürft ich mit allem Rechte gegen[181] meine jüngern Freunde und auch gegen Steffens und Schleiermacher die ärgerliche Forderung aufstellen, man möchte mir doch einmal Christen zeigen, denn ich hätte deren leider noch keine getroffen, wenn ich nicht etwa ein paar fromme Juden so nennen sollte, die ich in Armut und Verachtung nicht nur streng rechtschaffen, sondern auch gottergeben und milde ihren Bedrückern Liebes erzeigen gesehen. Durch meine fortgesetzte Aufmerksamkeit bei Schleiermacher und durch die nachziehende Macht seiner Lehrweise fand ich mich jedoch hier zum ersten Male aus der weiten Breite meiner Religionsansichten zu den Schranken einer bestimmten Kirchenlehre hingeleitet, und es gelang mir einigermaßen, das protestantische Christentum, soweit ich es kannte, im Sinne des Bedürfnisses und der Empfindungen, die mir ursprünglich gegeben waren, aufzufassen. Allein schon verlautete, diese Lehre sei keineswegs die altbeglaubigte und anerkannte, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich selber das Bedürfnis und die Empfindungen, die mir ursprünglich gegeben waren, ergänzend hinzutun mußte. In diesen lag mir aber die sicherste Ausgleichung für manches Vorgetragene, dem in seiner glänzenden Ausstattung geistig zu widerstehen ich nicht gerüstet war, das aber gleichwohl in mein Gemüt nicht eindrang. So hielt Schleiermacher unter andern eine gewaltig fortreißende Predigt über das Sterben, in welcher die Verneinung persönlicher Fortdauer nach dem Tode von den lichtvollsten Gedankenreihen umhüllt war, die sich gleichsam zum Ersatz jenes abgewiesenen Trostbildes herandrängten; ich ließ mich eine Zeitlang überreden, jenes Verneinen, dem auch die Naturphilosophie ihrerseits kühn zustimmte, sei die Wahrheit, und ich fühlte, nach einigem Schrecken, den eine so neue, bisher nie an meine Seele gelangte Ansicht wohl erregen durfte, mich bei ihr alsbald so beruhigt, wie ich es vorher gewesen war; allein mit besserem Fug und Recht als in ihr selbst lag, denn es dauerte nicht lange, so wurde ich gewahr, daß ich die neue Ansicht nur als solche[182] gefaßt, sie aber nicht als Überzeugung in mein Innerstes aufgenommen hatte, sondern im Gegenteil, während ich mich zu ihr zu bekennen meinte, der feste Glauben an die Unsterblichkeit der Seele mir im tiefsten Wesen unerschütterlich fortlebte. So ging es mir auch mit andern Lehrsätzen, bei denen mehr eine geistige Entwickelung und oft nur eine dialektische Gewandtheit im Spiele war, kaum aber ein wahrhaft religiöser Inhalt zur Sprache kam, daher denn auch dieser für seine anderweitige Entwickelung glücklich frei blieb.

Diese Schleiermacherschen Predigten waren kaum im Zuge, als uns die Religion auch von einer ungewöhnlichen Seite und in einer ganz besonderen Zubereitung nahegelegt und angetragen werden wollte. Zacharias Werner hatte seine »Weihe der Kraft« geschrieben und Iffland sie in Berlin auf die Bühne gebracht. Der Dichter wollte die Religion, welche an und für sich als unschmackhaft und bitter so häufig nicht mundete, mit Hülfe eines guten Geschmacks, den er hinzumischte, dem Publikum eingeben und hoffte, bei dieser Gelegenheit auch seine vorrätigen ästhetischen Gaben nur um so besser an Mann zu bringen. Die »Söhne des Thales« und das »Kreuz an der Ostsee« waren schon in diesem Sinne gearbeitet. Ein Schritt weiter, und Luther stand auf der Bühne, wo er in jedem Fall von Wirkung sein mußte; um diese jedoch aufs äußerste zu verstärken, hatte der Verfasser dem tüchtigen und derben protestantischen Helden ein kindisches Beiwerk von mystisch sein sollender Tändelei zugesellt, wie solche wohl auf der untersten Stufe katholischer Bildung grobsinnlich dargeboten wird. Dies Beiwerk war ihm eigentlich die Hauptsache, die er nur noch nicht eingestehen wollte, auf dem Theater aber galt vorzüglich die Rolle Luthers oder vielmehr in ihr Iffland, der sie mit Meisterschaft darstellte. Jetzt kam er mit dem Manuskript nach Halle, und da hier keine theatralische Aufführung möglich war, so las er das ganze Stück gegen ein mäßiges Honorar vor. Alles war neugierig und drängte[183] sich heran. Iffland las vortrefflich und erntete besonders in seiner eignen Rolle, die er aus dem Gedächtnisse hersagen konnte und größtenteils wirklich spielte, lauten Beifall. Diesen Beifall auch dem Stücke selber anzueignen, waren im Anfang manche Stimmen sehr bemüht; Reichardt, der bei neuen Dingen stets voran war und seine Unterstützung dem Landsmanne Werner, Ifflanden und dem ganzen Vorgange schuldig glaubte, drängte sich umher und munterte zur Bewunderung auf; Madame Elise Bürger, die eigens wegen dieser Vorlesung nach Halle gekommen war, sprach ihr Entzücken mit dem Nachdruck einer Kunstverwandten aus, welche sich nicht scheute, in solcher Versammlung ziemlich laut zu reden, da sie schon gewohnt war, als Hauptperson selber einem ähnlichen Zuhörervolke mutig dazustehen. Dergleichen Fürsprache und Bemühen gab sich aber nutzlos Blößen und schadete sogar; das Stück mißfiel, auch dem natürlichen Sinne der meisten Studenten, wir Freunde ließen uns hart darüber aus und hatten die Befriedigung, unsre Urteile durch höhere Autoritäten sofort bestätigt zu finden. Reichardt, nachdem er innegeworden, woher und wie stark der Wind wehte, zog die Segel wieder ein und tat dies, wie er pflegte, mit guter Art, indem doch immer einige Punkte übrigblieben, an welchen ein Lob des dramatischen Talents, der guten Verse und anderes der Art haften konnte, die Meisterschaft Ifflands aber ohnehin kaum bestritten wurde.

Die Kriegsgerüchte und Truppenbewegungen hatten schon den ganzen Sommer mit schwächeren Friedensaussichten abgewechselt, bis diese, nachdem Napoleon durch Stiftung des von ihm abhängigen und offenbar gegen Preußen gerichteten Rheinischen Bundes tief in Deutschland hinein festen Fuß gefaßt, völlig schwinden wollten und in Preußen alles, was eine Stimme hatte, heftig nach Krieg verlangte. Reichardt war nicht der letzte und versuchte sich in Kriegsliedern, die an den preußischen Grenadier nicht eben vorteilhaft erinnerten; es wurde den Österreichern darin sehr[184] unziemlich vorgehalten, man habe im vorigen Jahre bei Ulm wohl gesehen, daß sie keine Preußen bei sich gehabt. Auch Achim von Arnim dichtete eine Anzahl Lieder von politischem Inhalt, und ein Lied auf den Rheinbund, das er mir vorlas, war in der Tat von glücklichster Tonart und schönster Laune. Preußische Truppen, welche sich allmählich gegen Süden und Westen zogen, waren in und bei Halle zu sehen und erhöhten das Vertrauen und die Lust zum Kriege. Einige Hitzköpfe gerieten völlig in Wut, wenn man einen friedlichen Vergleich noch für möglich halten oder die Überlegenheit der preußischen Kriegsmacht über die französische nicht unbedingt annehmen wollte. Ich erinnere mich, daß ich mit dem Geheimen Rat Schmalz über den Markt ging und ein Offizier ihn mit Neuigkeiten ansprach, daß der Krieg nun entschieden sei und nichts den tollen Bonaparte mehr vom Untergange retten könne. Als ich von französischen Generalen sprechen wollte, fiel er heftig ein: »Generale? Wo sollen die herkommen? Wir Preußen haben Generale, die den Krieg verstehen, die von Jugend auf gedient haben; jene Schuster und Schneider, die erst durch die Revolution etwas geworden, können vor solchen Männern nur gleich davonlaufen. Ich bitte Sie um Gottes willen, sprechen Sie mir nicht von französischen Generalen!« Das war mir zu arg, ich erwiderte kurz, die wahren Generale seien gerade die, welche es trotz ihrer Geburt oder ihres früheren Standes durch den Krieg geworden; sie kämen überallher, vom Dreschflegel, von der Elle, sogar zuweilen vom Paradeplatz und vom Wachtdienst, aber von letztern beiden wohl am wenigsten gewiß. Der Mann sah mich mit grimmigem Erstaunen an, Schmalz aber, der als heftiger Preuße doch jenes Unsinns sich schämte, trat eilig vermittelnd auf, bestätigte jedoch im allgemeinen die letztere Äußerung, indem er sie zugleich milder einkleidete, und das ungebärdige Gespräch verlief sich zuletzt in einem Schwall nutzloser Redensarten, unter denen man sich trennte.[185]

Die Herbstferien waren unterdes herangekommen. Marwitz war schon früher nach Friedersdorf, dem bei Küstrin gelegenen Gute seines Bruders, abgegangen, um daselbst die Verwaltung zu führen, während sein Bruder als Offizier dem Kriegsdienste zu folgen hatte. Neumann schloß sich mehreren Kameraden an, die einen Ausflug nach Sachsen machten, und ich, von Theremin wiederholt eingeladen, nahm gutes Mutes den Weg nach Berlin, um vor dem Winter und seinem neuen Studienanlaufe das Gemüt erst recht wieder in Freundschaft und Muße zu erfrischen. In wenigen Wochen mußten wir in demselben Kreise wieder zusammen sein. Keinem fiel ein, daß die Ereignisse unsre Bahn im geringsten stören könnten.

Daß große Entscheidungen sich vorbereiteten, daran wurde ich doch auf dem ganzen Wege lebhaft genug erinnert, überall begegneten mir Soldaten in größern und kleinern Abteilungen, Kriegsfuhrwerk, Geschütz. In Treuenbrietzen sah ich den alten Feldmarschall von Möllendorf, der, gleichsam als letztes Zeichen des nun nicht mehr zu bezweifelnden Krieges, zum Heere abreiste und ihm als einer der Helden des Siebenjährigen Krieges noch die letzten Funken damaliger Taten zur Entflammung neuen Siegs und Ruhms überbringen sollte. Ich sah ihn aus seinem Wagen heraus dem umstehenden Volke lachend und behaglich die schönsten Verheißungen zurufen und unter dem Jubel der Menge abfahren. Die Soldaten sangen muntre Lieder, freuten sich, daß es endlich ins Feld ging, und überall war es lebhaft von Nachzüglern und sonstigen Leuten, die sich dem Kriegswesen anschlossen. Über Potsdam hinaus verklang allmählich dieser bunte Lärm, alles lag in ungewöhnlicher Stille, und bei heiterem Sommerwetter durfte ich meine wärmsten Empfindungen wieder ungeteilt den Erwartungen zuwenden, die mich persönlich angingen.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 166-186.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon