Halle

1807

[205] Der Anblick Halles war freilich ganz verändert. Die Abwesenheit der Studenten machte die Straßen leer und die Häuser öde, alles hatte ein trauerndes Ansehn, nicht einmal durch französische Einquartierung belebt; denn außer den nötigsten Verwaltungsbeamten und wenigen dienstfähigen Kriegsleuten waren hauptsächlich nur Verwundete und Kranke dort geblieben, von welchen man die Genesenden hin und wider schleichen sah.

Herzlich empfingen mich Harscher und Adolph Müller, die den Sturm ruhig überstanden und dem französischen Bannspruche nicht gehorcht hatten, ebenso mit Traulichkeit Schleiermacher und Steffens, sehr freundschaftlich und heiter Wolf.

Für die Universität waren alle Aussichten noch verschlossen, die Studenten unwiderruflich ausgetrieben, die Professoren ohne Wirksamkeit und Besoldung. Die Bürger hatten zu der überstandenen Plünderung auch noch die vorauszusehende Nahrungslosigkeit und mit den zurückgelassenen Schulden der akademischen Jugend zugleich die Lasten des fortwährenden Krieges, die Unterhaltung eines französischen Lazaretts und manches andre zu tragen, und diese Umstände mußten dem begonnenen Winter einen düstern Verlauf allgemein trostloser Lebenstage verheißen. Aber es kam[205] grade das Gegenteil. Zwar entbehrte man in allen Ständen viel des gewohnten Behagens, und selbst was in andern Zeiten als Anständiges oder gar als Notdürftiges gelten wollte, wurde knapp oder ging völlig ein, aber da man sich des Mangels nicht schämte und die Zeitläufte grade nur stärker zur Mitteilung und zur Gemeinschaft hindrängten, so rückte man gern näher zusammen, richtete sich kleiner und sparsamer ein, sah einander darum anspruchsloser und öfter, und da der Krieg durch seine Fortdauer die Gemüter in Spannung und den Blick und die Hoffnung in der Ferne wach erhielt, so lebte man getrost so fort und war bald bei dem wenigen so vergnügt und heiter, als man vorher bei dem Reichlichern, unter wechselseitig gesteigerter Anforderung, kaum gewesen war.

Die Professoren vermochten zum Teil aus gutem Ertrage früherer Zeiten einiges zuzusetzen, andern half irgendein Nebenwerk aus, hauptsächlich Schriftstellerei, wozu die Muße, bei dem Stillstehen der Vorlesungen, um so größer und die Gelegenheit in dem lese- und studienbedürftigen Deutschland, auch neben dem verheerenden Kriege und fast mitten in ihm, noch genugsam dargeboten war. Wolf, Reil, Niemeyer, Kurt Sprengel und andre solche Altsässige gehörten zu der erstern Klasse; Schleiermacher und Immanuel Bekker zu den letztern; jener hatte gleich nach der ersten Verwirrung sich schnell gefaßt und mit verdoppeltem Eifer seine platonischen und theologischen Arbeiten wiederaufgenommen; diesem hatte Wolf die »Jenaische Literaturzeitung« eröffnet, wo die gelehrten, geistreichen und mitunter grimmigscharfen Kritiken, mit dem Zeichen Δαιμ. oder Δμ. versehen, als notgedrungene Erwerbsarbeiten doch zugleich dämonische Boten der in der Folge so vielfach bewährten philologischen Tüchtigkeit ihres Verfassers sein durften. Ganz ohne Aushülfe und durchaus übel daran war nur der arme Steffens, zum Schreiben damals noch ohne Übung und Selbstvertrauen, für keine neue Tätigkeit geschickt, vom Tage den Tag fordernd, statt eines Rückhaltes[206] vielmehr von Schulden gedrückt. Er sah sich späterhin genötigt, um nur Boden zu haben, mit Frau und Kind den Einladungen seiner nördlichen Freunde zu folgen, die ihm teils in Kopenhagen neue Anstellung, teils in Holstein und Hamburg gastliche Zuflucht boten, wie er denn am letzten Orte im reichen und edlen Hause Sieveking eine geraume Zeit sorgenlos hinbringen mochte. Sein Weggehen war uns allen ein tiefer Schmerz; die notwendigen Bestandteile unsres Zusammenlebens schienen unvollständig geworden, in allen gewohnten Kreisen wurde ein geistiger Zusatz vermißt, in manchen die ganze Würze; selbst bei Schleiermacher entbehrte man den wohltätigen Einfluß der frischen Naturfülle auf diese sanften, weiten, aber zuweilen auch ins Kleine zusammengeengten und schwachhaltigen ethischen Gebilde. Die Reichardtsche Häuslichkeit, in bedrängten Umständen nach Halle zurückversetzt, entblößt von dem weltmännischen Treiben und Anstand ihres Hauptes und von der geistreichen Lebendigkeit des Schwiegersohns, erwies sich als dürftiges schmackloses Überbleibsel eines bessern Zustandes, der dadurch nicht zurückkehrte, daß ein ärmlicher Schein geretteter Vornehmheit ohne die nötigen Mittel angestrebt wurde; das unter vielen wesentlichen Entbehrungen vor allen Dingen wieder angeschaffte Fuhrwerk machte in seiner traurigen Gestalt den Witz rege, der Wagen müsse wohl nur ein Fiaker so wie die Pferde Ackervieh sein!

Einen Patrioten eigner Art lernte ich in dem Kanonikus August Lafontaine kennen, an den ich einen Brief seines Freundes, des Buchhändlers Sander, abzugeben hatte. Dieser einstmalige Liebling der deutschen Frauen und Mädchen hatte im behaglichen Genusse des Ertrages seiner Feder und der Pfründe, die ihm der König und die Königin von Preußen als dankbare Leser seiner beliebten Romane zugewendet, sich zu faßartiger Beleibtheit aufgemästet und war dabei als Schriftsteller so rüstig und rasch geblieben, daß er, wie er mir selbst erzählte, seiner Geschwindigkeit[207] dadurch Hemmketten anlegte, daß er sich nur an zweien Tagen der Woche zu schreiben erlaubte, weil er sonst übermäßig viel schreiben würde und den Wert seiner Hervorbringungen durch Überfülle herabzudrücken fürchtete. Er hatte eine häßliche Frau, aber eine artige junge Nichte bei sich, die er sehr eingezogen hielt; er glaubte ihre Unschuld nicht zart genug bewahren zu können und erlaubte ihr kaum, unter Leute zu gehen, nur zu Reichardts allenfalls, wo die strenge Haltung seine Anforderungen befriedigte und seine Vorurteile sicher machte; das gute Mädchen hatte nicht einmal den Genuß, an dem reichlichen Hausbrunnen den jugendlichen Durst zu stillen, denn sie durfte keine Zeile von des Oheims Romanen lesen, die er wie das ärgste Gift ihr vorenthielt, mit dem er doch alle fremden Haushaltungen zu überschwemmen kein Bedenken trug – wenig schmeichelhaft in der Tat für das Publikum, das er ohne Umstände mit einer Labung abfand, deren geistige und moralische Verdaulichkeit er bei den Seinigen mehr als zweifelhaft verneinte! Er hatte in seinem artigen Landhaus und Garten, an der Saale, dicht vor dem Tore, durch die Plünderung hart gelitten, brauchte aber nur einen dritten Tag mehr in der Woche sich zum Schreiben zu gestatten, um hoffen zu dürfen, daß aller Verlust bald wieder eingebracht sein werde. Die vielen weichlichen Empfindungen und edlen Verhältnisse, welche er in seinen Romanen durcharbeitet und ausgelegt, waren bei ihm selbst, vielleicht eben wegen des steten Aufwandes und Verbrauchs, jetzt in geringem Vorrate zu spüren; er nahm alles ziemlich hart und plump und wollte die Zärtlichkeit für seinen Freund Sander, dessen traurige Gemütskrankheit ich ihm schilderte, nicht sonderlich aufkommen lassen. Als preußischer Patriot dagegen zeigte er seine Eigenheit in dem Bekenntnisse, daß er sich auch unwahre Siegesnachrichten mit Vergnügen erzählen lasse und bei dem bestimmten Vorauswissen, man lüge ihm was vor, seine Begierde, weiterzuhören, doch nicht geschwächt werde![208]

Durch den Fortgebrauch der Arzneien Erhards war meine Gesundheit allmählich gestärkt worden, ich griff das Leben und die Studien wieder mit heitern Kräften an. Mit stärkstem Willen warf ich mich auf die Arzneiwissenschaft und quälte mich mit dem Gründlichsten, mit der nie genug zu wiederholenden Betrachtung der Knochen, rechtschaffen ab; auch las ich medizinische Bücher mit fleißigem Bedacht. Aber wie streng ich auch wollte, die Sache ging schlecht vonstatten, sie fand in der Unmittelbarkeit der Gegenwart keinen fortwirkenden Antrieb, keine Genossenschaft und kaum die nötige Gelegenheit, denn auch der Bedarf an Büchern und andern Hülfsmitteln war nicht immer leicht herbeigeschafft. Die Studien allgemeiner Bildung dabei zu verabsäumen, hätte mir überdies ein Hochverrat geschienen, ich pflegte ihrer also nebenher, und schnell waren und blieben sie im Vorteil. Ich arbeitete mit größtem Fleiße den Homer durch, besonders zu wiederholten Malen die Ilias, wobei ich wiederum Wolfs Hefte und den Eustathios zu Hülfe nahm, suchte in den Platon einzudringen, in den griechischen teils, teils in den durch Schleiermacher verdeutschten, las mit Neumann zusammen, und deshalb mit erhöhtem Vergnügen, den Xenophon und war auch mit andern griechischen und lateinischen Autoren noch mannigfach beschäftigt. Das Anregendste und Ergiebigste aber waren unsre gemeinschaftlichen Unterhaltungen, wo Harscher, unter stets erneutem Zweifel und Gegenstreit, mit eigentümlicher und unerschöpflicher Dialektik uns alle Heer- und Schleichwege der philosophischen Forschung durchmachen ließ und wir die Lehren von Schleiermacher und Steffens, daneben Platons und Plotins aus entsprechendem Standpunkte, dann Schellings und Fichtes, im Hintergrunde ferner Kants, Leibnizens und Spinozas, in vielfachster Wendung betrachteten und handhabten, zu unsäglicher Geistesübung, wenn auch nicht zu sonstigem Stoffertrag.

Eine stets erneute Stärkung und Nahrung für diese Gespräche waren die Abende bei Schleiermacher, die regelmäßig[209] freitags wieder gehalten wurden und für die sich hoher Ernst und freie Laune wie Offenheit und feine Rücksicht zum schönsten Gleichmaße verbunden hatten. Schleiermacher war an solchen Abenden meist sehr liebenswürdig, seine Schärfe galt damals mehr den Gegenständen als den Personen, den Anwesenden nie; er sprach sinnig und angenehm über wissenschaftliche Dinge, besonders über die schwierigsten und anziehendsten ethischen Fragen, welche Harscher mit unermüdetem und gewandtem Eifer zur Sprache brachte; dabei wurden auch die politischen Nachrichten, zwar mit stärksten Wünschen und Hoffnungen für Preußen, doch im ganzen, besonders von Schleiermacher selbst, mit Umsicht und Billigkeit, ihrem Interesse gemäß aufgenommen und beurteilt.

Wir Jüngern saßen oft schon nachmittags in ernsten und lebhaften wissenschaftlichen Gesprächen zusammen, bis die Stunde heranrückte und wir zu Schleiermacher gingen, wo wir das heftig Durchgestrittene nun vor der leitenden Einsicht gleichsam in höherer Klasse nochmals ruhiger und feiner besprachen und schneller und entscheidender zu einem Ziele kamen; ja es geschah mitunter, daß wir am späten Schlusse des Schleiermacherschen Abends des Erörterns und Verhandelns noch nicht genug hatten, sondern, dort weggegangen, wieder bei mir einkehrten und noch bis in tiefe Nacht unsre arbeitende Geselligkeit fortsetzten, welche selten durch irgendeine Bewirtung, und niemals durch andre als die mäßigste, getragen wurde. Einmal blieben Harscher, Neumann und ich auf diese Weise nach dem Schleiermacherschen Abend auf meinem Zimmer die ganze Winternacht hindurch beisammen, und das Geräusch des wiederaufstehenden bürgerlichen Verkehrs und das graue Licht des späten Morgens fiel in unsre noch lebhaften Gespräche; ein heißer Kaffee nahm uns die Schauer der Überwachung leicht hinweg, erfrischt und gestärkt mochten wir jetzt nicht schlafen gehen, der Tag leuchtete heller auf den gefrornen Schnee, und so waren wir kurz entschlossen[210] und schritten frohen Mutes nach dem drei Meilen entlegnen Petersberge zu, bestiegen die Ruine, hielten in einer Bauernschenke mit Eiern unsre Mittagsmahlzeit und kehrten dann durch die anfangs noch sonnenglänzenden, später nur schnee- und sternenhellen, schweigenden Frostgebilde nach Halle zurück, mehr noch erregt als ermüdet durch die äußere und innere Bewegung, aber denn doch endlich des Schlafes bedürftig, den wir uns reichlich verdient hatten.

Wolf war uns in dieser Zeit weniger zugänglich, ausgenommen Bekkern, der seine Neigung wie sein Heil ganz auf ihn gestellt hatte und ihn fast jeden Tag sah. Wahrhaft vornehm in Studien und Leben, hielt Wolf sich mit Ernst und Witz den Zeitumständen stets überlegen.

Zwischen unsren geistigen Arbeiten und geselligen Scherzen drängte sich aber noch eine besondre Tätigkeit hervor, welche beide Elemente in ein gemeinsames Erzeugnis gestaltend vereinigte. Unsre Studien, Gespräche und Erholungen, wie reichhaltig und lebhaft sie auch sein mochten, blieben doch, ohne den Zuschuß der Vorlesungen, gleichsam verwaist, konnten kaum unsre Zeit ganz erfüllen, aber bei weitem nicht unsre Triebe und Kräfte, welche viel größere Ansprüche machten, als wir selbst befriedigen konnten. Daß wir in diesem Zustande die Dichter zu lesen nicht vergaßen, versteht sich von selbst, wir lebten ebensosehr mit den Gestalten ihrer Welt als mit denen der wirklichen. Da regte sich der Eifer eignen Hervorbringens, und durch Jean Paul Richters »Flegeljahre«, die uns wie alle Schriften dieses Autors sehr anzogen, gerieten Neumann und ich auf den Einfall, gemeinschaftlich einen Roman zu schreiben. Kein Plan wurde verabredet als der, die neueste Zeit und deutsche Verhältnisse zu behandeln, die äußere Gleichmäßigkeit zu beachten und mögliche Einheit zu suchen, im übrigen aber nach Kräften einander entgegenzuarbeiten. Ich schrieb flugs das erste Kapitel, Neumann ebenso rasch das zweite, so ging es mit dem dritten und den folgenden weiter, und wir hielten uns mit widerstreitenden Richtungen, mit störenden[211] Wendungen und absichtlich bereiteten Schwierigkeiten so treulich Wort, daß eine Reihe von mehr als zehn Kapiteln sich in größter Spannung und ganz besonderem, dieser Entstehungsart zu verdankendem Reize darstellte, wir uns aber auch so verfahren hatten, daß wir kaum noch hofften, ohne Gefährde des auch äußerlichsten Zusammenhangs weiterzukommen. Nun griff von Nennhausen her noch Fouqué, dem ich davon geschrieben hatte, als dritter Teilnehmer bereitwillig ein und löste durch ein hübsches Kapitel den Knoten, den er sofort aber wieder schürzte. Das auf diese Weise vermehrte Manuskript gab auch uns neuen Sporn, und so rückte der Roman, bei nicht grade regelmäßigem Wechsel der Ausarbeitung, endlich bis zu einem vollständigen ersten Bande vor, unter tausend geselligen Erheiterungen, die durch wiederholtes Vorlesen und Besprechen des Fertigen, durch eifriges Ersinnen des Künftigen, durch zahllose Anspielungen, Ironien, kleine Ränke und Frevel der Abfassung sowie durch hunderterlei Beziehungen des Tages, die sich an solche Tätigkeit anknüpften, für uns und unsern engern Kreis eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens wurden. Außerdem, daß wir uns selbst und andre lebende Personen, mehr oder minder deutlich und nicht grade geschmeichelt, darin abgebildet hatten, war dem Buche, hauptsächlich durch Neumanns Einfall und Talent, noch ein besondrer Gewinn der wirksamsten Figuren geworden. Gleich im zweiten Kapitel parodierte er vortrefflich des Geschichtschreibers Johann von Müller schwungvollen und knappen Stil, dann kam Jean Paul Richter in komischem Abbild, ich brachte ein solches von Johann Heinrich Voß in schwerfälligsten Hexametern aus, endlich ließen wir gar, die Wanderjahre Wilhelm Meisters vorwegnehmend, diesen Helden mit dem Markese umherreisen und gar üble Begegnisse erleben; später zogen wir die Vorfälle des letzten Krieges herbei, wo denn einige Deutschheit und einiges Preußentum mit einfloß; und wenigstens an gedrängter Fülle des mannigfachsten Inhalts und Interesses hat es diesem Buche[212] nicht gefehlt. Ich fürchte nicht, daß Freundschaft oder Eigenliebe mein Urteil hier bestechen, wenn ich sage, daß einige Partien des Buches, namentlich aber das Bruchstück aus Hans Striezelmeiers eigner Lebensbeschreibung in Johann von Müllers Manier und der Steckbrief Jean Paul Richters auf sich selbst, beides von Neumann, zu den köstlichsten Scherzen unsrer Literatur gehören und durchaus wert sind, erhalten zu werden.

Um hier gleich alles abzuschließen, was diesen Roman betrifft, so führ ich noch an, daß wir uns mit dem Manuskript noch lange herumtrugen, in Berlin manchen Kreis damit ergötzten, sogar Schleiermachern zum Bewunderer hatten, in Nennhausen bei Fouqué, in Friedersdorf bei Marwitz die größte Ehre einlegten und endlich das Ganze, wozu noch Fouqué ein paar Kapitel, Bernhardi eine Episode von Anekdoten beigetragen hatte, Harscher aber ein Kapitel über Musik, welches besonders gegen Reichardt gerichtet werden sollte, schuldig blieb und ein Beitrag von Chamisso zu spät kam, unserm Freunde Reimer unter dem Titel »Die Versuche und Hindernisse Karls« in Verlag gaben. Der Druck wurde erst gegen Ende des Jahres 1808 fertig, da im südlichen Deutschland schon ein neuer Krieg Österreichs gegen Frankreich bevorstand und im nördlichen allerlei Unruhen drohten; Reimer wagte nicht, seinen Namen als Verleger auf den Titel zu setzen noch das Buch gehörig anzeigen zu lassen, und so gewann dieses nicht den Schwung und machte nicht das Glück, wozu sonst, nach dem Inhalt und den Beziehungen, alle Hoffnung begründet gewesen wäre. Doch ging die Erscheinung nicht ohne einiges Aufsehen ab und wurde in manchen Kreisen lebhaft besprochen. August Wilhelm von Schlegel, dem ich das Buch nach Genf, wo er bei Frau von Staël lebte, zugeschickt hatte, glaubte mich den alleinigen Verfasser, und der berühmte Kritiker, der früher schon einmal die Prosa der Frau von Wolzogen für die von Goethe gehalten hatte, merkte nichts von der Verschiedenheit der Zeugstücke, die hier, und zum[213] Teil doch mit ziemlich groben Nähten, zusammengefügt waren!

Zwölf Jahre später, als mit den echten Wanderjahren Wilhelm Meisters zugleich die falschen erschienen waren, kam auch unser Doppelroman wieder zur Sprache. Unser Einfall, Wilhelm Meistern persönlich und gegen Goethe tadelnd auftreten zu lassen, war offenbar die Wurzel jenes berüchtigten Buches, und ich erlebte für meinen Anteil an der Ungebühr die gerechte Strafe, an vielen Orten, und auch in Weimar selbst, eine Zeitlang für den Verfasser der falschen Wanderjahre gehalten zu werden. Er hat nur seinen frühern Einfall weiter ausgeführt, dachte man und ließ meine sonstige Denkart, Richtung und, ich darf sagen, Fähigkeit, die alle dem schlechten, heuchlerisch-albernen Buche widerstritten, ganz außer Rechnung. In Hamburg war das Gerücht so allgemein verbreitet und so bestimmt geglaubt, daß ich mich zu einer öffentlichen Berichtigung gedrungen sah.

An einen zweiten Teil des Doppelromans war wohl gedacht worden; einiges lag sogar angefangen und mehreres war vorbereitet; allein Reisen und andrer Wechsel des Lebens hielten uns zuerst viele Jahre getrennt, und als Neumann und ich uns vom Jahre 1819 an wieder auf längere Zeit in Berlin vereinigt sahen und es uns artig dünkte, diese Jugendlustbarkeit wieder aufzunehmen, wobei Neumann schon vorschlug, nun der Zeit gemäß mit gleicher Keckheit die Schreibart von Jahn, Steffens und Adam Müller zu parodieren und die Ironie dadurch zu vollenden, daß auch Fouqué, der frühere Mitarbeiter, jetzt als tauglicher Stoff zum Inhalte des Romans verwendet würde, unterblieb doch jeder Versuch, da wir bald wahrnehmen konnten, wie uns die Jahre und Verhältnisse zwar nicht die Freude an dem Einfall verkümmerten, aber doch den zur Ausführung erforderlichen nachhaltigen Humor und Eifer sowie selbst die nötige Muße versagen durften.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 205-214.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon