Der Wiener Kongreß

1814–1815

[38] Nachdem ich meine Aufträge in Hamburg glücklich ausgeführt und darauf in Berlin mich verheiratet, mußte ich sogleich wieder in den Reisewagen steigen, um nach Wien zu eilen, wohin ich durch den preußischen Staatskanzler beschieden war. Ich mußte um so mehr eilen, als ich den Umweg über Frankfurt am Main zu machen hatte, wo der General von Tettenborn mich erwartete. Mit ihm und dem Freiherrn von Ompteda, der sich anschloß, reiste ich ungesäumt weiter und ohne Aufenthalt bis Wien, wo wir im Anfang des Oktobers eintrafen.

Meine Absicht kann hier nicht sein, eine Geschichte der Verhandlungen des Wiener Kongresses zu unternehmen; ein früher angekündigtes Vorhaben dieser Art mußte wegen der in unsern deutschen Verhältnissen unübersteiglichen Schwierigkeiten bald wieder aufgegeben werden. Auch zu einer vollständigen Schilderung der Zustände, zu einer durchgeführten Zeichnung der Personen würden mir zu viele[38] Farben und Striche versagt sein, die Unzulänglichkeit der eignen Anschauung und Hand noch gar nicht gerechnet. Aus dem Vorrate persönlicher Eindrücke, welche für jeden Beobachter nach Stellung und Anteil sich sehr verschieden darbieten und beschränken, kann ich nur diejenigen hier zusammenreihen, an denen das ehemals Heißverfängliche heute schon etwas abgekühlt ist, also nur Bruchstücke von Bruchstücken, zu deren Ergänzung mancherlei erfordert wird, von dem es noch dahinsteht, ob und wie es geschrieben oder das schon Geschriebene künftig eingetragen werden mag.


Ich hatte Wien oft und in günstigen Zeitpunkten gesehen, aber diesmal erkannte ich kaum die Stadt wieder. Die Volksmenge schien verdoppelt; Bewegung und Gedräng überall, und was für Bewegung und Gedräng! der höchsten, vornehmsten Gäste, der namhaftesten, ausgezeichnetsten Personen, aus allen Gegenden hieher zusammengeströmt, aus den gebildeten, ansehnlichen, reichen Klassen. Europa hatte den Glanz seiner Throne und Höfe, das Machtansehen seiner Staaten, die Spitze seiner politischen und militärischen Verherrlichung, die höchste Bildung seiner Geselligkeit, ja die reichsten Blüten aller Vornehmheit, Schönheit, der Kunst und des Geschmacks hieher geliefert, in dem Glück und Stolze des Sieges, in der Frische der Hoffnungen, des Eifers, meinetwegen auch des Wahnes, in der vollen Spannung allgemeinster sowohl als persönlichster Erwartungen. Und dies Gewühl fremden und neuen Lebens mischte sich zu dem heimischen und altgewohnten der Kaiserstadt, welche durch großweltliche Üppigkeit wie durch volkstümliche, durch Pracht und Behaglichkeit und durch die Macht ihres ganzen Eindrucks allem aus der Fremde Herangedrungenen doch überlegen blieb und ihre Sinnesart, Neigungen, Redeweise mit sanfter Gewalt unwiderstehlich mitteilte. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß der kaiserliche Hof für die große Anzahl seiner hohen Gäste mit ihrem mannigfachen, kaum übersehbaren Anhang und Gefolge die glänzendste[39] Aufnahme und reichste Bewirtung darbot; diese durch viele Monate gleichmäßig fortgeführte und nur etwa durch besondre Festlichkeiten unterbrochene Anordnung setzte durch den Umfang und die Gediegenheit der, wie es schien, ohne Anstrengung aufgebotenen Hülfsmittel in Erstaunen; doch hatten sich Fremde und Einheimische dies nach vorhandenen Maßen allenfalls vorstellen können. Was ich aber hervorheben muß, was man sich nicht genug vergegenwärtigen kann, wenn man es nicht durch Anschauung erlebt hat, ist die Atmosphäre des Wiener Lebens, das Element, in welchem hier die Tage hinschwimmen; die heitre, auf derben Genuß gerichtete Sinnlichkeit, die stark ansprechende Scherz- und Lachlust, die vergnügte, von Wohlbehagen genährte Gutmütigkeit, der schon halb italienische Müßiggang und die dazugehörige schon halb italienische Laune, die naive, ausdrucksvolle Mundart, so rundlich bequem hinzuwälzen und doch so leicht in scharfen Witz zuzuspitzen – diese Mundart, die etwas von ihrem Wesen jeder andern deutschen und auch der höchsten Sprachbildung unwiderstehlich mitteilt – und so viele andere Weisen und Gebilde dieses altbestehenden Phäakenlebens – alles dies gehört so eigentümlich zu dem Wiener Kongresse, zu dessen bestimmter Physiognomie, daß er ohne diese gar kein zuverlässiges, lebendiges Bild mehr liefert. Daß dieses Element bis in die politischen Verhandlungen und Beschlüsse unmittelbar eingedrungen und auch dort seine Spur nachzuweisen sei, möchte sich schwerlich behaupten lassen, da vor der diplomatischen Schärfe ohnehin keine volkstümliche Farbe so leicht unzersetzt besteht; aber mächtig gewirkt hat dieses Element sicher auf alle Personen, die darin geatmet, und also gewiß auch mittelbar auf die Geschäfte, welche von diesen Personen geführt worden, und vielleicht in dieser Hinsicht am bedeutendsten ist der Wiener Kongreß eben der Wiener!

In diesem Gewühl unterzukommen und Weg und Stätte zu finden war keine leichte Aufgabe. Für uns war glücklicherweise[40] gesorgt; der General hatte reichliche Wohnung in einem der besten Gasthöfe lange vorher bestellt, und auch hier, wie im Felde, war er für uns der Mittelpunkt eines erwünschten Zusammenlebens. Mir gereichte bald zum Vorteil, daß ich in Wien schon gewissermaßen heimisch war. Ich erneuerte die mannigfachen früheren Wiener Bekanntschaften, traf bei jedem Schritt unerwartet auf solche, die ich früher in andern Orten geknüpft hatte, und mußte neue eingehen, die sich nur zu reichlich darboten. Alles schwamm in Glanz und Festlichkeit, die der Geselligkeit eröffneten Häuser wetteiferten in Aufnahme und Bewirtung der Fremden. Natürlich gab es hier vielfache Abstufungen, es gab Kreise, wo nur die höchsten Personen untereinander verkehrten, andere, die mit der vornehmsten und reichsten Aristokratie streng abschlossen, dann wieder solche, wo diese sich mit der größern Gesellschaftswelt mischte, welche hinwieder auch, bei manchen Festlichkeiten allgemein oder bei besondern Anlässen einzeln begünstigt, in jene höchsten Säle Eintritt gewann.

Beim Fürsten von Ligne war großer Zudrang, den die engen Räume kaum fassen konnten. Der liebenswürdige Wirt war für seine Gäste wie immer an Geist ein Verschwender, und Scherz und Laune unterhielten ein beständiges Feuerwerk; doch wie anmutig und leicht der altfranzösische Witz auch die Gegenstände des Tages hin und her bewegte, man fühlte doch mitunter, daß die neueste Zeit eine ganz andere sei als jene alte und auf vielen Punkten schon unergreifbar weit von ihr sich geschieden habe. Auch empfand der heitere Greis nur allzu sehr, wie der Sinn und Anspruch der Jugend ohne ihre Kräfte eitel sei. Er, der in jeder Auszeichnung, des Krieges, der Galanterie und des Hofes, glänzende Anbeter und Günstling Katharinens der Großen, wie schien er berufen, jetzt ihren Enkel, den Kaiser Alexander, in gleicher Weise mit den Huldigungen der feinsten Schmeichelei, der angenehmsten Unterhaltung zu umgeben und im Schimmer dieser Sonne selber in neuem[41] Lichte zu strahlen! Eine gewisse Anziehung schien in der Tat vorhanden, allein die Helden so verschiedener Zeitalter konnten sich leichter wechselseitig anerkennen als vereinigen, und der treffliche Fürst von Ligne, der sich wie in Munterkeit so auch in Aufmerksamkeit und Dienst unermüdet erweisen wollte, mußte bald aufgeben, mit der jungen Welt Schritt zu halten. Von den höchsten Personen mehr vernachlässigt, als seine Jugenderinnerungen ihn erwarten ließen, erhielt er wenigstens daheim seiner scherzenden Laune die gewohnte Übermacht, spottete allerliebst und schickte die glücklichsten Witzworte aus, welche der großen Welt zur Erinnerung dienten, daß sein Geist annoch da sei. Man sah über diese Opposition hinweg, und seine Zimmer wurden nicht leer; ich sah Menschen des verschiedensten Schlages dort, die wohl öfters verwundert sein konnten, sich zusammen zu sehen. Indes ließen andere Anziehungen mich nach ein paar Besuchen diesen französischen Kreis vernachlässigen, wo meine eigentliche Weide doch nicht sein konnte.

Entsprechender meinem Sinn und Verhältnis war das Haus der liebenswürdigen und feinen Gräfin von Fuchs, deren ich schon bei früheren Jahren erwähnt habe und die fast im Ernste den scherzhaften Namen »Königin« führte, wie denn dergleichen Koterienamen stärkere Lebenskraft in Wien haben als an irgend andern Orten. Sie beherrschte durch den Zauber ihres Wesens ein weites Reich von Untertanen, die mit seltner Treue an ihr hingen und in deren Zahl zu gehören auch mir zum Verdienst und Vorteil gerechnet wurde. Die größten Auszeichnungen der Wiener vornehmen Welt fanden sich hier in traulicher Weise zusammen, in doch großer Mischung, wodurch der Reiz des Umgangs nur erhöht wurde. Prinz Philipp von Hessen-Homburg, Gentz, die Fürsten Esterházy und Liechtenstein, die Grafen Neipperg und Wallmoden, dazu die kurländischen Prinzessinnen mögen beispielsweise genannt sein. Auch hier aber veränderte die Kongreßzeit manches, und[42] der freundliche deutsche Ton ging in einen spitzern französischen über, schon dadurch, daß der Prinz Eugen Beauharnais, Napoleons Stiefsohn und gewesener Vizekönig von Italien, sich beinahe täglich einfand und manchen Anhang mit sich zog. Diese Beimischung, wie artig und merkwürdig in manchem Betracht, verwandelte den ursprünglichen Stoff nicht günstig, und das frühere Behagen war allerdings vermindert. Überhaupt drückte das Gewicht der zahlreichen hohen und mächtigen Fremden doch zuletzt alle Wiener Gesellschaft mehr oder weniger aus ihren Fugen, und mancher ältere Teilnehmer sehnte sich nach der Zeit, wo dieser erhöhte Glanz wieder erloschen sein würde. In diesem Betreff machte vielleicht nur grade das Haus eine Ausnahme, wo sie am wenigsten schien stattfinden zu können. Es war dasjenige, dem die Gräfin Julie Zichy, geborne Gräfin Festetics, als Frau und Wirtin vorstand und wo die höchsten Monarchen gern in engerem Kreise zum Besuch erschienen. In dem reinsten Adel der Weiblichkeit strahlte hier die größte Schönheit, der Ausdruck der Unschuld und Tugend in aller Fülle der Weltbildung. Die Gegenwart der höchsten Gäste schloß natürlich andere aus; doch konnte die herrliche Erscheinung bei vielen Anlässen auch der allgemeinen Bewunderung sich nicht entziehen, und der äußere Anblick schon bestätigte jeden vernommenen Ruf der innern Vortrefflichkeit. Als wenige Jahre später, noch in voller Jugendblüte, dieses Leben gebrochen wurde, schien der Bildner, der die Scheidende in der Gestalt eines der Erde entschwebenden Engels darstellte, auch hierin nur eine schlichte Wahrheit auszudrücken. Über dieses kurze, aber schöne und reiche Leben ist ein brieflicher Aufsatz Friedrichs von Schlegel vorhanden, der künftig vielleicht ans Licht treten wird. Die Herzogin von Sagan bildete wie immer den Mittelpunkt eines lebensvollen Kreises, der diesmal durch Vornehmheit und Bedeutung noch gesteigert war. Das einnehmende, so mild gütige als schwungvoll kräftige Wesen dieser schönen Dame wirkte mit siegender Macht, und es[43] schien nur von ihr abzuhängen, auf große Entscheidungen Einfluß zu gewinnen. Daß sie dergleichen Ehrgeiz, bei solcher Befähigung dazu, nicht hegte, sondern gern und leicht auf das den Frauen eigenste Gebiet sich beschränken mochte, erhöhte nur den Reiz ihrer Liebenswürdigkeit.

Viele angesehene schöne und vortreffliche Damen wären, teils als Wirtinnen, teils als Gäste, noch zu nennen, könnte hier die Absicht sein, alle gesellschaftlichen Zierden dieser großen Kongreßwelt auch nur zu nennen. Unter den fremden Bedeutendheiten glänzte die Fürstin von Thurn und Taxis, geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz, welche durch die Gesichtszüge wie durch Anmut und Wohlwollen des Benehmens an ihre Schwester, die herrliche, leider vor dem siegreichen Umschwunge der Dinge noch inmitten der Trübsal dahingeschiedene Königin Luise von Preußen, erinnerte. Durch kraftvolle Haltung und eingreifende Klugheit zeichnete sich die Fürstin von Fürstenberg aus, um welche sich die bedrängten, durch den Rheinbund zu Untertanen herabgedrückten fürstlichen und gräflichen Standesgenossen zu Rat und Tat versammelten; ferner die Fürstin Esterházy, geborene Prinzessin von Taxis, die Fürstin von Solms-Lich nebst ihren Schwestern, die dänische Gesandtin Gräfin von Bernstorff und noch viele andere, die zum Teil auch schon anderwärts genannt und gepriesen worden. Die Preußen vermißten die Frau von Humboldt, welche bis kurz vor dem Kongresse in Wien ein paar Jahre hindurch eine erwünschte, so heitere als geistvolle Geselligkeit gebildet hatte. Die russische Fürstin Bagration, durch längeren Aufenthalt und Lebensverhältnisse in Wien halb einheimisch, durch Schönheit und Aufwand einst in erster Reihe vorangehend, durfte auch jetzt noch darin dem Wetteifer nicht entsagen.

Als eine Schönheit ersten Ranges mußte man die Frau von Geymüller anerkennen. Sie war die angebetete Gattin eines der reichsten Bankiers und hatte das ihrer begünstigten Lage, zu der sie doch nicht erzogen war, entsprechendste Talent, mit aller Fülle des Dargebotenen frei und großartig[44] zu schalten, sich selbst aber nicht davon bedingen zu lassen. Wie Calderón in der »Tochter der Luft« die Semiramis darstellt, war damals, weil die Übersetzung von Gries noch fehlte, in Deutschland kaum bekannt; doch wurde Frau von Geymüller in Wien öfters mit diesem Namen bezeichnet, der wohl einige Seiten ihres Wesens ausdrücken konnte, das im ganzen mehr Bewunderung als Neigung zu erwecken schien.

Das durch allseitige Gastfreiheit ausgezeichnetste und für Fremde wie Einheimische bequemste Haus war ohne Frage das Arnsteinsche, wo die Baronin Fanny von Arnstein die unermüdete, lebensprühende, alle Verhältnisse umfassende und zweckmäßig fortbildende Wirtin machte. Im allgemeinen habe ich zu dem, was schon an anderm Orte über diese unvergleichliche Frau gesagt worden, nichts hinzuzusetzen; besondere Einzelheiten anzumerken wird in der Folge noch öfters Anlaß sein, da ein nicht geringer Teil der Strömungen und Wirbel der Kongreßwelt hier sein Bette fand oder grub und die höchsten Mitglieder der Diplomatie, Kardinal Consalvi, Fürst von Hardenberg, Herzog von Wellington, Marquez Marialva usw., hier mit andern Elementen der Gesellschaft in eine Art von Gleichheit zusammenflossen.

Der Frau von Arnstein stand ihre Schwester, Baronin von Eskeles, in vornehmer und eleganter Haushaltung wo nicht gleich, doch sehr nahe, nur war der Zuschnitt ein ganz andrer. Auch hier traf man die angesehensten Diplomaten, für welche nicht nur die gütige und feine Wirtin, sondern auch der überaus kluge, in Finanz- und Handelssachen mit schärfster Einsicht begabte Hausherr große Anziehung hatte. Ich habe den Grafen Kapodistrias dort öfters von reizender Unterhaltung, den Grafen Pozzo di Borgo ganze Abende hindurch von überfließender Beredsamkeit gesehen.

Der Gesellschaftssäle waren unendlich viele eröffnet, sie alle zu besuchen, hätte auch der ausgemachteste und müßigste Visitenheld nicht unternehmen können. Die alte[45] Erfahrung jedoch bewährte sich auch diesmal, daß nicht immer das Glänzende und Berühmte das in seiner Art Gute oder auch nur das Gute ist. Kreise zweiter und dritter Ordnung vereinigten oft in reichen Maßen, was die der ersten bisweilen kärglich oder gar nicht darboten, wenigstens eigneten Geist, Geschmack, Güte und Liebenswürdigkeit keiner bestimmten Klasse. Einen etwas literarischen Anstrich bei der als Schriftstellerin geschätzten Frau von Pichler, musikalisches und überhaupt künstlerisches Streben bei untergeordneten Dilettanten ließen sich zur Abwechselung auch solche Personen gefallen, deren Ansprüche sonst hoch hinausgingen. Im allgemeinen nötigte ein Zustand, wo alles so sehr emporgeschraubt war, auch wieder zur Herabstimmung.

Dem Fürsten von Metternich in dieser Zeit nur gelegentlich und wie im Fluge zu nahen war schon Gunst genug, und ich bewunderte nur stets, wie auch solche Augenblicke immer seine ungemeine Freundlichkeit und seinen unbefangenen Gleichmut zeigten, als wären keine Staatssorgen in der Welt. Auch der Feldmarschall Fürst von Schwarzenberg, den die biedere Gutmütigkeit eines deutschen Kriegshelden für jeden Bekannten immer zugänglich machte, war doch größtenteils in den obersten Kreisen abgeschlossen. Gleiches galt, in mancherlei Abstufung, von den Fürsten Moritz und Aloys von Liechtenstein, dem Grafen von Neipperg und vielen andern dieses Ranges, mit denen ich in früheren Zeiten und Verhältnissen mehr oder minder nah zusammengelebt hatte.

Daß ich aber den Grafen zu Bentheim hier wiederfand und bald auch den ihm durch Zuneigung verbundenen österreichischen Hauptmann Friedrich Wilhelm Meyern, meinen einstigen Stubengenossen in Prag, gewährte mir einen steten und sichern Anhalt täglich erneuter Erinnerung und das wohltuende Gefühl, als dauerten neben meinen neuen auch die früheren mir wahrlich teuern und dankenswerten Verhältnisse ununterbrochen fort.[46]

Nachdem ich den Fürsten von Hardenberg bald nach meiner Ankunft umständlich gesprochen, war mein preußisches Dienstverhältnis gleich entschieden; ich sollte meine diplomatische Laufbahn bei der Gesandtschaft in Wien beginnen, vorerst aber in den Geschäften arbeiten, die mir der Fürst persönlich auftragen würde. In der Tat sandte er mir alsbald einen mächtigen Stoß von Eingaben und Verhandlungen aus dem Kreise der deutschen Angelegenheiten; ich sollte diese Sachen übersichtlich zusammenstellen, ihm Vortrag darüber halten und nach Maßgabe der möglichen Entscheidung sie erledigen. Indes konnte ich dabei nicht lange verweilen, und nachdem der preußische Gesandte von Stuttgart, Geheime Staatsrat Küster, angelangt war, wurde ihm dieser ganze Schwall zugewiesen, mir aber eine Arbeit übertragen, auf die der Staatskanzler das größte Gewicht legte und die meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Die Sache betraf die preußische Erwerbung von Sachsen, welche zwar früher festgestellt worden war, jetzt aber von mehreren Seiten hart angefochten wurde und immer schwerer und bedenklicher zu werden drohte. Auf die Meinung vermittelst der Presse zu wirken schien von äußerster Wichtigkeit, zumal die Gegner dieses Mittel mit großem Erfolg anwandten; freilich hatte schon auch auf preußischer Seite in jener Sache der »Rheinische Merkur« gute Dienste getan, auch hatte der Fürst bereits durch den Staatsrat Hoffmann eine Schrift ausarbeiten lassen, die unter dem Titel »Preußen und Sachsen« eben im Druck fertig wurde, und eine andere sollte von dem Geheimen Staatsrat Niebuhr in Berlin herausgegeben werden; allein dies alles genügte nicht, die Hoffmannsche Staatsschrift war allzu statistisch, trocken und ohne alle überredende Kraft; von der Niebuhrschen erwartete der Fürst ohnehin manches Schiefe und zu Scharfe, und so wünschte er, neben diesen Versuchen noch einen dritten, seinen eigensten Sinn in gemäßigter und frischer Sprache vorgetragen zu sehen. Sehr schmeichelhaft eröffnete er mir, daß, wenn er mich zu dieser[47] Arbeit berufe, es hauptsächlich auf Mahnung des Ministers vom Stein geschehe, der darauf dringe, daß keine andere als meine Feder hier angewandt werde. Der Gegenstand erforderte eine völlige Einweihung in den Stand der politischen Angelegenheiten, und diese wurde mir nicht nur von seiten Hardenbergs ohne Rückhalt, sondern auch von seiten Steins vollständig erteilt, von letzterm freilich ganz in seiner Weise, unter Ausdrücken, die kein andrer sich erlauben durfte, mit heftigen Ausschüttungen, die für die Sache nichts nutzen konnten, im Gegenteil kamen für diese oft nur die schwächsten Hülfsmittel vor, wie er denn zum Beispiel der Hinweisung auf Grotius und Pufendorf und deren Behauptung eines Rechts der Eroberung die unwiderstehlichste Beweiskraft beilegen wollte, da hier doch zumeist ganz andere Gründe und Bedingungen gelten mußten. In völlig entgegengesetzter Weise beschied mich Hardenberg; nach zweistündigem Gespräch war mir der Gegenstand zur klarsten Deutlichkeit aufgehellt, der Kern der Sache mit allen Umhüllungen und Beziehungen vollkommen eingesehen, und ich brauchte die sofort begonnene Ausarbeitung durch keine weitere Anfrage, durch keine Bitte um bestimmtere Anleitung zu unterbrechen.


Inzwischen war auch Rahel, meinem dringenden Wunsch und wiederholten Begehren nach, endlich von Berlin aufgebrochen und gegen Ende des Oktobers glücklich in Wien angelangt. Sie hatte mit Recht die Schwierigkeit des Unterkommens und den allgemeinen Zudrang gefürchtet, denn eine schon gemietete überteure Wohnung wurde uns widerrechtlich vorenthalten, und während ich noch im Gasthofe blieb, wo keine Zimmer mehr zu haben waren, fand sich für Rahel nur eine Zuflucht im Savoyischen Damenstift durch die Güte der Vorsteherin, Gräfin von Dietrichstein. Schnell aber war auch dieser beschränkte Raum behaglich eingerichtet, und die lebendige Seelen- und Geistesfrische ließ die Mängel der Umgebung kaum bemerken. Ich wenigstens[48] vermißte nichts, und als wir nach einiger Zeit in leidliche gemeinsame Wohnung zogen und nun wirklich beisammen wohnten, hätte ich gern eingewilligt, für immer so zu bleiben; die alte Versicherung von der Hütte, welche sich dem befriedigten Herzen zum Palast verwandle, hatte sich mir überreich verwirklicht! Nun fühlt ich ein heimisches Glück, und die fremde große Welt wurde mir täglich fremder, wie ich denn auch anfing, sie mehr und mehr zu vernachlässigen. Durch ernste Arbeit beschäftigt, durch die erwünschte Nähe beglückt, empfand ich kein Bedürfnis der Zerstreuung, und Neugier und Ehrgeiz lockten mich immer seltner, dem glänzenden Scheine nachzugehen, der ohnehin meist nur täuschte.

Ungeachtet der zahlreichen großen Geselligkeitsmächte, welche in Palästen hausten und zu deren Mittags- und Abendglanze sich Willkommene und Unwillkommene drängten, war doch das Verlangen, sich noch um andre, von jenen verschiedene Mittelpunkte zu versammeln, so groß und allgemein, daß auch der unscheinbarste Raum hiezu genügte, und das Bedürfnis der Herzlichkeit, des Zutrauens und des freisinnigen Geistes überbot nicht selten die Ansprüche der Pracht und Üppigkeit. So wurden alsbald außer den einheimischen stillern Kreisen manche fremde bemerkbar, wo sich, wie in den höchsten, Unterhaltung und Geschäfte förderten und von denen vielerlei ausging, was seinen dunklen Ursprung hernach verleugnete. So hatte Doktor Cotta mit seiner Frau, man kann sagen, fast nur ein Zelt aufgeschlagen, so eng und flüchtig war alles bestellt, allein dieses Zelt war eine Mitte vieler Verknüpfungen. Cotta war nach Wien gekommen, um in Gemeinschaft mit Bertuch aus Weimar die Sache des deutschen Buchhandels zu vertreten und allgemeine Abhülfe gegen den Nachdruck zu erlangen. Allein unter dieser bescheidenen Hülle bargen sich viele andere Aufträge und Betreibungen, der württembergischen Landstände, der deutschen Sachen überhaupt; und zahllose Mahnungen, Einreden, Verständigungen fanden durch ihn,[49] mittelst der ihm gehörigen »Allgemeinen Zeitung« in Augsburg und des durch seinen Unternehmungsgeist auch in Hamburg erworbenen »Deutschen Beobachters«, gleichsam eine öffentliche Rednerbühne. Daß er hiebei nach verschiedenen Seiten gefällig sein mußte, hinderte ihn nicht, im ganzen doch immer seiner eigensten Meinung und der von ihm gewählten Seite das Übergewicht zu erhalten. Persönlich stand er mit den größten Staatsmännern, ja, mit gekrönten Häuptern in vertraulichem Verkehr, und seine Verschwiegenheit und Klugheit sowie die überall hinreichenden Hülfsmittel seiner literarischen Geschäftsverbindung machten ihn zu dem sichersten und geschicktesten Träger mancher so wichtigen als zarten Anliegen. Unglaublich ist es, in welcher Schlichtheit und Verleugnung dieser angesehene und auch bedeutend reiche Mann sich unscheinbar zu Fuß durchdrängte, alles selbst tat, keinen Gang sich verdrießen ließ, kein Wetter scheute und in allen oft kleinlichen Einzelheiten, die er besorgte, doch immer den Blick frei und kühn auf das Große und Ganze gerichtet hielt.

Bei dem allgemeinen Drängen und Suchen der Menschen nach Zufluchtsorten, wo häuslicher Herd und Tisch zum Ausruhen von den Staatssachen und zugleich zum freieren Besprechen derselben einlud, konnte es nicht fehlen, daß bald auch Rahel unwillkürlich die Mitte einer lebhaften Geselligkeit geworden war. Diese war jedoch mit keiner andern zu vergleichen und sowohl in ihrer Richtung als in ihrer Zusammensetzung von eigenster Art. Hier wurde nichts vertreten und bezweckt als das allgemeine Menschliche und die freieste Betrachtung desselben. Damit ergab sich von selbst, daß ohne Ansehen der Person nur das Maß des Willens und der Fähigkeit, sich in jenem Elemente zu bewegen, den Anteil an demselben entschied. Stand und Namen und selbst Volksangehörigkeit durften wenig in Betracht kommen. Personen des höchsten und gar keines Ranges standen hier auf gleichem Boden. Waren die preußischen Freunde dennoch am zahlreichsten und vertrautesten, so[50] fand dies gewiß weniger statt, weil sie die Landsleute, als weil sie die preußischen und somit ohne Frage die in freier Geistesbahn am meisten vorgeschrittenen waren. Außer diesen und allen andern Arten von Deutschen waren insbesondere Österreicher, sodann Franzosen und Italiener, Russen und auch wohl ein paar Engländer in verschiedener Abstufung und Dauer hier bald einheimisch. Die Gespräche wurden oft, und dann gegen den Willen der Wirtin, zu strengen Verhandlungen, und glückliche Ausdrücke, wohlgesetzte Gründe, überraschende Wendungen von daher klangen dann an solchen Orten wider, wo sie Gewicht erhalten konnten, oder tauchten unerwartet aus Tagesblättern hervor.


Es ist aber Zeit, von den mancherlei Nebengewässern sich dem großen Strome wieder zuzuwenden. Wenn wir bisher unsere Erzählung immer nur wie einleitend umhergeführt und noch auf keine rechte Bahn gekommen sind, so geht es uns hierin nur wie dem Kongresse selber, der auch nicht so schnell in die Mitte der Sachen gelangen konnte, sondern sich in Vorworten mühsam heranarbeitete. Der Kongreß war im Pariser Frieden auf den 1. August festgesetzt, aber bald nachher, hauptsächlich aus Berücksichtigung englischer Verhältnisse, um zwei Monate hinausgeschoben worden und sollte nun vom 1. Oktober an als wirklich eröffnet gelten. Aber dem Wesen und der Form nach fehlte hieran noch viel. Schon am 8. Oktober war eine Erklärung in den Zeitungen erschienen, wonach der Anfang der eigentlichen Verhandlungen auf den 1. November angesetzt wurde, bis wohin die schwebenden Fragen durch freie und vertrauliche Erörterungen zur nötigen Reife gebracht werden sollten. Am 1. November aber kam eine neue Erklärung, welche statt des Beginns der Verhandlungen wenigstens die Prüfung der Vollmachten als begonnen verkündigte. Während diejenigen, von welchen das Handeln ausgehen sollte, sich der Schwierigkeiten, denen sie begegneten, zu entledigen strebten,[51] konnte die Stockung auch den Zuschauern schon nicht verhehlt werden.

Die Schwierigkeiten lagen aber tief in der Sache begründet, nicht in dem Willen oder den Fähigkeiten der Personen. Wenn man auf ältere Kongresse zurückblickt, auf die Hindernisse, welche durch bloße Förmlichkeiten verursacht wurden und mit denen zum Beispiel in Münster und Osnabrück, in Nimwegen, Utrecht usw. unendliche Zeit verloren wurde, so muß man gestehen, daß der Wiener Kongreß sich bei dergleichen Nebendingen verhältnismäßig wenig aufgehalten, sondern sie mit freisinniger Übereinkunft teils rasch erledigt, teils vorläufig beseitigt hat. Allein ganz konnte die herkömmliche Weise, in der die Höfe und Staaten bisher untereinander verkehrt hatten, doch nicht umgangen werden, und dieselben Formen, welche so lange Zeit nicht ohne Grund in diplomatischen Geschäften bequem gewesen, mußten auch in ihrer Unbequemlichkeit geduldet bleiben. Nichts wäre kürzer gewesen, als daß die vier großen Mächte, welche den Kriegsbund gegen Napoleon geführt, untereinander einig ihren Willen ausgesprochen und zum Gesetz erhoben hätten. Die Übereinstimmung hätte nicht gefehlt, sie brauchte nicht erst gegründet, sondern nur gegen Andrang und Beimischung von außen bewahrt zu werden. Allein jene Mächte durften sich nicht befugt glauben, nachdem sie eben das Joch gebieterischer Gewaltherrschaft, das auf Europa gelastet, zerschlagen, diesem ein neues aufzulegen, und ihre Mitverbündeten würden dasselbe nicht willig angenommen haben. Auch konnte der Wille jener Mächte hinsichtlich einer Menge von Fragen, von denen sie selbst nur mittelbar berührt wurden, nicht unbedingt schon entschieden haben; es galt hier die Ansprüche zu wägen, das Rechte zu erkennen, das Angemessene zu finden. Also Beratung überhaupt, Mitwirkung für die höher Beteiligten, für die Untersten wenigstens Gehör konnten nicht versagt werden. Hier aber für einen so noch nie dagewesenen Fall Form und Maß zu ermitteln, das war keine geringe Aufgabe[52] und auch deren Lösung durch ein bloßes Gebot nicht möglich.

Als nächste diplomatische Anknüpfung für den Kongreß galt der Pariser Friede, und die acht Mächte, welche diesen unterzeichnet hatten oder ihm beigetreten waren, standen in erster Reihe. Aber durch Zutritt und Stimme konnte hier keine Gleichberechtigung erlangt werden, jeder Hof trat mit dem eigentümlichen Gewicht seiner Macht, seiner Lage und Verhältnisse ein; dieser wesentliche Unterschied konnte durch Stimmenmehrheit so wenig als durch Selbstverleugnung aufgehoben werden, und es war undenkbar, daß die unangreifbare Größe Rußlands nur gerade soviel gelten sollte als Schweden oder daß Spanien, verheert und erschöpft, das siegskräftige England aufwöge. Dazu kam noch der Übelstand, daß Staaten, welche an Umfang und Kraft, vielleicht auch sogar an Verdienst um die gemeinsame Sache, wenigstens gleichberechtigt schienen, in der Zahl jener acht Mächte doch nicht begriffen waren. So Dänemark, die Niederlande, Sardinien, der Papst, für welche doch grade die Stimmung sehr günstig wirkte und vorzugsweise sorgte. Die deutschen Angelegenheiten, welche, noch ungeordnet, in jenem obersten Rate nur durch Österreich und Preußen mitvertreten waren, sollten erst wieder zu einem Ganzen emporgebildet werden. Hier tummelten sich die streitendsten Ansprüche, die vielartigsten, verwickeltsten Forderungen. Um nur erst festen Boden zu gewinnen, bemächtigten sich die fünf Höfe von Wien, Berlin, München, Hannover und Stuttgart der Beratung, von der sich aber die mittlern Staaten und zuletzt auch die kleinsten nicht gutwillig ausgeschlossen sahen und zu der die Mediatisierten und einstige Körperschaften sich eifrig andrängten.

Die höheren politischen Fragen von allgemeiner Wichtigkeit wurden in hergebrachter diplomatischer Weise größtenteils durch Notenwechsel zwischen den Großmächten allein verhandelt; die Gegenstände, welche mit jenen Lebensfragen nicht notwendig zusammenhingen und teils bestimmte[53] Länder, teils einzelne Klassen, teils auch durchgreifende Allgemeinheiten betrafen, waren an besondere Ausschüsse von Bevollmächtigten, zumeist der großen Höfe, gewiesen, wo die Geschäfte durch Sitzungen und Protokolle geführt wurden. Außer den deutschen Gebiets- und Verfassungsfragen standen deren auch für andre Länder manche höchst wichtige zur Entscheidung, und neben den Ausschüssen hiefür waren noch andere für die Abschaffung des Negerhandels und für die Zähmung der afrikanischen Seeräuber aufgestellt.

Kam auf solche Weise die Einleitung und Verteilung der Arbeiten endlich zustande, so fehlte doch viel, daß dies gleich von Anfang vollständig gelungen wäre und daß der eingeschlagene Gang von allen Seiten die nötige Förderung erfahren hätte. Allem andern zuvor mußten die politischen Fragen in betreff des künftigen Besitzstandes der großen Mächte unter diesen abgemacht sein; diese Grundlage schien bereits festgelegt, allein bei näherem Eingehen fanden sich manche Stellen noch unsicher, andere wurden erst jetzt wankend. Die Häupter der Kabinette, welche bisher die Sachen geführt, wußten recht gut, was sie im einzelnen wollten und im ganzen wünschten, und die besondern Bestimmungen, die sie teils als Gesamtheit gegenüber von Frankreich sich ausbedungen, teils unter sich vorher schon getroffen hatten oder nachträglich festsetzten, ließen ihre Ansprüche und Erwartungen deutlich genug hervortreten. Tatsächliche Überlegenheit wird in der Welt unter allen Um ständen anerkannt, und wo das Recht der Mindermächtigen, und schon ihr Vorteil sogar, von der Macht, wie hier unleugbar der Fall, beachtet und mitvertreten sind, da findet sich eine in der Natur der Dinge begründete Unterordnung von selbst. Dies war auch das allgemeine Gefühl in betreff des Kongresses, und den vier Hauptmächten, sofern sie einig waren, mochte niemand eine Art von Diktatur bestreiten. Ohne Zweifel wäre es für Europa und insbesondere für Deutschland vorteilhaft gewesen, wenn alle Entscheidungen[54] lediglich in jener höheren Region, ohne die trübende Einmischung beschränkter, von unten emporsteigender Eifersuchten und kleinlicher Betriebsamkeiten, hätten gefaßt werden können, und der Widerspruch würde unerheblich geblieben und bald verstummt sein. Jedoch fiel die Sache weit anders aus. Innerhalb der Machtverbindung wurden Trennungslinien sichtbar, die sich durch hinzutretendes Einwirken leicht in Zwiespalt vertiefen ließen. Es fehlte nicht an solchem Einwirken, wodurch bald Macht gegen Macht stand, und anstatt einer freien, reichen Darbietung ein mißtrauisch berechnetes und doch gerade dadurch verkümmertes Ergebnis davongetragen wurde.

Zweierlei Einflüsse sind in solchem Betreff hauptsächlich hier anzuführen. Bei uns Deutschen hatten sich in der öffentlichen Meinung die außerordentlichsten und teilweise seltsamsten Erwartungen mit dem verheißenen Kongresse verknüpft. Die Deutschen waren allerdings in einem besondern Zustande, wie keine der andern Nationen, mit denen sie verbündet den Sieg errungen hatten. Rußland und England, Schweden, desgleichen auch Preußen und Österreich standen da in alter fester Gestalt und brauchten die Früchte des Sieges nur an sich zu ziehen und in das Bestehende aufzunehmen. Polen und Italien, schon längst ohne Selbständigkeit und auch von Napoleon nur mit einem Scheine derselben betört oder gereizt, folgten dem Lose der Eroberung, wobei sie nicht wesentlich zu verlieren schienen. Spanien, Portugal, Dänemark standen, wenn auch erschüttert, auf altem Boden. Die Niederlande erfreuten sich eines gewonnenen neuen Bestandes, die Schweiz ihrer teilweisen Erneuung und allseitig ausgesprochenen Sicherheit. In Deutschland war alles zersetzt, das Aufgelöste zum Teil wieder neu gebunden, zum Teil preisgegeben und verloren. Die Franzosenherrschaft hatte hier am stärksten und nachhaltigsten, aber nicht gleichmäßig eingewirkt, sondern nach den Zeiten und Gegenständen sehr verschieden; alle Wechselgebilde der letzten dreißig Jahre waren hier geschichtlich[55] abgelagert und nebeneinander wiederzufinden, eine Verwirrung von Zuständen, die in der größten Abweichung voneinander nur darin übereinkamen, daß allenthalben die alten Verhältnisse zerstört, die neuen nicht abgeschlossen und Recht, Unterdrückung, Sieg, Verdienst, Vorteil und Verlust wunderlich gemischt waren. Die Zwischenzeit, während welcher das Fremde geherrscht, hatte zu lange gedauert und zu vielerlei Eigengebildetes entstehen lassen, als daß man sie und ihre Gebilde geradezu für nicht gewesen erklären konnte, und wo dieser Versuch gleichwohl gemacht wurde, da brachte er nur Verwirrung und Beschämung hervor. Das Alte ungeteilt herzustellen war im allgemeinen unmöglich und daher im einzelnen ebenfalls, sofern dieses der Anknüpfung an ein Ganzes, worin früher ein so großer Wert gelegen, jetzt entbehren mußte. Wenn Kaiser und Reich nicht wieder auflebten, so konnten es auch die ehemaligen Reichsstände und Reichsverhältnisse nicht, weil jene höchsten Bedingungen eines solchen Daseins fehlten. Soviel des Neuen hatte man in die Verbündung, als der Sieg noch nicht entschieden war, aufgenommen, so wirksam hatte es Anteil an ihm genommen und war durch ihn eben auch selbst miterstarkt, daß hier sowohl das erworbene Recht als auch die wirkliche Macht eine rücksichtsvolle Ausgleichung auferlegten. Aber die großen Regierungen wollten auch jene Wiederherstellung des Alten nicht, weil ihr eigner Vorteil dagegen war.

Legte sich dem vorbereiteten politischen Entwickelungsgange dieses Gewicht deutscher Verhältnisse und Bedürfnisse drückend auf und mischte sich von daher ein neues, in noch ungestalter Kraft unberechenbares, volktümliches Element in die Verhandlungen, welche schon kein rein diplomatisches Geschäft mehr darstellten, sondern auch gleichsam staatsgerichtliche und fast parlamentarische Vorgänge in sich aufnehmen mußten, so drang von anderer Seite ein politischer Einfluß heran, der ebenfalls in unerwartet begünstigtem Anwachsen die bisherigen Berechnungen[56] verwirrte und bedrohte. Dies war der Einfluß des wiederhergestellten Frankreichs. Allerdings hätten früherhin die Sieger alle Macht und Befugnis gehabt, dem besiegten Frankreich den Zutritt zu Verhandlungen zu versagen, welche gleichsam der letzte Abschluß derjenigen Ereignisse und Bestimmungen sein sollten, durch die, ohne Frankreich und gegen Frankreich, dieses selbst erst wieder in seiner jetzigen Gestalt erstanden war. In der Tat konnte es unbillig dünken und gefährlich sogar, dieses noch gärende und in vieler Hinsicht dem übrigen Europa fortwährend feindliche Frankreich in die Gemeinschaft der bevorstehenden Staatenberatung als gleichberechtigtes Mitglied unbedingt aufzunehmen; allein die Aufrichtigkeit der Versöhnung schien diesen Beweis des Vertrauens gewähren zu müssen, das wiedereingesetzte bourbonische Herrscherhaus durfte ihn dringend fordern, und nicht die Großmut der Gesinnungen allein, sondern auch wichtige Gründe der Staatsklugheit hatten für die Zulassung entscheiden müssen; denn es war allerdings von großer Bedeutung, den neuen Festsetzungen, welche die Grundlage des künftigen politischen Bestandes von Europa werden sollten, den Anteil und die Mitverpflichtung eines Staates nicht fehlen zu lassen, der seiner Lage und Beschaffenheit nach unfehlbar binnen kurzem wieder in die Reihe der großen Mächte zu treten berufen war. Blieben auf jeder Seite dieses Wechselfalles Schwierigkeiten, die sich nicht beseitigen ließen, so folgt daraus nicht, daß sie nicht bedacht worden wären, wie denn überhaupt Vorsicht und Erwägung in denjenigen Dingen, welche für die Kabinette selbst wichtig waren, diesen wohl selten gefehlt haben. Aber dem Anteil und Einfluß Frankreichs mochte man in keinem Falle den Umfang voraussetzen, zu welchem er sich in der Tat bald erhob. Hierin wiederum war der Aufschub des Kongresses besonders verhängnisvoll. Die kurze Zwischenzeit, der Verlauf desselben Sommers, welcher die Heere der Verbündeten sich trennen und in die zum Teil weite Heimat zurückkehren sah, war vollkommen hinreichend,[57] die lebhaften, durch Schmach und Hoffnung im Innern aufgereizten Franzosen als ein nach außen unter der neuen Herrschaft wieder ziemlich vereintes und zum Kriege starkes Volk aufzustellen. Wäre der Kongreß, wie es anfangs be stimmt war, einige Monate früher begonnen und rasch zum Schlusse geführt worden, so würde Frankreich aller Wahrscheinlichkeit nach keine bedeutende Rolle haben spielen können noch wollen und seine Teilnahme mehr eine formale geblieben sein. War aber einmal Raum zur Vorbereitung und Entwickelung gegeben, so fiel aller Gewinn auf die Seite derjenigen Kräfte, die sich in Deutschland und Frankreich dem vorausgezeichneten Gang und Zwecke des Kongresses wachsend entgegenwälzten, während die zwischen den Mächten bestehenden Verabredungen in demselben Maße an Einigkeit und Festigkeit nur verlieren konnten. Doch dürfen wir, wenn wir billig sein wollen, auch wegen dieses verhängnisvollen Aufschubes nur die Sache selbst und die Gesamtheit der Leitenden, nicht aber einzelne beschuldigen, deren keiner diese Zögerungen in seiner Gewalt hatte, wenn auch, was zu bezweifeln, deren Folgen so klar, als sie nachher zu übersehen waren, vorgelegen hätten, außerdem daß diese auf mancher Seite auch erwünscht oder doch weniger zu fürchten sein konnten.


Während aber die Geschäfte stockten oder ihren Anfang noch unsichtbar zu spinnen hatten, war der Weltschauplatz erfüllt von regem Leben, und in raschem Wechsel drängten sich Gestalten und Ereignisse. Die Anwesenheit der größten Herrscher, so vieler königlichen und fürstlichen Häupter, der höchsten Frauen, umgeben von der Blüte der vornehmsten Geschlechter aller Länder, rief in täglich wiederkehrenden Anlässen alle Pracht und Üppigkeit der Kaiserstadt zu erneuerter Bewegung auf. Feste folgten auf Feste, die Schau- und Tanzlust erhielt volle Befriedigung. Treffend scherzte der alte Fürst von Ligne: »Le Congrès danse bien, mais il ne marche pas!«, und das glückliche Wort flog schnell durch[58] ganz Wien, ja, durch Europa, zum Ergötzen auch derer, die es treffen konnte; denn wo ein Allgemeines krankt, fühlt sich der einzelne kaum noch verantwortlich.

Das moderne Fest ist wesentlich militärisch; der frühere kirchliche, der später höfische Charakter öffentlichen Prunkes ist ganz in den militärischen übergegangen, welcher am verständlichsten zu der Menge spricht und ihr durch Ernst und Tüchtigkeit noch am meisten Ehrfurcht gebietet. Das Fest im Prater am 18. Oktober zur Feier der Schlacht von Leipzig war in diesem Betracht eines der allgemeinsten, prunkvollsten und würdigsten. Die Kriegsfürsten und die geringsten Krieger hielten zusammen gemeinschaftlich Mahl, und alles Volk nahm teil an dem großen Anblick. Sechzehntausend Mann wurden unter freiem Himmel gespeist, der die Festlichkeit durch das schönste Wetter begünstigte, und das Wiener Volk setzte den Freudenrausch fort bis tief in die Nacht hinein. Die Einigkeit der großen Herrscher schien bei diesem Gedächtnisse des gemeinsamen Sieges aufs neue sich zu verbürgen. Gleichen Eindruck empfing die öffentliche Meinung von der sechs Tage darauf gemeinsam von den Monarchen unternommenen Lustreise nach Pest, wiewohl diese auch schon zu mancherlei eifersüchtigen Bemerkungen Anlaß gab.

An Glanz und Geschmack ragte besonders ein von dem Fürsten von Metternich gegebenes Fest hervor, wo die große Welt alles, was ihrer durch Schönheit und Auszeichnung würdig schien, herangezogen hatte. Das Fest blieb lange Zeit für die Teilnehmer der Gipfel aller prächtigen Erscheinung, und weit und breit wurde davon gesprochen. Ein zweites Fest, dessen Pracht und Herrlichkeit alles überstieg, was man bis dahin gesehen hatte, war ein Karussell in der wunderbar ausgeschmückten und erleuchteten Reitbahn, wobei besonders die österreichischen Kavaliere durch Prunk und Gewandtheit die Bilder einer fabelhaften Ritterzeit hervorriefen.[59]

In einer andern, minder hohen, aber allgemein anziehenden und beschäftigenden Sphäre, in der des Theaters nämlich, erwarb die mimische Tänzerin Bigottini den größten Beifall und Ruhm. Von ihrer Darstellung der Nina war der ganze Kongreß entzückt, und wiewohl Kenner manches an ihrer Kunst zu tadeln und sie namentlich mit der einst bewunderten Vigano nicht zu vergleichen fanden, so durften sie gegen die übermächtige herrscherliche Bewunderung kaum laut werden. Unter den einheimischen Talenten glänzte vor allen die großartige Sängerin Anna Milder und war des tiefsten, allgemeinsten Eindrucks immer gewiß. Da hier des Theaters gedacht ist, so muß ich auch der Gastrollen der ausgezeichneten Künstlerin Auguste Brede gedenken, die durch ihr feines gebildetes Spiel den schönsten Beifall gewann. Späterhin betrat die gewaltige Sophie Schröder die Bühne und setzte besonders die Ausländer in Erstaunen, die solche Wirkungen bisher nur dem französischen Theater möglich geglaubt hatten.

Nicht bloß der Abend, fast jede Tageszeit hatte ihre besondere Schaulust. Frühmorgens zogen die Truppen zu Paraden und Kriegsübungen aus, wobei sehr oft die Monarchen selbst in zahlreicher Begleitung erschienen und durch ihre Beeiferung gern einen Stand und ein Fach ehrten, dem sie ganz persönlich angehören wollten. Die Mittagszeit bot häufig die auserlesensten Musikaufführungen, worin von jeher Wien durch die außerordentlichsten Hülfsmittel sowie durch wahre Liebe und großartige Pflege der Kunst sich hervortat. Solange das Wetter günstig blieb, war die Bastei der allgemeine Versammlungsort zum Spazierengehen. Ganz Wien und der ganze Kongreß flossen hier in bunter Mischung durcheinander, und man konnte die Bastei eine diplomatische Börse nennen, wo auch die Geschäfte gar nicht zur Sprache kamen. Nur Gentz und Humboldt, bemerkte man, wurden niemals dort gesehen, worin man etwas Bezeichnendes finden wollte. Dagegen versuchte der badische Forstjunker von Drais in diesem bunten Gedränge seine[60] fußgetriebenen Wagen und seine damals neu erfundenen Draisinen, welche der Großherzog von Weimar »die fahrende Ritterschaft unserer Tage« nannte und in denen der Doktor Jassoy deutliche Sinnbilder der Kongreßbewegung sehen wollte.


Doch so ausschließlich heiter und ergötzlich konnte nicht alles hergehen, daß nicht auch Verdruß und Unheil sich eingedrängt hätten, wozu immer den Menschen, nach Maßgabe ihrer Menge und Verhältnisse, eine Zahl von Losen ausgeteilt ist.

Der Fürst von Ligne, der anfangs nur leicht erkrankt schien, aber scherzend verhieß, er werde dem Kongresse, der sich in Schauspielen aller Art schon ersättigt, nun doch noch ein neues bereiten, nämlich das Leichenbegängnis eines österreichischen Feldmarschalls, machte den Scherz nur allzu schnell wahr und schied aus einer Welt, die er lange belebt und erfreut hatte, zuletzt aber doch nicht ganz mehr als die seinige erkannte, sosehr er sie auch durch Laune und Fügsamkeit noch sich anzueignen strebte. Sein Verlust wurde aufrichtig betrauert, und viele bereuten, die letzten Strahlen dieser Geistessonne nicht eifriger aufgesucht zu haben. Mit ihrem Verlöschen war in der Tat ein ganzes Zeitalter hinabgesunken, dem wohl hin und wieder noch ein Zeuge, aber nun kaum ein Vertreter noch übrig war.


Den Hauptstamm des Kongresses bildeten die Mächte, welche den Pariser Frieden unterzeichnet hatten, nächst ihnen waren für die Anordnung der deutschen Sachen die deutschen Regierungen zur Teilnahme berufen, außerdem aber auch alle sonstigen politischen und selbst privaten Ansprüche, die hier Erledigung hoffen durften, zu Gehör verstattet. Die persönliche Gegenwart der Machthaber schien ein großer Vorteil, sowohl für diese selbst als für die Verhandlungen, welche dadurch manchen Zweifeln und Weitläufigkeiten entrückt werden konnten. Doch hatten nicht alle[61] Monarchen sich eingefunden, sondern einige der wichtigsten bloß ihre Bevollmächtigten gesandt, die nun ihrerseits versucht waren, den Vorteil, welchen den andern Bevollmächtigten die Anwesenheit ihrer Machtgeber verlieh, durch den entgegengesetzten aufzuwiegen, der sich nicht selten aus der Entfernung derselben ziehen ließ. Aber den Vorteil der persönlichen Gegenwart beschränkten auch andre, im Charakter der anwesenden Fürsten begründete und deshalb unverrückbare Umstände.

Der Kaiser Franz stand allgemein in dem Rufe eines schlichten, gutmütigen, wenig unterrichteten, aber klarsehenden und mit launigem Mutterwitze begabten Mannes, der aufrichtig das Wohl seiner Völker wünsche, starr und fest an Recht und Gesetz halte, übrigens aber seinen Sinn, besonders in politischen Sachen, dem Rat und der Leitung der damit Beauftragten gern unterordne. Seine schmächtige, fast kümmerliche Gestalt, sein unbeholfenes und doch zwangloses Benehmen, seine für jedermann freundliche Offenheit und besonders seine ungezierte volksmäßige Mundart und Sprachweise hatten ihm bei dem Volk eine zärtliche Teilnahme und herzliche Zuneigung gewonnen, die durch die wiederholten Unglücksfälle sich zu begeisterter Liebe steigerte, besonders dem Feinde gegenüber, dem man auf solche Weise noch trotzen konnte. Aber die Hülle dieses Charakters hegte einen Kern ganz andrer Art! Franz, ein geborner Italiener und unter Italienern aufgewachsen, hatte nur den Schein deutscher Gutmütigkeit und Bescheidenheit, den er doch mit kluger Benutzung der dargebotenen Hülfsmittel lange zu behaupten wußte; im Hintergrunde hegte er ganz andre Eigenschaften. Er war eigensüchtig, verschmitzt und arglistig, voll Eifersucht auf seine Macht, mißtrauisch gegen seine Nächsten, gehässig und rachsüchtig gegen alles, was ihn unangenehm berührte, daher ein Feind alles Ausgezeichneten, Selbständigen, ein geborner Gönner alles Mittelmäßigen und Geringen; zu kurzsichtig und unsicher, um eigne Entschlüsse zu fassen, zu schwach und feig,[62] um bei den gefaßten zu beharren und sie auszuführen, fühlte er stets die Qual, fremden Einflüssen unterworfen zu sein, und hegte die Neigung, dies auch an denen zu rächen, die ihm am treusten und erfolgreichsten dienten. Mit großer Selbstverleugnung strebten seine Leiter stets, ihm den Anschein der Kraft und des Mutes zu erhalten, die ihm gänzlich fehlten; besonders wandte der Fürst von Metternich, hierin auch für sich selber ein Gebot der Klugheit erfüllend, den größten Ernst und Eifer an, dem Kaiser den Ruhm und die Ehre jedes Erfolges zuzuschreiben, und daß ihm dies in einer Art gelang, die den Kaiser konnte glauben lassen, es sei aufrichtig gemeint, trug gewiß nicht wenig dazu bei, die seltne Amtsdauer eines Ministers zu bewirken, der zu diesem Herrn in keiner Weise zu passen schien. Metternich war ohnehin jetzt durch den Gang der Dinge getragen, der hingegen die früheren Einflüsse gelähmt hatte; die geistvolle Kaiserin – dritte Gemahlin des Kaisers, dem für seine Sinnlichkeit stets die Ehe am bequemsten war – fühlte sich durch vergeblichen Kampf und Kränklichkeit erschöpft, die Erzherzoge standen beseitigt, andre Gegner waren wenig zu fürchten, und so hatte Metternich allerdings in den Hauptsachen jetzt unbestritten das Heft in Händen. Damals war fast die ganze Welt über den Charakter des Kaisers getäuscht; doch gab es in Österreich eine nicht kleine Zahl von Personen, die ihn vollkommen einsahen, unter andern Gentz, der auch scharfe Umrisse zu seiner Zeichnung niedergeschrieben hat. Später ist die öffentliche Meinung durch die in den langen Regierungsjahren sichtbarer gewordene Sinnesart des Kaisers und durch manche unerwartete Enthüllungen sehr von der günstigen Vorstellungsweise zurückgekommen.

Ganz verschieden verhielt es sich mit dem Kaiser Alexander. Für ihn bestand kein erlogener Schimmer, keine durch Zufall und Absicht erwirkte falsche Schätzung; man wußte ziemlich genau, was man ihm zuzurechnen und was man von ihm zu erwarten habe. Von ursprünglich edlen und[63] wohlwollenden Regungen erfüllt, zu menschenfreundlichem Freisinn erzogen, hatte er in unglücklichen Familienverhältnissen zwar frühzeitig die Kunst der Verstellung lernen und üben sowie manches düstre Unglück erfahren müssen; aber je mehr er in Jahren und Erfolgen fortschritt, desto mehr entschlug er sich den Angewöhnungen aus jener Zeit, und wieweit seine Geistes- und Willensfähigkeiten gingen, lag der Welt ziemlich offen. Was früher in ihm romantisch gewesen war, ritterlich und galant, das hatte sich, nach Erschöpfung sinnlichen Genusses, in eine fromme Richtung geworfen, die doch der galanten noch nicht alle Nebenwege verschloß. Seine Taubheit abgerechnet, war er eine wohlgefällige Erscheinung, durch Geistesbildung und Redefeinheit ausgezeichnet, für Beifall sehr empfänglich; die persönliche gesellige Geltung war ihm fast wichtiger als die politische. Doch unterzog er sich den Aufgaben seiner Stellung mit Eifer und Gewandtheit. Er entschied und bestimmte vieles unmittelbar nach eignem Antrieb und Gutdünken; er wußte seine Vorteile wie die Schwächen der Gegner schlau zu handhaben, und sein Willen und Benehmen kamen bei allen Unterhandlungen allerdings in Betracht. Aber die russische Staatskunst hatte damals sehr einfache Aufgaben, sie lagen durch die Natur der Dinge gebieterisch vorgezeichnet, und Alexander brauchte, um vor- und durchzudringen, nur die Kräfte wirken zu lassen, die schon im Gange waren. Ihm schmeichelte wohl, sich als den Lenker der Staatssachen zu denken, und er versuchte später noch mancherlei, um als Schöpfer darin aufzutreten, indes ist er wohl selbst von seiner Zulänglichkeit nie überzeugt gewesen, und das Gefühl des Mißlingens hat später seine Tage abkürzen helfen.

In dem Könige von Preußen ist ein gerechter und gemäßigter Sinn von jeher mit Recht geschätzt worden; er mißtraute leicht sich selber und folgte gern der Einsicht und dem Entschlusse anderer, wenn er deren Fähigkeit einmal anerkannt hatte; doch behielt er sich stets Aufsicht und Tadel vor und wußte alles, was zu frei und kühn sich aufschwang,[64] herabzustimmen und zu beschränken. Trocken, verdrießlich und schweigsam, gewann er doch durch Wohlmeinung und Güte, die auch in jenen Formen sich auszudrücken verstanden, die Herzen leicht. Aber die Enge seines Gesichtskreises, sein Hang zum Kleinen und Gewöhnlichen, seine Bedenklichkeit und Hinzögerung im Entschließen machten es sehr schwierig, Staatsgeschäfte, und besonders so außerordentliche, wie der Kongreß sie auferlegte, mit ihm zu bearbeiten. Auch fing schon damals, nach den großen Kriegserfolgen, das früher schlummernde Selbstgefühl, König und Herr zu sein, stärker sich zu regen an, ohne doch die solchem Selbstgefühl entsprechende Willens- und Tatkraft aufzuwecken. Trotz alles Lobes, das diesem Fürsten reichlich gezollt worden und das er großenteils in Wahrheit verdient, wird die Geschichte nicht unterlassen können, auch gewichtige Stimmen anzuführen, die seine persönliche Regierungsweise großer Schwachheit und Kleinmütigkeit zeihen und selbst seiner gepriesenen Gerechtigkeit den Flecken des Wortbruchs und der Fahrlässigkeit nachweisen, daß er seinem Volke die versprochene Verfassung vorenthalten und Tausende seiner Untertanen dem Haß und der Willkür verfolgungssüchtiger Behörden und augendienerischer dummer Beamten preisgegeben, wobei er sich mit dem Scheine rechtlichen Verfahrens beruhigt und nicht einmal wahrgenommen habe, daß sogar dieser oft fehlte!

Diese Monarchen, welche bisher, obwohl Alexander und Friedrich Wilhelm persönlichen Mut hinreichend dargetan, in den Kriegssachen die Oberleitung nicht geführt hatten, führten dieselbe jetzt ebensowenig in den politischen Verhandlungen, sie überließen deren Richtung dem allgemeinen Drange der in Staat und Volk eben wirksamen Ansprüche und Forderungen, und der Gang blieb den Ansichten und Geschicklichkeiten der Staatsmänner anheimgegeben, in deren Händen die Geschäfte gerade lagen. Der politische Teil des Kongresses war daher von dem Einflusse jener Persönlichkeiten nur wenig bedingt, keine drückte den Ergebnissen[65] das Gepräge eines bestimmten Charakters auf. Aber ganz ohne Wirkung blieben sie auch nicht, sie mußten immerfort berücksichtigt und bearbeitet werden, und so gab sich denn ihre Gegenwart besonders durch Hemmungen und Schwierigkeiten kund. Sie hatten zum Fördern keine Kraft, aber zum Hindern und Stören waren sie stark genug, da ihr herrscherliches Ansehn doch nie bloßzustellen und ihr gelegentliches Meinen durch offnen Widerspruch nicht aufzuheben war.

Von deutschen Fürsten sind noch die Könige von Bayern und Württemberg zu erwähnen, dann der Großherzog von Baden, der Herzog von Weimar. Der König Max Joseph von Bayern galt als ein guter Gesell, der mit jedermann in behaglicher Laune verkehrte und Stand und Würde nur zu haben schien, um sie abzulegen, wodurch er den Vornehmen oft Ärgernis gab; in Staatssachen hatte er keine Stimme noch Meinung, er folgte, überzeugt oder nicht, den Anstößen, die er empfing. Dagegen war der König Friedrich von Württemberg nicht ohne politischen Blick und Willen, aber seine Hoffart und Gewaltsamkeit, seine Laster und Tücken hatten ihn bei Hohen und Niedern verhaßt gemacht, wie denn auch die Überfülle seines plumpen Leibes jedermann widrig sein mußte; er versuchte trotzig aufzutreten, sah aber bald, daß er nichts vermochte, und eilte nach Hause, wo seine aufgeregten Untertanen ihm zu schaffen machten. Der Großherzog von Baden galt für dumm und schlecht, war aber beides nicht, sondern trug nur die Folgen eines Geschickes, welches auf seiner Jugend gelastet und seine reichen Anlagen erstickt oder gelähmt hatte; sein entkräftetes Wollen wirkte nur als Nichttun, und hierdurch konnte er sogar einige Wirksamkeit auf die deutschen Verhandlungen ausüben! Eine selbsttätige Wirksamkeit auszuüben, war gewiß der Herzog von Weimar berufen, seine Verhältnisse und persönliche Geltung konnten nicht günstiger sein; doch im Gedränge so vieler Mächtigern mußte sein politisches Gewicht sich in der Bedeutung halten, welche sein Land ihm gab.[66]

An der Spitze des Kongresses, wenn wir die Monarchen selbst, wie billig, außerhalb der diplomatischen Kategorie lassen, stand unleugbar der Fürst von Metternich; in ihm erkannte man schon im voraus den Präsidenten dieser hohen Versammlung, die ihn auch bald ausdrücklich dazu erwählte. Da Österreich gleichsam den Wirt machte, die Eingeladenen bei ihm zu Gaste und in Obhut waren, so vereinigte der Minister dieses Staates mit dem vollwichtigen Ansehn, das ihm als solchem überall inwohnen mußte, das ihm auch in Paris und London nicht hätte fehlen können, und mit der ohnehin wirksamsten Geltung der bedeutenden Persönlichkeit zugleich allen Vorzug und Einfluß, den das Zuhausesein, das Zugebotestehen der ganzen Örtlichkeit, mit einem Worte, das Recht des Wirtes, hier unberechenbar gewährte.

Die persönliche Bedeutung des Fürsten zeigte sich schon in dem merkwürdigen Umstande, daß ihm, dessen Vorrang alle andere Bevollmächtigte anerkannten, auch der Kaiser Alexander, der von den Monarchen am meisten persönlich in politische Verhandlung einging, für solchen Fall kaum noch als ein Höherer gegenüberstand, sondern der russische Kaiser und der österreichische Minister als zwei gleiche Kämpfer auf demselben Boden geraume Zeit um den Preis des Sieges rangen. Anfangs schien das Verhältnis als ein durchaus günstiges und hätte als einträchtiges unwiderstehlich alle andern Verhältnisse des Kongresses beherrschen müssen; allein es erfolgten Abweichungen, Verstimmungen und endlich völlige Entzweiung, wobei doch der gute Grund unerschüttert blieb, auf welchem die achtungsvolle Anerkennung nie verlorenging und späterhin rückhaltloses Vertrauen sich wieder erzeugen konnte.

Für Österreich war an zweiter Stelle der Freiherr von Wessenberg. Er gehörte zu den unterrichteten, hellsinnigen, arbeitsamen Männern, von denen die Geschäfte stets gefördert werden. Die Selbständigkeit seines Wollens hemmte jedoch seinen Einfluß in manchen Regionen, wo nur durch Anschmiegen vorgerückt werden kann; der Verstand, der[67] sich nicht unterordnet, ist bald unbequem und wird allmählich zur Seite gedrängt.

Die den Umständen entsprechendste und dadurch wichtigste und brauchbarste Tätigkeit war ohne Zweifel in Gentz vorhanden. Der österreichische Hofrat stand sichtbar weit über diesem äußern Rang und genoß eines europäischen Ruhmes und Ansehens. Seine Stellung in den österreichischen Staatsgeschäften gab ihm schon Bedeutung genug, aber als Führer des Protokolls der Kongreßberatungen, als Mitglied so mancher Ausschüsse und Kommissionen, als kundiger Berater und lichtvoller Darsteller wurde er nach allen Seiten auch den höchsten Personen wichtig, und die ersten Staatsmänner gingen mit ihm auf dem Fuße der Gleichheit um. Damals konnte kein Zweifel aufkommen, wer Gentz sei und was es mit ihm auf sich habe; die Beteiligten wußten es nur zu gut und suchten die Früchte seines Geistes und seines Talents für sich zu ernten. Er vermochte vielerlei Ansichten zu erfassen, mannigfache Interessen dialektisch zu vertreten, und sein Gespräch wurde durch seinen Reichtum belehrend für Freund und Feind; aber wo es bestimmte Fragen galt, wirkliche Festsetzungen von unmittelbarer Anwendung, da verleugnete sich seine glänzende Beweglichkeit, und wer ihn europäisch oder englisch oder vorzugsweise deutsch oder auch etwa von alters her noch etwas preußisch wünschte, der fand ihn zunächst und hauptsächlich doch nur österreichisch. Dafür mußte er viel Mißwollen und Gehässigkeit von seiten derer leiden, deren eigenwilligen Erwartungen er nicht entsprach. Daß er einer der wichtigsten, tätigsten und geschicktesten Männer auf dem Kongreß gewesen, bezeugt auch ausdrücklich Herr von Gagern, der mit ihm unmittelbar zu verhandeln hatte. Humboldt rühmte von ihm, daß unter seinen Händen nichts ungeschickt bliebe und daß immer, wo er eingriff, die Sachen eine angemessene, haltbare Gestalt bekämen.

Wenn hier das Bild Friedrichs von Schlegel sich anreiht, so ist es keine diplomatische Tätigkeit – deren er gar keine[68] hatte –, sondern andere Bedeutung, in der sein Name mit dem von Gentz mag verbunden werden. Er war, gleich diesem, ein norddeutscher Gelehrter, ein ausgezeichneter Schriftsteller, durch mancherlei Geschicke in den österreichischen Staatsdienst gekommen. Als beide Männer noch in Berlin zusammenlebten, haßten sie einander, und besonders war damals der schon antirevolutionär gesinnte Gentz dem noch heftig die republikanische Freiheit anstrebenden Schlegel ein Gegenstand tiefsten Abscheus. Jetzt aber verehrte Schlegel nicht nur die politische Denkart des ehemaligen Gegners und suchte ihn darin noch zu überbieten, sondern er mußte in ihm persönlich auch eine Art Vorgesetzten anerkennen, dessen Gunst und Billigung er nicht entbehren durfte. Gentz war ohne allen Rachsinn, sah nur auf den jetzigen guten Willen und glaubte, daß wenigstens der Name des Mannes von Nutzen sein könnte, dessen Dienste ihm doch sehr zweifelhaft schienen, ja, dessen Gesinnungen er noch mit einigem Mißtrauen betrachtete. Denn Schlegel war katholisch geworden, während Gentz immer protestantisch geblieben war und nur der politischen Seite Österreichs angehörte, wogegen jener die katholische Seite vorzugsweise ergriffen hatte und es nicht verhehlen konnte, daß in den häufigen Fällen, wo die Sache des Staates und die der Kirche sich trennten, er ohne Frage der letztern zu folgen vorziehe. Aber in Wien wollte man auch an die Aufrichtigkeit seiner katholischen Überzeugung wenig glauben, und der fremde Neubekehrte war seinen neuen Staats- und Kirchengenossen vielfach verdächtig, ein bloß ehrgeiziger Heuchler zu sein. Die unzweifelhafte Hochachtung nur, welche hochstehende Gebildete dem geistvollen Schriftsteller zu bezeigen fortfuhren, und die Bürgschaft, welche darin gleichsam für die Wahrheit und den Ernst seiner neuen Richtung lag, halfen einen Namen aufrechterhalten, dem jede Erinnerung an die berüchtigte »Lucinde« doch immer wieder einen Flecken anhing. Besonders war in jener Hinsicht für Schlegel Wilhelm von Humboldt von Wichtigkeit, der als preußischer[69] Gesandter mit seinem ganzen Ansehen ihn stützte. Auch er hatte, wie Gentz, ihm aus früherer Zeit mancherlei zu verzeihen und tat es mit heiterer Großmut. Im Schlegelschen »Athenäum« waren demjenigen, der beweisen könne, Ramdohrs »Charis« gelesen zu haben, die »Ästhetischen Versuche« Humboldts als Belohnung zugesagt worden; häufig wurde des bittern Scherzes noch jetzt gedacht, nur Humboldt wollte ihn vergessen haben. Zum Unglück war auch Herr von Ramdohr jetzt, als preußischer Diplomat und Hardenbergs Landsmann und Bekannter, ein bedeutenderer Mann geworden, als der Schriftsteller je hätte werden können. Die ganze Vergangenheit lastete auf Schlegel als ein Ungemach, und es hatte etwas Belustigendes, wie er die jetzt öfters unvermutet auf ihn fallenden Rückschläge seiner früheren Unarten halb trotzig, halb weinerlich hinnahm. In eigentlichen Geschäften wurde er nicht gebraucht, hatte aber soeben die Aufmerksamkeit durch sein dem Fürsten von Metternich gewidmetes Buch über alte und neue Literatur auf sich gezogen, ein ausgezeichnetes, geist- und kenntnisreiches Werk, welches für das Haupterzeugnis seines Lebens gelten kann und dessen Ruhm und Erfolg nur durch die unheimliche Beimischung verkümmert wurde, die ein in sich ganz herber und nur im Ausdrucke noch schüchterner Glaubenseifer dazu geliefert hat. Durch sein Denken und Sprechen, besonders auch über so viele vaterländische Gegenstände, mußte Schlegel im Getriebe so lebhafter Verhandlungen, wo alles Deutsche so ernstlich in Frage kam, auch ohne unmittelbar geschäftliche Teilnahme doch immer Einfluß erlangen. Er und seine geistvolle, wohlwollendeifrige Frau hatten einen großen Kreis; alles was irgendwie den Bereich der weitverbreiteten und in Kunst und Literatur immer entschiedner herrschenden romantisch-mittelalterlichen Bildung berührte, alles was mit deutschen Gefühlen anknüpfen wollte und doch auf mittlern Stufen verweilen mußte sowie auch mancher feurige Sinn, der sich der höchsten Blüte des Orients, den damals noch neuen, von[70] Schlegel eingeführten Sanskritstudien zuwenden mochte, ganz besonders aber alles der katholischen Kirche Angehörige, fand oder suchte hier einen Anhalt. Manche diplomatische Personen ließen hier gern sich belehren und beraten, wenn sie auch selten den Rat gebrauchen konnten; die Anwalte der deutschen katholischen Kirche nährten ihre Hoffnungen hier, und selbst der vom Papste zum Kongreß abgesandte Kardinal Consalvi benutzte die ihm dargebotene Willfährigkeit zu mancherlei Erkundigungen und Arbeiten. Doch fand der kluge Italiener, dem es für das Heil der Kirche oft mehr auf weltliche Einsicht als auf geistlichen Eifer ankam, bald viel ersprießlichere Dienste in dem zwar akatholischen, aber sich ihm ganz widmenden Freunde Bartholdy, der schon als preußischer Generalkonsul für Italien bezeichnet war und daher das ihm wichtigste Verhältnis fleißigst anbaute. Für Schlegel war dieser Vorzug, der einem sonst von ihm, auch bei eingetretener Verwandtschaft, fast übersehenen Mann gegeben wurde, ein wahrer Schmerz, und er klagte mit Bitterkeit, daß die katholische Kirche sich selber nicht in dem Sinne vertreten wolle, der nach seiner Überzeugung der einzig rechte sei; eine Klage, die sich ihm auch in betreff Österreichs wiederholte, denn gerade diejenigen Ansichten, welche er sich als wesentlich österreichische einredete, konnte er am wenigsten geltend machen, und so fand er auch eher bei den fremdesten Staatsmännern Gehör als bei den österreichischen, wie denn schon Gentz die Träume von mittelalterlichen Herstellungen als die unbrauchbarsten Hirngespinste verwarf und der Fürst von Metternich für dergleichen Grübeleien in seinem von drängenden Lebensfragen erfüllten Tagewerke kaum eine Mußestunde haben konnte.

Später kam aus Tirol, wo er an den Verwaltungsgeschäften teilgenommen, Adam von Müller nach Wien und stellte sich als Mittelglied zwischen Gentz und Schlegel. Jenem gehörte er durch alte Freundschaft und Verehrung sowie insbesondere als Schüler im Staatswesen an; mit diesem verband[71] ihn der Übertritt zum katholischen Glauben und der Eifer für denselben. Er hatte nicht die Geschäftskunde von Gentz, aber so große Leichtigkeit und Gewandtheit, daß er sich in alles hineinarbeiten konnte, und seine schriftstellerische Beredsamkeit schien in manchen Fällen die des Meisters sogar zu übertreffen. Er war überzeugt, dieser habe ihn aus Eifersucht solange von Wien entfernt gehalten und werde ihn auch jetzt nicht dort lassen, sondern ihm lieber eine vorteilhafte Anstellung anderswo verschaffen, wie sich auch in der Folge als richtig erwies, indem für Müller das österreichische Generalkonsulat in Sachsen errichtet wurde. Vorher genoß er eine Zeitlang der persönlichen Nähe und ausgezeichneten Gunst des Fürsten von Metternich, der gewiß erkannte, daß höchstens in Müller einigermaßen für Gentz ein Ersatz als möglich zu denken sei. Müller hatte jedoch die Schwäche, daß fremde und ihm entgegenstehende Meinungen ihn heftig beunruhigten, und in seiner Nähe sie zu dulden wurde ihm zur größten Pein, weshalb er alle Mittel aufbot, die Menschen, mit denen er lebte, zu bereden, zu bekehren. In diesem Bemühen, und um Vertrauen durch Vertrauen zu gewinnen, teilte er alles mit, was er irgend wußte und dachte, und nicht nur seine eignen Geheimnisse, sondern auch die, welche er von Gentz und Schlegel wußte. Sein Freund Wiesel, dessen weltlichem Verstande er staunend einst gehuldigt hatte, jetzt aber in religiösen Dingen gern die katholische Gläubigkeit aufgeredet hätte, benutzte diese Schwäche und pumpte nach Belieben alles aus ihm heraus, was die innerste Heimlichkeit, Hoffnung, Kühnheit oder Besorgnis der Partei war, womit er dann seinen Hohn trieb und den Freund zärtlich zu lieben dadurch beweisen wollte, daß er demselben in seinen Verrücktheiten, wie er es nannte, möglichst Abbruch tat!

Preußen war bei dem Kongresse auf reiche und vortreffliche Weise vertreten. Der Fürst von Hardenberg hatte den ungemeinen Vorteil, als Staatskanzler an der Spitze nicht nur der Auswärtigen Angelegenheiten, sondern aller Zweige[72] der Staatsverwaltung zu stehen. Sein Alter, seine durch vielfache Lebens- und Staatsgeschicke bewährte Erfahrung, seine neueste, durch die glänzendsten Erfolge bezeichnete Laufbahn, sein munterer, umsichtiger Geist und seine menschenfreundliche Liebenswürdigkeit, alles vereinigte sich, ihm das größte Ansehen und die wirksamste Bedeutung zu geben. Zahlreich waren in Wien die ausgezeichnetsten Staatsmänner versammelt, jedes Verdienst und jeden Vorzug sah man hier glänzen; aber unter den Hochbejahrten konnte keine Persönlichkeit dem Fürsten von Hardenberg den Preis der edlen, ausdrucksvollen, durch Würde und Milde wohltuenden Erscheinung streitig machen, wie unter den im kräftigen Mannesalter stehenden dieser Preis ebensosehr dem Fürsten von Metternich gebührte. Hardenberg war noch in seinen weißen Haaren ein schöner Mann, dem man es ansah, welch außerordentliches Glück er einst bei Frauen gemacht hatte, ja, der diesem Lebensreize noch jetzt weniger nachging als begegnete und dem die gesellige Welt in jeder Weise nur immer Gunst und Vorteil darbringen mußte.

Ihm als Kongreßgesandter zur Seite stand der Freiherr Wilhelm von Humboldt. Zwischen ihm und dem Staatskanzler bestand während der ganzen Dauer des Kongresses das vertraulichste, ungetrübteste Einverständnis, und beide Männer ergänzten einander im besten Sinne. Dem Staatskanzler als solchem ohne Frage untergeordnet, als diplomatischer Bevollmächtigter doch wieder ihm fast gleichgestellt, an Geist und Geisteskräften aber ihn überragend, erfüllte Humboldt willig und vortrefflich die in solcher Mischung von Verhältnissen ihm gewordene Rolle, die bei jedem andern, und gerade durch das Bestreben, sie zur ersten zu machen, eine zweite geblieben wäre, durch seine äußere Verleugnung und innere Selbständigkeit aber recht eigentlich eine der ersten gleiche wurde. Es war dies nicht das Verhältnis Blüchers und Gneisenaus, welches ebenso einzig und ersprießlich während des Krieges sich gebildet und erhalten[73] hatte; für ihre Aufgaben und ihr eigentliches Geschäft standen die beiden Diplomaten einander näher, konnten leichter ihre Leistungen vertauschen und darin wetteifern als jene beiden Kriegshelden. Aber die Oberleitung Hardenbergs war schon in dessen Haupte von Humboldts Beistand durchdrungen, so wie des letztern Ausführungstätigkeit den Impuls des ersteren immerfort als erwünschte Förderung in sich trug. Der Mut und Fleiß beider Männer wetteiferte in jeder Anstrengung. Was Humboldt während des Kongresses alles gearbeitet und wie umsichtig, gediegen, sorgfältig, mit welcher Strenge und Unermüdlichkeit, das übersteigt allen Glauben, auch forderte er in gleichem Maße von seinen Gehülfen und Untergebenen solche Tätigkeit; hier ist hauptsächlich der Graf von Flemming zu nennen, Hardenbergs Neffe, der unter feiner und angenehmer Bildung, bei lässiger Scherzweise, eine große Schärfe und innere Festigkeit besaß und sich an Humboldt mehr noch als an Hardenberg hielt.

Der Staatskanzler trug die Last der gesamten Staatsgeschäfte in allen Zweigen, doch ging die diplomatische Tätigkeit für jetzt notgedrungen jeder andern voran. In diesem Gebiete arbeitete Hardenberg vieles ganz selbst und ganz allein. Manche der wichtigsten Noten, besonders als der Kampf um Sachsen am höchsten und bedenklichsten schwebte, schrieb er in durchwachten Nächten mit eigner Hand und lieferte Meisterstücke der Klugheit, der Angemessenheit, der nachdrücklichen Stärke; eine ihm eigene Grazie und Sicherheit bezeichnet diese Arbeiten auch im Stil als die seinigen.

Wollte man fragen, wieso diese herrlichen Gaben und Kräfte, besonders die so glücklich vereinigten Talente Hardenbergs und Humboldts, nicht größere Erfolge gehabt, auf dem Kongresse nicht entscheidender gewirkt, sowohl für Preußen unmittelbar als für die von demselben vertretenen Grundsätze, so müssen wir die also Fragenden – in wie großer Anzahl sie auch sein möchten – unbedenklich einer[74] irrigen Voraussetzung, einer falschen Beurteilung der Möglichkeiten und Wirklichkeiten zeihen. Uns hat die ruhige Betrachtung und fortgesetzte Erwägung dieser Dinge im Verlauf der Jahre den Schluß aufgedrängt, was allerdings im Augenblick selbst anders scheinen konnte, daß, wie die Verhältnisse einmal waren, Preußens Beteiligung bei dem Kongresse in keinerlei Hinsicht eine zurückstehende gewesen, sondern daß der Ertrag und Gewinn, wenn auch nicht vollkommen der gewünschte, doch immer ein außerordentlicher gewesen. Wenn eine sehr verbreitete Meinung diese Ansicht noch heute, oft mit bitterer Anklage und schwerem Seufzen, bestreiten möchte, so ergibt sich hieraus nur die Höhe der Ansprüche, zu welcher die Nation sich durch die Erfolge selbst gesteigert hatte.

Die Behauptung, daß Preußen in den Verhandlungen weniger ehrenvoll und erfolgreich gewesen als auf dem Kriegsfelde, wäre durch genaue Erörterung Punkt für Punkt erst zu erweisen. Nur sind freilich in den Kämpfen der Kabinette die streitenden Kräfte nicht so mit Zahlen auszudrücken wie in Schlachten und Gefechten die der Sieger und Besiegten; der Angriff und der Widerstand setzen sich aus gar mannigfachen Bestandteilen zusammen, und wer die Schwierigkeiten und Hindernisse durchschaut, gegen welche Hardenberg und Humboldt unausgesetzt angingen, der wird das von diesen beiden Staatsmännern Geleistete wahrlich nicht gering anschlagen. Doch dies im einzelnen auszuführen, dürfte auch heute, wiewohl ein Vierteljahrhundert seitdem verflossen, noch zu früh sein, und möge dies künftigen Mitteilungen vorbehalten bleiben!

Von seiten Rußlands nahmen an den Beratungen der Fürst von Rasumowski, der Graf von Stackelberg und der Graf von Nesselrode teil, wobei jedoch die persönliche Einwirkung des Kaisers keinen Augenblick zu fehlen schien. Die Grafen Kapodistrias und Pozzo di Borgo standen in dieser Zeit noch nicht in erster Reihe, zu der sie jedoch bedeutend vorrückten. Die russischen Diplomaten und Generale[75] hatten sich überhaupt zahlreich eingefunden, und ihr Benehmen und ihre ganze Erscheinung wirkten bedeutend ein; mit dem Grafen Golowkin, der gegen den Ausgang des Kongresses wieder nach Stuttgart gesandt wurde, ist hier besonders noch der Freiherr von Anstett zu nennen, der in der Folge als russischer Gesandter am Deutschen Bunde längere Zeit wichtig war; Rasumowski, von Bignon aus dem genommenen Standpunkte ganz treffend geschildert, war fast in Wien einheimisch und vereinigte in seiner Hand Fäden, die sonst wohl selten zusammenkamen.

Für England traten Lord Castlereagh und sein Bruder Lord Stewart, ferner Lord Clancarty und Lord Cathcart, später auch der Herzog von Wellington auf. Castlereagh war ohne persönlichen Schimmer, seine Ansichten galten für beschränkt, seine Meinung schien oft von äußeren Eindrücken abhängig, und sein Verhandeln geschah mehr im Sinne eines Sachwalters als eines Staatsmannes.

Die Vertretung Frankreichs ruhte auf vier Namen, von denen aber der des Fürsten Talleyrand die andern weit überragte. Über den berühmten Erzdiplomaten ist so viel geschrieben worden, von Thiers an, der ihm mit eindringendem Blicke in das geheimste Innere nachgegangen, bis hinab zu dem sittenrichterlichen Eifer, der ihn plump einen Schuft nennt, daß es schwer sein würde, hier über sein Wesen etwas Neues zu sagen. Die Rolle, welche er auf dem Wiener Kongresse in zwei Richtungen, erst trennend und dann einend, mit Geschicklichkeit und Erfolg gespielt, tritt in den Ereignissen sprechend genug hervor. Ich muß indessen bemerken, daß ich einen besondern Bezug mit ihm hatte. Schon lange mit einer Arbeit über Mirabeau beschäftigt, konnte ich das Verlangen nicht unterdrücken, den noch lebenden Zeugen und Freund einer großen Persönlichkeit über sie zu verhören. Man wandte mir ein, solches ganz außer der Zeit liegende Ansinnen würde nicht nur fruchtlos, sondern auch, als dreist und ungereimt, mir selber in dem Urteile des Mannes schädlich sein. Ich glaubte das nicht und[76] ließ ihm meinen Wunsch eröffnen. Freundlichst kam er demselben entgegen; er hielt alles Schriftstellerische, sofern er nur irgend ein Talent dabei wahrzunehmen glaubte, für höchst beachtungswert und wollte seine Vergangenheit gar gern in mildem Lichte sehen lassen. Bevor jedoch die Mitteilungen erfolgten, zu denen auch Handschriften aus den Pariser Schätzen herbeizuziehen gewesen wären, sah ich mein Vorhaben von der Gewalt der Tagesfluten überwogt, und ich versäumte weitere Anknüpfungen. Was für ein Bild aber der merkwürdige Mann, teils durch sich selber, teils durch das aus seiner Nähe über ihn Aufgenommene, mir von sich zurückgelassen, das darf ich wohl hier einschalten, indem das Urteil jener Zeit sich in der Hauptsache auch noch für das heutige geben kann.

Talleyrand gehört zu denjenigen Menschen, welche das Leben durch mancherlei Wechsel am Ende doch nur zu deutlicher Selbstsucht führt. Das Gefühl der Freiheit, das ihn in früherer Zeit wirklich beseelte, war nicht stark genug, den Ereignissen zu widerstehen; ebensowenig bestand die Vorspiegelung vaterländischen Ruhmes und Nutzens, die seinen Anteil an Napoleons Staatsführung veredeln sollten und die er andern und auch wohl sich selbst einzureden suchte. Der persönliche Nutzen bestimmte die Anschließung an die Bourbons wie früher die an Napoleon. Diese Triebfeder bildete sich bei ihm desto mehr in Geldgier aus, je schlimmer ihn frühere Armut gedrückt hatte, und es scheint bei ihm Hauptmaxime alles Handelns geworden, um jeden Preis die Wiederkehr solchen Druckes zu vermeiden. In seinem ganzen Benehmen scheint das Priestertum noch durch, dem er zuerst angehörte; die Verschlossenheit, die Ruhe, die gesellige Leichtigkeit, der nachdrückliche Ernst und geistreiche Witz, welche sich in ihm vereinen, haben viel Priesterart. Er weiß sehr gut, daß seiner innern Überlegenheit sein äußeres Auftreten nicht entspricht, und hält dieses daher mit Fleiß in engen Schranken. Den schwärmerischen Ideen, die ihn nicht mehr beherrschen, hat er darum[77] noch nicht alle Neigung entzogen, im Gegenteil, er nimmt mit Vorliebe die Richtungen seiner Jugend wieder auf, und ließe sich sein Eigennutz mit den früheren Gestaltungen verbinden, er sähe diese am liebsten wieder die Welt beherrschen. Man darf bezweifeln, daß er es mit den Bourbons ernstlich meine oder nicht wenigstens zu der alten Bahn der orleansschen Faktion hinneige. Auf gleiche Weise wie an jenen Ideen hält er auch an seinen alten Freunden fest, mit aufrichtigem Herzen und treuem Sinn; es müßte schon arg kommen, daß er sie verleugnete. Die Gelehrten und Schriftsteller begünstigt er auf alle Weise und sucht sie für sich zu gewinnen, weil er ihren stillen Einfluß wohl zu würdigen weiß. Die große Erfahrung und Übersicht, die er zu den Geschäften mitbringt, und die Geistesschärfe, mit der er gleich das Nächste wirksam faßt und bewegt, würden ihn bei dem Kongresse mehr, als er es schon ist, bedeutend machen, wäre ihm nicht die Achtung der Bessern entzogen und raubte sein verstecktes und ränkesüchtiges Wesen ihm nicht das Vertrauen selbst derer, die ihn beauftragt haben. Er arbeitet wenig und ungern, und sein größtes Talent ist, andere für sich arbeiten zu lassen und selbst die bedeutendsten Menschen in dieser Art sich unterzuordnen. Überhaupt versteht er besser, die auf seiner Seite wirkenden Menschen als die ihm gegenüberstehenden zu gebrauchen. Wo es aufs Handeln ankommt, läßt er sich durch nichts irren, kennt weder Liebe noch Haß, folgt keinem Nebeneindruck, sondern ganz einfach und bestimmt seinem wohlüberlegten Vorhaben; keine fremde Eigenschaft wirkt auf ihn, und es bliebe wenig gegen ihn auszurichten, wenn er nicht doch das Geld zu sehr liebte und die Waffenentscheidung immer fürchtete.

Außer Talleyrand waren noch der Herzog von Dalberg, der Graf von latour du Pin und der Graf Alexis von Noailles von französischer Seite bevollmächtigt. Den Namen Dalberg hier auch jetzt wieder, wie schon bei Napoleons Zeiten, im Dienste Frankreichs zu sehen wurde von den Deutschgesinnten wie ein Hohn empfunden, und der Herzog, in[78] welchem überdies der Bonapartist nicht erloschen schien, mußte darüber manche Bitterkeit hinnehmen; ein Preuße, gegen den er sich etwas überheben wollte, gab ihm sein Teil öffentlich in Gesellschaft, so daß an keine Widerrede zu denken war. Als trefflicher Arbeiter bei der französischen Gesandtschaft muß La Besnardière genannt werden, der aber auch den früheren Verhältnissen mehr als den jetzigen ergeben schien.


Den Vordergrund aller mannigfachen Bewegung nahmen aber fortwährend die Gebietsfragen ein, welche das Schicksal Polens und Sachsens betrafen und für die sich die Teilnahme täglich steigerte. Daß Sachsen mit Preußen vereinigt werden sollte, war von allen verbündeten Hauptmächten schon völlig zugestanden, die andern aber hatten hierbei nicht einzureden, als insofern man es ihnen gestattete. Eine andere Frage jedoch war die Vereinigung Polens mit Rußland. Der Kaiser Alexander hatte seine Forderungen in diesem Betreff nie bestimmt angegeben, sondern nur immer allgemein ausgesprochen, daß Rußland in Polen, Preußen in Deutschland und Österreich in Italien ihre Entschädigungen und Gewinne zu nehmen hätten. Auch hierüber war man einverstanden, aber nicht über das Maß der Ausführung. Die russische Macht schien im Glanze des Sieges mit jedem Tage bedeutender; sie bis an die Weichsel vorrücken zu sehen flößte die stärksten Besorgnisse ein. Österreich und England tauschten zuerst ihre Bedenken aus, und Frankreich sprach – anfangs noch schwachen, aber bald schon stärkeren Lautes – in ähnlichem Sinn; trat auch Preußen noch bei, so stand Rußland allein, und man durfte hoffen, dessen Erwerbungen durch gemeinsamen Widerspruch nach Wunsch einzuschränken. In diesem Absehen wurden die Fragen über Polen und Sachsen eng verflochten, und Preußens Ansprüche auf Sachsen schienen dann am wenigsten bestritten, wenn seine Stimme, die Ansprüche Rußlands in Polen zu beschränken, mitwirken würde. Jedoch eine solche[79] Abwendung Preußens von Rußland war undenkbar; die persönliche Zuneigung der Herrscher, die siegreiche Waffenbrüderschaft der Kriegsheere und selbst die Stellung der politischen Verhältnisse, sowohl im Ganzen als namentlich für Preußen, knüpften und geboten die engste Anschließung. Der Widerspruch der gegenüberstehenden Mächte gegen Rußland in betreff Polens dehnte sich nun auch gegen Preußen hinsichtlich Sachsens aus.

Die sächsische Frage erhob sich aber auch aus eignen Kräften und wurde der Kampfplatz, wohin alle Mittel des Angriffs und der Verteidigung sich zusammendrängten. Frankreich fand hier den günstigen Ansatz neuen politischen Einflusses. Die angestammten Herrscherrechte als unverlierbare darzustellen entsprach der eignen Lage der Bourbons, und in dem Könige von Sachsen den treuen Verbündeten – nicht sowohl Napoleons als Frankreichs – zu retten, zugleich aber den verhaßten Siegern den Gewinn zu schmälern entsprach der nationalen Stimmung der Franzosen. In Sachsen selbst tauchten die alten Verhältnisse und Neigungen, die der Krieg niedergehalten, wieder auf und verstärkten sich durch die Fortdauer der tatsächlichen Unentschiedenheit, in der alles schwebte; auch im übrigen Deutschland traten Zweifel und Überlegungen hervor, an die früher kaum gedacht worden war. Besonders schien Bayern die neue sich befestigende Größe Preußens mit Eifersucht anzusehen. Auf diese Weise fand die schon schwebende politische Frage mannigfach nachdrückliche Aufregung.

Die Verhandlungen wurden schärfer, der Zwiespalt deutlicher, schon fürchtete man seinen offnen Ausbruch, die Besorgnisse wurden allgemein. Der Einfluß Frankreichs wirkte besonders nachteilig und drängte sich geschickt ein; er strebte den Annäherungen entgegen, zu welchen auf beiden Seiten die Gesinnungen ursprünglich doch stets geneigt waren, und suchte neue Verbindungen zu knüpfen, für welche er wieder die Mitte zu werden hoffte. Der Fürst von Talleyrand richtete seine Betriebsamkeit nach allen Seiten, seinen[80] stärksten Eifer jedoch widmete er den englischen Verhältnissen, von hier aus glaubte er die andern um so leichter zu gewinnen. In der Tat schien Lord Castlereagh ihm ein nicht allzu schweres Spiel zu machen, das Übergewicht des Geistes übte sein Recht. Stimmten aber Frankreich und England überein, so durfte Österreich den Verbundenen eine Bedeutung zuerkennen, der sich anzuschließen unter den waltenden Umständen kaum vermeidlich war. Die Wirkung auf die Staaten zweiten und dritten Ranges blieb nicht aus, die Niederlande, in Deutschland Hannover und Bayern, reihten sich der neuen Verbindung an. Die Franzosen nahmen schon wieder eine drohende Sprache, die Zeitungen verkündigten Truppenbewegungen gegen den Rhein, nannten die Marschälle, welche den Befehl führen sollten. Daß dies alles im Namen der erst wiedereingesetzten, den Siegern verpflichteten, noch kaum befestigten Bourbons geschehen konnte, dünkte beinahe fabelhaft. Allerdings zeugte diese Wendung von Talleyrands Geschicklichkeit, und man durfte ihn rühmen, die Schwäche so schnell in Stärke verwandelt zu haben. Allein, um diesen glänzenden Erfolg zu erringen, wie einseitig betrachtete er die Verhältnisse, wie blind ließ er außer acht, welcher Boden eigentlich die Bourbons in Frankreich trug! die noch offnen Abgründe der Revolution vergaß er, den schon wieder gezückten Degen Napoleons sah er nicht und wandte nur alles auf, um den Mächten, welche gegen solche wesentliche Gefahren zu Schutz und Hülfe anzurufen waren, Frankreich im eitlen Flimmer diplomatischer Wichtigkeit erscheinen zu lassen. In Wahrheit, hat Talleyrand in diesen Verwicklungen sich als geschickter Unterhändler gezeigt, so hat er sich doch keineswegs als großer Staatsmann erwiesen. Auch ohne das unerwartete Ereignis, dessen gewaltiger Stoß alle Berechnungen zerrüttete, würden die der Talleyrandschen Politik sich schlecht bewährt haben. Und ein europäischer Krieg mußte, wo nicht Frankreichs Geschick, doch unfehlbar das der Bourbons in Frage stellen.[81]

Wollte der Drang dieser Mißverhältnisse und das Hinschwinden so mancher Hoffnung die Seele gar zu sehr verdüstern, den Geist Widerwillen und Ermattung niederschlagen, so kam das tägliche Leben glücklich zu Hülfe, und seine heilsame Flut quoll und strömte durch die rauhesten Geschäfte. Der Wiener Tag schien aus besonderem Stoffe gemacht, was er berührte, nahm er in sein Behagen auf; was jedermann täglich muß und will und doch meist nur gleichgültig abtut, essen und trinken, sich ergehen, umherschauen, alles wurde in dieser Lebensgewöhnung unwiderstehlich zum Vergnügen und Genuß. In den höchsten Kreisen, versteht sich von selbst, mußten die Festlichkeiten und die glänzenden Versammlungen aller Art täglich wiederkehren, und wie sich diese Fülle von oben her stufenweise teils der sehenden, teils der hörenden Neugier ergoß, so übte auch das Volksleben hinwieder nach oben seine Anziehung. Gekrönte Häupter scheuten nicht den Strudel bürgerlicher Belustigungen, die verwöhnteste Vornehmheit bequemte sich zur Kost vorstädtischer üppig-derber Herbergen; die Theater waren gefüllt und die untern meist von der großen Welt, die obern oft von der kleinen, sie wollten einander wechselseitig sehen; an den Winterfreuden, die sich überall auftaten, war weder Politik noch Geldkurs merkbar.

Der Fürst von Ligne starb, aber sein Witz auf den Kongreß lebte munter fort und verflocht sich mit manchem andern, den scherzende Laune oder böslicher Mutwillen demselben Gegenstand widmete. Der Anblick dieses schwankenden Getümmels, der schneidenden Gegensätze, die daraus hervortraten, das Schwelgen der Sinne und das Kargen des Geistes, die Höflichkeit der Formen und die Grobheit der Meinungen wirkten herausfordernd auf die Menschen ein, und es war fast niemand, der nicht auf seine Weise sich über das Schauspiel, zu dem er selbst mit gehörte, lustig gemacht hätte. Als die Hoffnung eines friedlichen Ausgangs der Verhandlungen sehr getrübt war und wohlmeinende Menschen den Gedanken kaum ertrugen, daß wieder Krieg,[82] und Krieg zwischen den eben noch Verbündeten, entstehen könne, nahm auch mein trefflicher Meyern sich diesen Zustand tief zu Herzen und behauptete in seiner bei aller Güte doch scharfen Weise, die Herrscher sollten festsetzen, daß, wenn wieder Krieg würde, alle Diplomaten, die vergebens am Frieden gearbeitet, unerbittlich mit zu Felde ziehen müßten, und zwar zusammen in eine Kompanie Jäger vereint, unter einem altgedienten Hauptmann, der sie nicht schonte; er wollte seinen Kopf zum Pfande geben, daß dann kein Krieg würde. Überhaupt fing in dieser Zeit die Gewohnheit an, die noch immer fortdauert, den Diplomaten, welche bis dahin eine äußerst geehrte und zart behandelte Klasse waren, alles Böse nachzusagen, sie herabzusetzen und lächerlich zu machen, und ich weiß recht gut, wer in dieser Art das erste Wort gesprochen! Kamen zunftgerechte Maler und Zeichner, die eine so erlauchte Versammlung in getreuen Bildnissen ehrerbietigst der Nachwelt überliefern wollten, so zeigten sich vornehme Talente bemüht, die Personen und Vorgänge in Zerrbilder zu bringen, und es wurden in dieser Art verwegene Dinge versucht. In einer Gesellschaft, wo prinzliche und militärische Munterkeit zusammenfloß, warf man die Frage auf, welches die lächerlichste Figur auf dem Kongresse sei, und man beschloß, die Sache kongreßmäßig zu verhandeln, mit Protokollen, Noten, statistischen Tableaux, Ausschüssen und so weiter. Von sieben oder acht Namen, die man nach vielen Debatten endlich gleichsam auf den engen Aufsatz gebracht hatte, konnte keiner die erforderliche Mehrheit erlangen, und auch bei diesem Ergebnis wollte man sich freuen, daß es, wie behauptet wurde, so echt kongreßmäßig sei. Endlich vereinigten sich die Meinungen für zwei Individuen, unter welchen der Preis geteilt wurde.


Wenden wir uns lieber zu Gegenständen reinerer Teilnahme, zu heiterer Kunst und Bildung. Die Reichtümer Wiens in dieser Art waren unerschöpflich und breiteten sich[83] dem Liebhaber immer staunenswürdiger aus. Wer sich auf Altertümer, Malereien, Bildwerke und sonstige Kunstsachen einließ, der konnte bald seiner Forschungen und Gewinne kein Ende mehr absehen. Von allen diesen Sachen war noch wenig Lärm gemacht, sie standen als ruhiger Besitz aufgehäuft sowohl in den kaiserlichen als in den nicht minder reichen Privatsammlungen und harrten stolz des einsamen Kenners, ohne die Augen der Menge anzulocken. Merkwürdiges dieser Art zu erforschen und zu genießen, war niemand aufgeweckter und sorgsamer als der Herzog von Sachsen-Weimar, der in allen Obliegenheiten und Geschäften seiner fürstlichen Verhältnisse immer noch Tage und Stunden genug fand, seine stets rege Wißbegier zu befriedigen und seiner Teilnahme für alles Bedeutende nachzugehen. Wir sahen mit ihm eine damals erst vor kurzem aus dem Schlosse Ambras in Tirol nach Wien gebrachte Sammlung von Waffen, Kunstsachen und Kostbarkeiten; der Inhalt war völlig vergessen, und man machte die überraschendsten Entdeckungen. Seit zehn Jahren hatte Goethes Übersetzung des Cellini deutschen Lesern lebhaften Anreiz gegeben, dem berühmten Salzfasse des florentinischen Künstlers nachzufragen, aber niemand, und Goethe selbst nicht, wußte eine Spur, und man mußte das kostbare Werk für verloren achten. Wie triumphierte der Herzog, nun seinem Goethe melden zu können, das Kleinod sei aufgefunden, wohlerhalten, er habe es mit eignen Augen gesehen! Wirklich befand sich das Salzfaß in der Sammlung von Ambras, und unbegreiflich war nur, wie so lange Zeit – nicht die Kunst, denn das begreift sich nur allzuwohl, aber – das Gold unbeachtet bleiben konnte.

Musikalische Genüsse boten sich von allen Seiten dar, Konzerte, Kirche, Oper, Salon, Virtuosen und Dilettanten, alle gaben ihr Bestes. Der Fürst Anton Radziwill, der in seiner Komposition des Goetheschen »Faust« schon weit vorgerückt war und hier seinem musikalischen Hange mit aller Innigkeit folgte, war mir Anlaß, meinen wackern[84] Beethoven wieder aufzusuchen, der aber, seit ich ihn nicht gesehen, an Taubheit und mürrischer Menschenscheu nur zugenommen hatte und nicht zu bewegen war, unsern Wünschen gefällig zu sein. Besonders wollte er mit den Vornehmen nichts mehr zu schaffen haben und drückte seinen Widerwillen mit zürnender Heftigkeit aus. Auf die Erinnerung, der Fürst sei der Schwager des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, dessen frühen Tod er so sehr betrauert hatte und dessen Kompositionen er höchlich schätzte, gab er etwas nach und wollte sich den Besuch gefallen lassen. Doch hat sich schwerlich ein näheres Verhältnis angeknüpft. Auch verzichtete ich darauf, den verwilderten Künstler wiederum zu Rahel zu führen, denn Gesellschaft machte ihn unwillig, und mit ihm allein, wenn er nicht spielen mochte, war gar nichts anzufangen. Übrigens war sein Namen, wenn auch berühmt und verehrt, noch keineswegs auf der Höhe der Anerkennung, die er seitdem erstiegen. In der hier zusammengeflossenen gemischten Menge erhielt sich italienische Leichtigkeit und Anmut vor deutschem Ernste unverkennbar vorherrschend.

Einiger feinen und auserlesenen Gastereien muß ich hier erwähnen, zu welchen bisweilen Gentz die Blüte der Gesellschaft bei sich vereinigte. Die vornehmsten und schönsten Damen, die angesehensten Staatsmänner und Tonangeber sahen es als eine Gunst an, von ihm eingeladen zu werden, und immer war auf die Anwesenheit und Unterhaltung solcher Personen zu rechnen, welche durch Geist, Seltsamkeit, Ruhm, Gewicht oder sonst einen Anreiz die Bedeutung des Tages hatten. Der Herzog von Weimar war nicht der letzte, solchen Genuß zu schätzen und zu suchen. Talleyrand verschmähte dergleichen Gelegenheit nicht, neue Verbindungsfäden anzuspinnen. Humboldt gehörte aus jedem Rechte hierher. Ich erinnere mich eines Mittags, wo der Graf und die Gräfin von Bernstorff, die Gräfin von Fuchs und viele andere Personen, die man zu sehen oder zu hören erfreut war, mit uns dort zu Tische saßen, aber die ganze[85] Gesellschaft völlig verstummte, um einzig die Wunder zu vernehmen, welche Bollmann von den Vereinigten Staaten Nordamerikas zu erzählen hatte. Das ganze Land war uns durch den langen Seekrieg fremd geworden, noch fremder die Vorstellung eines solchen Freistaats, dessen Entwickelung das fabelhafte, ja schreckbare Beispiel zeigte, daß gemeine Bürger eine Macht und Größe aufzustellen vermögen, die wir in Europa immer nur mit Adel und Königen zu verknüpfen pflegen. Durch die Naivität der Fragen eines anwesenden Diplomaten, dessen unermüdliche Wißbegier nie befriedigt werden konnte, wurde der Vortrag nach und nach ein vollständiger, mit schlagenden Beispielen ausgestatteter Kursus republikanischer Grundlehren und Vorbilder, wie man grade hier bei dem Monarchenkongresse am wenigsten für möglich gehalten hätte. Gentz fühlte sich durch das Gewicht der Sache wie zerschmettert und beunruhigt wie bei einem Attentat, das in seiner Gegenwart versucht worden. Der gute Bollmann aber hatte kein Arg dabei; sein Sinn war weder für die Übelstände der Freiheit noch für die Vorteile des Königtums blind.


Unter banger Ungewißheit war Jahreswechsel eingetreten, und das Jahr 1815 begann in angstvoller Spannung. Es war ein sonderbarer Eindruck, als wir den Zustand unerfüllter Wünsche und peinlicher Hinhaltung auch von einer Seite ausgesprochen fanden, woher wir dergleichen am wenigsten erwarten konnten. Wir lasen in der »Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung« Verse von Goethe zum zweiten Januar, wo es gleich zu Anfang hieß:


Sagt, wie schon am zweiten Tage

Sich ein zweites Fest entzündet?

Hat vielleicht willkommne Sage

Vaterland und Reich gegründet?


Haben sich die Allgewalten

Endlich schöpferisch entschieden,[86]

Aufzuzeichnen, zu entfalten

Allgemeinen ew'gen Frieden?


Nein! – Dem Würdigen, dem Biedern

Winden wir vollkommne Kränze ...


Und so feiert der Dichter anstatt des großen vaterländischen Stoffes, der da fehlt, den kleinen örtlichen, der sich darbietet, nämlich das Jubiläum eines wackern herzoglich sächsischen Staatsdieners. Dieses fast bescheidene und doch so bestimmte »Nein« aus des Dichters Munde tat auf alle, die es vernahmen, eine unbeschreibliche Wirkung, und aus der stillen Luft von Weimar in die trübgärende Atmosphäre von Wien versetzt und hier den zu hundert Malen hergesagten Fragezeilen immer so rasch und klar sich anschließend, klang es zuletzt wie die bitterste Satire, wie der strafendste Hohn. Solch ein Wort ist um so schärfer, je harmloser dasselbe nur die schlichte Tatsache ausspricht; der ungeheure Beifall, den später in Frankreich die Lieder von Béranger erwarben, beruht lediglich hierauf, und der französische Dichter würde jenes »Nein« unsers deutschen, als Refrain zu Ende seiner Strophen sieben- oder achtmal wiederholt, leicht zum dauernden Kongreßliede verarbeitet haben. Bei uns tauchte das vereinzelte Wort, nachdem es eine Weile zur Genugtuung gekränkter Gemüter gedient, bald wieder in das literarische Element zurück, aus dem es einen Augenblick hervorgeschnellt war.

Auf der Gegenseite hatten sich die Beeiferungen in ihrem gesuchten Verein bald weiter, als es der anfänglichen Absicht gemäß sein konnte, fortgerissen gesehn. Gewiß war es nicht die Meinung, daß die Sachen zum Kriege kommen sollten. Aber diesen in Aussicht stellen hieß ihn auch bereiten, und als die Sprache Preußens aus einer festen und starken nun auch eine drohende zu werden schien, Hardenberg ein Wort hinwarf, das keinen Hinterhalt übrigließ, da schlossen Österreich, England und Frankreich förmlich ein Bündnis und verpflichteten sich durch einen am 3. Januar[87] 1815 unterzeichneten Vertrag zu wechselseitiger Unterstützung. Die Sache war geheim betrieben worden, und geheim sollte auch der Vertrag bleiben. Öffentlich mitgeteilt hat ihn zuerst Herr von Gagern, wenn dieser aber zugleich meint, Rußland und Preußen hätten gar nicht um sein Dasein gewußt und der Kaiser Alexander erst durch Napoleon den nähern Inhalt erfahren, so ist dies ganz irrig, denn das Bündnis war auf der Stelle bekannt und der preußische Kreis genugsam davon unterrichtet. Schon Bartholdy hatte von den Engländern den Anlauf der Sachen längst erlauscht. Überhaupt wird das Richtige und Wahre auch im politischen Fache leicht und schnell gewußt, nur verliert es sich gewöhnlich in einer Masse von mit überkommenem Falschen, welches den Draußenstehenden oft völlig verwirrt, das aber der Eingeweihte sonder Mühe erkennt und ausscheidet.

Dieses Bündnis war der Hochpunkt der Spannung, die hierauf nicht weiterging, sondern alsbald wieder nachließ. Den Teilhabern mochte die genommene Stellung doch schon bedenklich scheinen und ein Rückschritt wünschenswert dünken. Die Nachgiebigkeit erfolgte indes zuerst von derjenigen Seite, wo Macht und Selbständigkeit am wenigsten zu bezweifeln waren, von seiten Rußlands. Der Kaiser Alexander stimmte seine Ansprüche in betreff Polens bedeutend herab, der österreichische Anteil wurde günstiger gestellt, der preußische beträchtlich ausgedehnt, Thorn und Krakau sollten Freie Städte werden, und von diesen wurde später die erstere noch zu Preußen gefügt. Hierdurch bekamen auch die Verhandlungen über Sachsen eine veränderte Gestalt, und beiderlei Fragen rückten wieder gemeinsam einer, zwar noch immer herben und schweren, aber doch schon entschieden friedlichen Lösung entgegen.

Ein besonderes Schauspiel von sehr verschiedenartiger Wirkung brachte der 21. Januar. Den Todestag Ludwigs XVI. hatte die Restauration in Frankreich zu einem allgemeinen Trauerfest erhoben und trieb damit ein parteisüchtiges[88] Gepränge. Die Gesandtschaften im Auslande wurden angewiesen, den Tag durch kirchliche Feier zu begehen, und Talleyrand durfte nicht zurückbleiben. Er ließ in der Sankt-Stephans-Kirche einen Trauergottesdienst halten, zu welchem der ganze Kongreß eingeladen wurde und der prunkvoll sein sollte und vielleicht kostbar genug, aber doch gering ausfiel. In Frankreich war die Feier jenes trauervollen Tages, in welcher wenig Rührung, aber desto mehr Haß sichtbar wurde, eine unkluge Herausforderung; in Wien erschien sie, wo nicht grade ärgerlich, doch wenig angemessen. Man hielt es für sehr unnötig, daß in Gegenwart so vieler Fürsten die Hinrichtung eines der angesehensten feierlich in Erinnerung gebracht wurde; man glaubte, ein solches Ereignis bleibe besser in Dunkel und Vergessenheit. Es kamen Dinge zur Sprache, die man lieber unbesprochen lassen mußte, und selbst die Person Ludwigs XVIII. blieb nicht verschont, denn natürlich widerhallten die Stimmen aus Frankreich auch in Wien. Talleyrand hatte bei der Sache auch keine richtige Stellung, sie mußte ihm jedenfalls peinlich sein; der Gedanke an die Hinrichtung des Herzogs von Enghien lag so nahe, und bei dieser Untat schien einige Mitschuld ihm doch beizumessen; überdies hatte er mit den Verurteilern Ludwigs XVI. bis dahin stets im besten Frieden und Verkehr gelebt. Genug, das Ganze machte einen falschen Eindruck und nahm sich im »Österreichischen Beobachter« zwar auch nicht sonderlich, aber doch besser als in der Wirklichkeit aus.


Unterdessen war aus England der Herzog von Wellington eingetroffen und als Bevollmächtigter an Lord Castlereaghs Stelle getreten, der nach London zurückkehrte und vorläufig wenigstens ein Ergebnis des Kongresses mitbrachte, für das er die Teilnahme seiner Landsleute sehr erweckt wußte, nämlich die Abschaffung des Negerhandels. Der berühmte Feldherr hatte offenbar mehr Geschick für diplomatische Geschäfte als sein Vorgänger, wußte zu hören[89] und, wenn auch nicht so wortreich, doch mehr sachgemäß, zu reden. War seine Sendung darauf abgesehen, durch den Kriegsmann zu imponieren und durch sein Kraftwort die andern zum Schweigen zu bringen, so blieb dieser Zweck verfehlt, denn man konnte bald wahrnehmen, daß recht eigentlich ein Unterhändler, und zwar ein sehr geschickter und sachkundiger, in ihm gekommen war.


Die deutschen Angelegenheiten, welche in der allgemeinen Spannung und auch in ihrer eignen bisher gestockt hatten, wurden wieder aufgenommen, ohne doch die nötige Förderung finden zu können. Eifersucht, Ehrgeiz und Mißtrauen regten sich von allen Seiten, und der Andrang der mindermächtigen Fürsten und Staaten wurde den wohlmeinenden Absichten Österreichs und Preußens, für die Gesamtheit der Deutschen eine durchgreifende Ordnung zu gründen, immer beschwerlicher. Für diese Richtung war die Einigkeit beider Mächte fast gar nicht gestört worden, die Gesinnung der beiderseitigen Staatsmänner beharrlich die gleiche geblieben. Auch der Kaiser von Rußland nahm sich der deutschen Sache wohlwollend an und wirkte mittelst seines Ansehens und Einflusses überall für das Beste der Gesamtheit, für die Sicherung volkstümlicher Rechte. Daß die Vertreter der kleinen deutschen Länder ein Recht hatten mitzusprechen, darf man nicht bezweifeln, denn es wurde ihnen zugestanden; daß in vielen dieser Männer der redlichste Eifer glühte und auch im einzelnen die wichtigsten Dienste leistete, wird ihnen stets rühmlichst anzuerkennen sein; aber im ganzen müssen wir wiederholt beklagen, daß die Gestaltung der Dinge nicht aus engerem Rat hervorgegangen und ausschließlich von den großen Stimmführern geleitet worden ist.


Durch den Zusammenstoß der Ansprüche entstanden auch solche Reibungen, welche persönliche Abmachung zu fordern schienen. Die großen Mächte hatten kaum wieder aufgegeben, durch die Waffen ihre Sache zu entscheiden, so[90] schien die Kampflust in die einzelnen zu fahren, und es fehlte nicht viel, so hätte der Kongreß das Zwischenspiel merkwürdiger Zweikämpfe gesehen. Man erzählte von unerhörten Auftritten, welche Stein bei dem Grafen von Stackelberg gehabt und wo der Reichsritter sich wie Götz von Berlichingen oder Franz von Sickingen gefühlt, die sich auch keinen Augenblick bedacht haben würden, ihre Fehden persönlich auszufechten. Die Sache war folgende: Im »Rheinischen Merkur« waren Bayern und Württemberg hart angegriffen, und vom Kronprinzen von Bayern hieß es, er sei einst deutsch- und gutgesinnt gewesen. Der Kronprinz hielt Stein für den Verfasser des Artikels, und als er auf dem Balle bei Stackelberg zufällig hinter diesem stand, rief er ihm über die Schulter mehrmals in spöttischem Tone »gewesen! gewesen!« zu. Stein drehte sich um und fragt, ob sich das an ihn richte. Der Kronprinz erwidert: »Nun, Sie werden doch wissen, daß von mir die Rede ist; im ›Rheinischen Merkur‹ steht's ja, daß ich ehmals ein guter Deutscher gewesen, nun aber nichts mehr sei.« – »Ich erinnere mich nicht«, versetzte Stein, »es gelesen zu haben. So? Stand das dort?« – »Der Verfasser wird sich doch seiner Worte erinnern?« rief der Kronprinz höhnisch. Da hielt sich Stein nicht länger, hielt dem Kronprinzen die geballte Faust vors Gesicht und schrie mit bebenden Lippen: »C'est le propos le plus indécent et gare qui le répétera.« Der Kronprinz von Bayern hatte noch einen andern Handel, und zwar mit dem Kronprinzen von Württemberg; sie hatten durch bittre Worte sich entzweit und schon Ort und Zeit bestimmt, ihre Mißhelligkeit durch die Waffen auszugleichen, als noch eben die Vermittlung des Fürsten von Wrede den Zwist beilegte und ein so unheilvolles Beispiel verhütete. Gleicherweise wurde ein Zweikampf, zu welchem der Kriegsminister von Boyen den Minister von Humboldt aufgefordert hatte, noch gütlich auf dem Platze selbst vermittelt, indem eine äußerliche Zurücksetzung, welche Boyen für eine absichtliche hielt, sich als ganz absichtslose Zufälligkeit herausstellte.[91]

Auch in weniger hohen Kreisen waren Streitigkeiten zu vermitteln, welche ohne Dazwischenkunft ruhiger Besonnenheit einen schlimmen Ausgang nehmen konnten. Es kam die Rede darauf, ob nicht der Kongreß angegangen werden sollte, den Zweikampf allgemein abzuschaffen und Ehrengerichte anstatt seiner einzusetzen. Gentz bat um's Himmels willen, die Mühewaltung der Diplomaten nicht durch neue Ansuchen zu vermehren, sie abzuweisen sei schon des Leidens zuviel, nun gar aber einen solchen Gegenstand aufzunehmen, auch für ihn einen Ausschuß zu bestellen würde ihm der Gipfel, der Torheit dünken. Jemand schlug einen Ausschuß vor und wollte Gentzen als erstes Mitglied, was dieser sehr übelnahm, nicht darum, weil der Scherz anzüglich war, sondern weil solcher Gedanke ihn gleich im Ernst quälte und auf Tage hinaus unglücklich machte.


Während sich die Blicke besorglich nach Süden wandten und der Norden sich kaum erhellte, behielt Wien unverändert dasselbe Ansehen, immer drängten sich die Festlichkeiten und Vergnügungen, immer vereinigte wieder in Glanz und Freude der Abend, was der Morgen feindlich entzweit zu haben schien. Die lange Dauer des Kongresses minderte in nichts die gastfreie Herrlichkeit, den Reichtum und die Grazie der Bewirtung, man mußte die Hülfsquellen dieses Aufwandes für unerschöpflich halten. Die große Welt entsprach allen Forderungen, die sie an sich selber machte, und zeigte immer gleichen Eifer, gleiche Fülle. Der Zudrang mehrte sich sogar, und immer andere Fremde strömten herbei, welche den Schauplatz neu belebten. Selbst die Jahreszeit brachte den Reiz des Wechsels; die prächtigen, bei nächtlicher Heimkehr von Fackeln beleuchteten Schlittenzüge wandelte die lauere Luft in prunkvolle Wagenfahrten und Kavalkaden um. Das Gedränge der Basteien wiederholte sich im Prater, im Augarten, auf den Straßen nach Schönbrunn und Baden.[92]

Auch an kirchlich-religiösem Schauspiel sollte es dem Kongresse nicht fehlen. Zwar Frau von Krüdener, welche vor andern Personen berufen schien, die vornehme Welt von dieser Seite anzusprechen, auch bereits mit dem Kaiser Alexander in vertrautem Verkehr stand und bald in hohe und folgenreiche Wirksamkeit trat, war nicht nach Wien gekommen und hätte auch unter den vorherrschend katholischen Einflüssen des Orts mit ihrer protestantischen Mystik schwerlich viel Glück gemacht. Dafür hatte Zacharias Werner sich eingefunden, der königsbergische Preuße, Verfasser der »Söhne des Thales«, der »Weihe der Kraft« und anderer Theaterstücke, der seinen lange versteckten Sinn endlich offen bekannt hatte, katholisch und bald auch Priester geworden war. Noch im vorigen Jahre hatte er in einem halb faselnden, halb trunkenen Gedicht, »Die Weihe der Unkraft«, den Sieg der Verbündeten besungen und in seiner Weise, die alles durcheinandermischte, die protestantische Königin Luise von Preußen als eine der Heiligen mit aufgeführt, deren Wirken im Himmel das irdische Siegeswerk mit vollbracht. Seine nunmehrigen Glaubensgenossen achteten solcher Absprünge eines verwilderten Gehirns nicht, und niemand mochte die poetische Lizenz rügen, mit der die dogmatische Unterscheidung einen Augenblick der praktischen Verbündung hier zum Opfer gebracht wurde. Allein seit Jahresfrist waren alle bis dahin unbestimmt ineinanderfließenden Meinungen und Denkarten zur Entwickelung vorgeschritten und hatten sich gesondert und befestigt. So war denn auch Werner seitdem schon ein ganz anderer Katholik geworden und jetzt der erste, solche poetische Milde, welche den Nichtkatholiken den katholischen Himmel öffnet und sie dort sogar mit dem Heiligenschein schmückt, als eine sündhafte Verirrung zu verwerfen. Er drang auf strenges Bekenntnis zur katholischen Kirche, auf unbedingte Unterwerfung unter den Papst und hätte sich um keinen Preis mehr erdreistet, Irrgläubigen einen Teil an der Seligkeit zuzusprechen. In den Fasten trat er als Prediger auf, und der[93] heftige Eifer, mit dem er die Sünder zur Bekehrung rief, sein bekannter Name und Lebenslauf wie sein wunderliches Wesen überhaupt, das den Zuhörern mit dem geistlichen Ertrag auch reichlichst weltliche Unterhaltung versprach, zogen bald die ganze vornehme Welt zu seiner Kirche hin. Mehr noch als je vorher im Schauspiel- und Gesellschaftswesen entfaltete er seine Fratzenhaftigkeit jetzt auf der Kanzel. Ein zweiter Abraham von Sancta Clara, hatte er bald gefühlt, was alles ein eifernder Prediger sich erlauben, was alles seine Dreistigkeit antasten, seine Willkür herbeiziehen dürfe. Recht mit Lust besprach er seine eignen, persönlichen Angelegenheiten, seine Sündhaftigkeit, seine Bekehrung und Buße, und indem er den andern die Hölle heiß machte, schwelgte seine Eitelkeit in doppelter Selbstbespiegelung der ehemaligen Weltlust und der jetzigen Auserwählung. Er machte reine Theaterstreiche, nicht nur ärgerliche, sondern oft geradezu unanständige. Er gefiel sich in dem Wagnis, die Zuhörer durch zweideutige Ausdrücke aufzuregen, in Unruhe, Scham und Angst zu versetzen, ja diese bis zum Gipfel des Schreckens zu steigern, wo man ungewiß wurde, ob nicht Wahnsinn die Kanzel entweihen werde – und dann plötzlich ließ er von dieser Spitze seinen Vortrag in das gewöhnliche Geleis hinabstürzen, wo sich alles in zulässiger Weise ruhig verlief. Wer von der Predigt Kenntnis hat, wo Zacharias Werner von dem allersündlichsten und ärgerlichsten Teile des menschlichen Körpers redet, die Eigenheiten und Unarten angibt, durch die er sich bemerkbar macht, endlich, nach der absichtlich beunruhigendsten Aufzählung derselben, mit unerhörter Dreistigkeit fragt, ob er ihn noch erst nennen oder gar ihn zeigen solle – wobei unter den Zuhörern eine Mutter ihren beiden Töchtern angstvoll zuflüsterte: »Seht nicht hin, seht nicht hin!« – darauf aber ausruft: »Die Zunge ist es!« –, der hat das sprechendste Beispiel, auf wie ärgerliche Weise dieser Schäker Schimpf und Spott mit seinen Zuhörern trieb. Freilich kannte er seine Leute! Die vornehme Welt, Wiener und Fremde, waren[94] entzückt, auch in der Kirche solchen Hautgout und das Heilige mit solchem Sinnenkitzel verquickt zu finden.


Wir haben von andern Dingen zu reden. Der Monat März hatte begonnen, er ließ sich leidlich an. Der König von Sachsen war in Preßburg angekommen, und die Mächte, in betreff der Teilung Sachsens nun einstimmig, unterhandelten über seinen Beitritt zu dem Beschlossenen. In Wien schwebte das Schauspiel einer stattgehabten Prachtfahrt des Hofes, das heißt, aller hier vereinigten Höfe, noch vor Augen, man unterhielt sich, arbeitete und schlenderte wie bisher – da wurden plötzlich am 7. März die Sinne geblendet: es blitzte, und ein dumpfer Donner hallte lange nach. Der Blitz war die Nachricht, daß Napoleon am 26. Februar die Insel Elba verlassen habe und mit seiner Kriegsmannschaft auf sechs Schiffen nordwärts steuernd gesehen worden sei.

Gegen Mittag war das Ereignis durch ganz Wien bekannt, und der Eindruck ist nicht zu beschreiben, den die gleich einem Lauffeuer verbreitete Nachricht auf alle Menschen machte. Jedermann fühlte, daß dieser Schlag eine Schicksalswendung sein werde, wenn auch nur des Mannes, der ihn geführt. Alle Gesichtspunkte waren durch ihn verrückt, aller Anhalt unsicher, alles Bewegte stillgestellt. Daß es Gemüter gab, die nicht aus der Fassung kamen, wird man schon glauben. Der Kaiser Alexander sagte, das Ereignis werde ein geringes sein, sobald man es nur nicht als ein solches behandle. Der Gleichmut des Fürsten von Metternich blieb unerschüttert, sein Blick hatte sogar auf der Stelle erkannt, daß Frankreich bedrohter sei als Italien; aber auch Gentz, der persönlich so leicht erschreckbare Gentz, blickte mutvoll in die allgemeine Gefahr oder glaubte sie noch nicht besonders groß. Humboldt rief: »Vortrefflich! Das gibt Bewegung!« Ich muß auch sagen, daß ich einen Diplomaten gesehen, der unter den Augen einer Dame, die seiner Huldigung versichert sein sollte, die Nachricht als die allergleichgültigste[95] aufnahm und mit seltener Bemeisterung nur dazu benutzte, um darzutun, wie ganz von anderm Gegenstande jetzt Sinn und Geist ihm schon erfüllt seien! Die Franzosen, Talleyrand an der Spitze, suchten die möglichst gleichgültige Haltung zu behaupten; solche Stimmung, wahr oder erkünstelt, herrschte auch am Abend jenes bewegten Tages, wo alle hohe und vornehme Welt bei der Kaiserin von Österreich der Aufführung eines Schauspiels beiwohnte. Talleyrand fürchtete wirklich am meisten für Italien, wo er ein bedeutendes Gelingen für möglich hielt; an Frankreich schien ihm ein Einbruch Napoleons gleich im Beginn zerschellen zu müssen. Doch glaubten die meisten Menschen, Napoleon werde sich nach Frankreich wenden. Am 10. März brachte ein österreichischer Kurier aus Genua die Nachricht, daß Napoleon wirklich in Frankreich gelandet sei und das Schloß von Antibes zu überfallen versucht habe. Am 13. kam abermals ein österreichischer Kurier aus Genua mit Nachrichten vom 5. Nun begann auch Talleyrand, und mit ihm der Herzog von Dalberg, zu zagen, besonders da auch ein Kurier aus Paris mit Nachrichten vom 5. eintraf, an welchem Tage man dort von dem ganzen Ereignisse noch keine Kunde hatte. Nach glaubhaften Versicherungen war Talleyrand einen Augenblick sichtbar getroffen und starrte stumm vor sich hin; doch nur im ersten Augenblick, denn gleich im zweiten, rühmte man, habe er sich wieder in seiner Stärke, ruhig, klar und tätig, gezeigt. Die Italiener freuten sich, daß Napoleon sich nach Frankreich geworfen; Carpani rief mit Heftigkeit, es sei ein Übermaß von Segen, der Himmel führe den Bösewicht grade dahin, wo seiner die unfehlbarste Strafe harre. Überhaupt, sowie man nur erst wieder sich besonnen, sich wechselseitig gesprochen, ermutigt hatte, brachen ungehemmt die Leidenschaften aus, und Haß und Wut machte sich in den wildesten Reden Luft. Frauen wetteiferten mit Männern, den Helden des Tages, der sie durch sein bloßes Erscheinen schüttelte und zauste, zu schmähen, zu verachten.[96]

Diese Stimmung, welche, bei schon geringerer Besorgnis, sich nur erhöhtem Grimm überließ, wurde von Talleyrand eifrig benutzt, um Maßregeln zu erwirken, deren Gefahr seine Verhältnisse nicht verschlimmern konnte, deren Ruhm und Vorteil aber auch auf ihn günstig zurückfallen mußten. Ihn nämlich hielt die herrschende Meinung gleich für den Urheber, wenigstens für den stärksten Anstifter des kraftvollen Beschlusses, durch welchen die zum Kongreß versammelten Mächte am 13. März das Unternehmen Napoleons feierlich verdammten, ihn selbst außer dem Gesetz und der öffentlichen Rache geweiht erklärten. Der Eindruck dieser Erklärung war groß, wurde aber bald geschwächt durch die Nachrichten, die in rascher Folge aus Frankreich einliefen und Napoleons reißende Fortschritte meldeten. Anstatt ihn umzingelt und gefangen zu sehen, sah man Grenoble ihm die Tore öffnen, die Truppen zu ihm übergehen, die Bourbons, schwach und ratlos, an Flucht denken. Eilig schritten nun die Mächte zum völligen Abschlusse der sächsischen Frage und überwanden durch ernstliche Vorstellungen, an denen Talleyrand noch bestens teilnahm, die bisherige Weigerung des Königs von Sachsen. Hiemit endete die französische Wirksamkeit auf dem Kongreß. Als Napoleon in Lyon eingerückt war, der Marschall Ney, auf den man die unsinnigsten Hoffnungen gesetzt hatte, nichts ausrichtete, sondern sogar, von seinen Truppen fortgerissen, dem wiederkehrenden Kaiser sich anschloß, mußte man wohl erkennen, daß gegen diesen kein Widerstand mehr zu erwarten, Paris ihm offen und die Sache der Bourbons für diesmal verloren sei. Frankreichs Vertretung auf dem Kongresse schwand in sich selber dahin, und als am 25. März Österreich, Rußland, England und Preußen aufs neue sich zum Kriege verbündeten, war für Talleyrand nichts mehr mitzuwirken oder zu unterzeichnen.

Nachdem Napoleon ohne Schwertstreich in Paris angelangt, die Obergewalt wieder in seinen Händen und ganz Frankreich ihm zugefallen war, konnte man aus dem Gedränge[97] von Schrecken und Angst, Wahn und Enttäuschung, von welchem die Seele bestürmt worden, erst wieder aufatmen und den neuen, unerhörten Zustand ins Auge fassen. Wir dürfen es wohl sagen, Staunenswürdigeres und Fabelhafteres und in seiner Wirkung Gewaltigeres hat die Geschichte nicht aufzuweisen, als diesen Zug Napoleons von Cannes nach Paris. Um das Wunder zu erklären, dachte man die albernsten Dinge aus, nur den einfachsten Zusammenhang wollte man nicht sehen. Eines nur konnte man nicht leugnen, daß Frankreich und Napoleon wieder aufs neue zu gewaltiger Macht vereint uns gegenüberstanden und daß man sich mit dieser abfinden müsse, in Krieg oder Frieden. Oder Frieden; denn auch dieser Fall mußte sich der Einbildungskraft aufdrängen, ungeachtet der Erklärungen und Bündnisse, welche der vollständigen Entwickelung des Ereignisses vorangegangen waren und daher durch diese nun neu bedingt werden konnten. Napoleon, im Wiederbesitze der Macht und getragen von dem Sturme gärender Volksbewegungen, trat unerwartet friedlich und gemäßigt auf und erbot sich, den Frieden von Paris anzuerkennen. Ein solches Erbieten verdiente wohl Erwägung, und der Zustand Europas, die Verhältnisse der Mächte untereinander mußten zu ernsten Betrachtungen auffordern. England verwahrte sich schon, in dem bevorstehenden Kriege nur gegen Napoleon, nicht aber für die Wiedereinsetzung der Bourbons kämpfen zu wollen. Sollte letztere nicht Zweck sein, so durften andere Mächte lieber sehen, daß Napoleons Dynastie monarchisch, als daß neue Revolutionsgewalten republikanisch in Frankreich herrschten, und die noch nicht aufgelösten Verhältnisse, welche Napoleon persönlich mit Österreich verknüpften, konnten diese Macht auch für ihn selbst noch günstig stimmen. Er griff von seiner Seite diese Möglichkeit begierig auf und benutzte sie zu verheißenden Vorspiegelungen für die Franzosen, bei Österreich zu eindringlichen Eröffnungen. Sie fanden keinen andern Eingang als höchstens den, daß man vernehmen[98] wollte, was er anzutragen hatte, wohin seine Absichten gingen.

Das Unternehmen Napoleons war auf zweierlei Grundlagen berechnet: auf die eine, daß Frankreich der Bourbons überdrüssig sei, und diese Angabe war ihm so entschieden und drängend, daß sie kaum erlaubte, auch die zweite, daß der Kongreß uneinig oder auseinandergegangen sei, gehörig zu prüfen oder abzuwarten. So gut Napoleon in jenem Betreff unterrichtet war, so schlecht war er es in diesem. Allerdings wollten die Monarchen Wien schon verlassen, die Tage des Bleibens wurden schon gezählt und die Abreise sehr nah angegeben. Allein die Trennung der Herrscher würde nicht den Frieden gestört haben, im Gegenteil waren die Verhandlungen wieder in besserem Gange und ihre Fortsetzung gesichert. Allerdings hätte Napoleons Wiederkehr einen ganz andern Eindruck gemacht und seine politische Arglist einen ungleich größeren Spielraum gehabt, wären die Häupter des Kongresses nicht mehr beisammen gewesen und die Nachricht des großen Ereignisses jedem abgesondert zugekommen; die Gemeinsamkeit der Entschlüsse und Maßregeln würde aus der Ferne höchst schwierig zu unterhandeln gewesen sein, die augenblickliche Schnelligkeit und nachdrückliche Kraft des Zusammenseins durch nichts zu ersetzen. Aber die Zustände Frankreichs waren die entscheidendern, sie litten keinen Aufschub, und Napoleon hätte kaum zögern dürfen, auch wenn er über die Zustände in Wien weniger getäuscht gewesen wäre.

Die öffentliche Aufmerksamkeit mußte sich bei dieser Wiederkehr Napoleons vorzüglich auch auf seine Gemahlin und seinen Sohn richten, welche während des Kongresses ihren Aufenthalt bisher in Wien und jetzt auf dem Schlosse in Schönbrunn hatten. Ein Versuch, den jungen Prinzen von letzterem Orte zu entführen, war von Paris kühn genug angelegt, mißlang aber im entscheidenden Augenblicke. Die Sache machte großes Aufsehen, hatte aber nur die Folge, daß eine strengere Bewachung eintrat.[99]

Aber nicht auf Österreich allein richtete Napoleon seine geheimen Betreibungen, auch andern Mächten suchte er die Vorteile darzulegen, deren sie im Bunde mit ihm, oder wenigstens durch Erhaltung des Friedens mit ihm, teilhaftig sein würden. Gar leicht ließ sich ermessen, welcherlei Verbindungen er zunächst hoffte herzustellen, auf welchen Punkten seine Lockungen zumeist Erfolg haben könnten. Überall aber fand er seine Erwartung getäuscht, nur Murat allein folgte den unheilvollen Antrieben, denen schon längst sein eigner Hang unruhig vorgearbeitet hatte. Der Prinz Eugen Beauharnais, der wohl vielfache und dringende Mahnungen empfinden konnte, sich dem Feldherrn, Vater und Kaiser anzuschließen, blieb seinem Worte getreu, Wien nicht zu verlassen, und verdiente die Zuversicht, welche namentlich der Kaiser Alexander in dasselbe setzte. Auch sah man gerade in dieser Zeit beide fast täglich Arm in Arm auf der Bastei lustwandeln, und jeder Argwohn mußte hiedurch erstickt werden. So hielten auch die Polen treu an dem Kaiser Alexander, und Napoleon fand bei ihnen kein altes Vertrauen mehr zu wecken, welches auch in Deutschland nirgends gelang, wiewohl der neue Zustand schon mancherlei Unzufriedene gemacht hatte. Merkwürdig war es, daß Napoleon nicht verschmähte, auch seinen Feind Talleyrand mit Lockungen anzugehen, und daß er eine abermalige Umkehr desselben doch für möglich hielt! Der ihm durch Fouché zugefertigte Sendling Monteron, schlau, umsichtig, gerieben, sah jedoch bald, daß die Stellung der Dinge in Wien unwiderruflich entschieden sei und die Klugheit sich besser auf dieser Seite halte als die entgegengesetzte suche.


Das tägliche Leben wogte unverändert, die gesellschaftlichen Strömungen, als wäre nichts vorgefallen, gingen ununterbrochen, aber in betreff der Stimmung, des Betriebs der Geschäfte und der Richtung derselben bot alles ein ganz anderes Ansehen. Der wiedererstandene gemeinsame Feind[100] stärkte die Bande der Vereinigung, des Zusammenhaltens, zunächst unter den großen Mächten, welche der Zwistigkeiten aufrichtig vergaßen und nur den großen Zweck vor Augen hatten, die revolutionäre Militärmacht in Frankreich nicht zu dulden. Die Verabredungen für den Krieg, die Rüstungen aller Art, die Anordnungen der Heermassen, der Truppenmärsche, die Aufbringung der Hülfsmittel traten nun in den Vordergrund. Mit dem Herzoge von Wellington hielten die in Wien anwesenden höchsten Militärpersonen der andern Mächte häufige Beratungen, die Kriegsminister kamen zusammen, die Finanzminister wurden befragt. Bei den Österreichern stand der General Graf von Radetzky als Heerbildner und Kriegsleiter in höchstem Ruhme; die preußischen Anstalten fanden überall kräftige Förderer, die Einsichten des Kriegers und des Staatsmannes in seltenem Verein bewährte wie schon früher so auch jetzt der General Freiherr von dem Knesebeck in der höchsten politischen Sphäre, der Kriegsminister General von Boyen, der Oberst Rühle von Lilienstern, der Kriegsintendant Ribbentrop wirkten in ihren Kreisen mit Eifer und Erfolg.

Dabei galt es, die Stimmung der Völker zu beachten, die Unzufriedenheit zu beschwichtigen, den guten Willen anzuregen, den kriegerischen Eifer neu zu beleben. Nirgends waren die Gesinnungen feuriger, die Kräfte rascher als in Preußen; hier bedurfte es nicht erst der Verheißungen, wie sie durch die berühmte Verordnung vom 22. Mai über eine schon im nächsten Jahre zu berufende Volksvertretung erteilt wurden, diese Verordnung machte damals nur geringen Eindruck; willig zu jedem Opfer, über die kriegerische Leidenschaft jede andere vergessend, erhob sich die Nation dem neuen Rufe, die Linientruppen waren schnell ergänzt, die Landwehr unter Waffen, die Jägerscharen der Freiwilligen wiedererstanden. Preußische Truppen standen die ersten schlagfertig im Felde. Dem Kriegsminister General von Boyen, dessen ungeirrte Einsicht mit fester Hand überall am rechten Ende die Sachen angriff, wurde hierbei das[101] größte Verdienst einstimmig zuerkannt und sein Namen dem seines großen Vorgängers Scharnhorst würdig zur Seite gestellt.

Als eine neue Gestalt in dem bunten Gedränge von Wien mußte in dieser Zeit der Turnmeister Jahn auffallen, der von Berlin zum Besuch gekommen war. Auffallen mußte der berühmte Deutschtümler schon durch seinen Bart, seine langen Haare, seine altdeutsche Tracht, nicht weniger aber durch die Entschiedenheit und den Trotz seiner Meinungen, den rücksichtslosen baren Ausdruck seiner kurzen Rede. Bei dem Fürsten von Hardenberg zur Tafel geladen, erschien er in seiner ganzen Turndeutschheit, in gewohnter Lässigkeit des Anzugs, der einzige in Stiefeln, und bei dem trockensten Wetter in kotigen, so daß man glauben konnte, er halte das zum Kostüm gehörig und habe sich mühsam eigens beschmiert, wie andere sich blank machen. Aber man konnte nicht leugnen, er war ein Mann auf eigenen Füßen und hatte durch sein Wesen großen Einfluß. Dem Finanzminister Freiherrn von Bülow, der sich gutwillig zur Verhandlung einiger Fragen und mehr als nötig hergab, sagte er ohne Blödigkeit harte Lehren und, da er merkte, daß er durfte, einige Grobheiten. Humboldts Eifer, sich durch mich ihm vorzustellen, verleitete den Kraftmann, auch hier sein Spiel zu versuchen, das aber schlecht gelang; der überlegene Geist hielt den untergeordneten ohne Mühe in Schranken, und Jahn blieb zuletzt in einer Fassung stehen, als wisse er selbst nicht recht, ob er gefoppt worden. Nachdem er noch eine Weile in Wien sich umhergetrieben und genug erkannt hatte, daß dort kein Boden sei, auf dem er mit seinem Wesen Glück machen könne, kehrte er nach Berlin zurück, um daselbst, wo er auf seinem Platze war, das Kriegsfeuer in der Turnjugend anzuschüren.


Den ersten Stoß der neuen Kriegsrüstung zog Murat auf sich, doch nur den der Österreicher, welchen die Sachen in Italien zunächst und allein oblagen. Er glaubte die andern[102] zu täuschen und war nur selbst der Verblendete. In demselben Augenblick, wo er mit Napoleon anknüpfte, versicherte er die Verbündeten seiner Treue; gleich darauf erklärte er sich offen für Napoleon, brach in den Kirchenstaat ein und rückte mit seinen Truppen gegen die Österreicher an. Gleich der erste Angriff wurde zurückgeschlagen und so in rascher Folge von Niederlage zu Niederlage binnen wenigen Wochen der ganze Feldzug beendigt; die Österreicher besetzten am 22. Mai Neapel und verhießen die Herstellung der alten Dynastie; Murat suchte eine Zuflucht in Frankreich.

Dieses Vorspiel war glücklich entschieden, ehe noch der Kampf gegen Frankreich beginnen konnte, und der gute Ausgang mußte das Vertrauen der Verbündeten erhöhen; doch fühlte man wohl, daß dieser Nebengewinn wenig bedeute, solange der Hauptschlag noch nicht geschehen, und daß Napoleon mit seinen Franzosen von anderm Gewicht seien als Murat und die Neapolitaner. Daher, als jemand sich wunderte, daß der Einzug der Österreicher in Neapel den Geldkurs in Wien fast unverändert ließ, konnte mit Fug erwidert werden: »Damit der Kurs sich bessere, da müssen wir nicht bloß Neapolitaner, sondern auch noch Franzosen und vor allen Dingen Zwanziger schlagen.« Die Nachrichten aus Frankreich lauteten keinesweges beruhigend. Wer von Paris kam, bourbonisch gesinnt oder napoleonisch, bestätigte die ungeheuern Anstrengungen, welche dort zum Kriege gemacht wurden, den zwar Napoleon zu vermeiden wünschte, aber schon als gewiß ansah. Der Anhang der Bourbons war vernichtet oder ohnmächtig, auf eine Mitwirkung von dieser Seite im Augenblicke nicht zu rechnen. Als vorherrschende Richtung erschien die revolutionäre, republikanische, und die war noch mehr zu fürchten als selbst Napoleon, der sie noch kaum bewältigte, indem er ihr nachgab; Carnot und Fouché, die er zu Ministern weniger gewählt als notgedrungen angenommen, waren inhaltvolle Namen, deren Bedeutung auch das Ausland genugsam[103] kannte. Der Buchhändler Schöll aus Paris, bald nachher im preußischen Staatsdienst einflußreich angestellt und immer der Sache der Bourbons leidenschaftlich ergeben, konnte den Stand der Sache nicht anders schildern, als wie ihn auch der Graf von Schlabrendorf schilderte, der freiheitliebende, volksgesinnte, der in jener wichtigen Zeit mir ausführliche Mitteilungen machte, von denen leider nur der kleinste Teil an mich gelangen konnte. Wenn man die Verhältnisse im Zusammenhang erwog, durfte man zweifeln, ob es ratsamer sei, die Franzosen gleich anzugreifen, wodurch man ihnen die Unterwerfung unter ihren alten Kriegsanführer erst recht aufnötigte, oder sie sich selber zu überlassen, da sie denn ihr neues Oberhaupt schon genugsam bändigen oder auch abwerfen würden. Ich setzte die letztere Ansicht in einer Denkschrift auseinander, bei welcher mir besonders auch die Gegensätze vorschwebten, in welche der Krieg uns stellte, dessen Zweck sich schon ganz in das Gegenteil des vorigen zu verkehren drohte.

Wunderliche Erscheinungen in der Tat begleiteten die neue Bewegung. Mein Freund Justus Gruner, Generalgouverneur in Düsseldorf, erließ Aufrufe und hielt Reden, die durch ihren Fanatismus erschreckten und fast ärger waren als alles, was die Franzosen in dieser Art je geliefert. Auch in Berlin, wo der kriegerische Eifer so rein und edel war, zeigte sich der politische Sinn dürftig oder auf unsicherer Bahn; die Wortführer der letzten Jahre wußten noch immer nur von Franzosenhaß, und er sollte auch jetzt noch alles machen, da doch die Fragen der Zeit inzwischen sehr gewechselt hatten. Ich selber hatte das Unglück, in dieser Zeit einen Aufsatz zu schreiben, der fanatischer ausfiel, als ich es meinte und wollte, und von dem ich späterhin erfahren mußte, daß ihn der General Graf von Gneisenau, der von dem Verfasser nichts wußte, in zehntausend Abdrücken hatte vervielfältigen und überall austeilen lassen!

In Wien entstand während der Zwischenzeit, in der man sich besinnen und die Verhältnisse überlegen konnte, auch[104] sehr natürlich die Frage, wiefern etwa die Umstände zuließen oder gebieten könnten, daß Österreich, infolge seiner besondern Verbindung, die Herrschaft Napoleons in Frankreich sich gefallen ließe und zwischen ihm und den andern Mächten den Frieden vermittelte. Der Hof und das Kabinett haben diesen Gedanken wohl keinen Augenblick gehegt, aber angesehene Männer sprachen ihn freimütig aus, und am meisten verbreitet war er in der zahlreichen Klasse, die dem Volk am nächsten steht, ohne schon das Volk zu sein. Daß Gentz, wie versichert wird, im Augenblick der Schwäche, wo ihn die Verwirrung und Ungewißheit des Krieges erschreckte, diesen friedlichen Ausweg näher angesehen habe, ist glaublich genug.

Jedenfalls hatten die Mächte des Kongresses nicht für überflüssig erachtet, ihre gegenüber von Napoleon und Frankreich genommene Stellung nochmals umständlich zu erörtern und das Ergebnis öffentlich darzulegen. Nach reifer Prüfung hatten sie gefunden, daß ihre früheren Beschlüsse zu behaupten und der Krieg gegen Napoleon ungesäumt mit vereinten Kräften zu beginnen sei. Demnach mußte jeder Zweifel schwinden und alle Tätigkeit sich der ausgesprochenen Richtung zuwenden.

Der Kongreß konnte aber nicht schicklich auseinandergehen, ohne die noch schwebenden dringenden Fragen zu lösen und namentlich auch den deutschen Angelegenheiten schließlich eine feste Gestalt zu erteilen. Demnach wurde die sächsische Sache ernstlich wieder vorgenommen und mit allgemeiner Zustimmung am 18. Mai endlich zum Abschlusse gebracht. Die deutschen Sachen aber behielten auch unter dem drohenden Krieg und den Sorgen des Augenblicks ihre zögernde und schwierige Art; ja, die Bedenken und Einsprüche, kaum noch Hauptsachen betreffend, schienen gerade zuletzt alle Stärke und Starrheit aufzubieten, und mit unsäglicher Anstrengung und Nachgiebigkeit der leitenden Mächte kam endlich am 8. Juni die Deutsche Bundesakte zustande. Und auch da noch fehlten Württemberg[105] und Baden, die erst in der Folge ihre Unterzeichnung nachlieferten. Die Urheber selbst aber erklärten ihr Werk für mangelhaft, übereilt im Drange der Not und künftiger Ausbildung vorbehalten. Die Gesamtheit aller zu Wien eingegangenen Gebiets- und Verfassungsbeschlüsse wurde sodann, nebst den besondern Verträgen und Erklärungen, in eine allgemeine Urkunde zusammengefaßt und am 9. Juni als Akte des Wiener Kongresses von den Bevollmächtigten unterzeichnet. Sämtliche deutsche Staaten wurden später zum Beitritt aufgefordert. Damit aber auch hier die Schwäche menschlicher Dinge gleich äußerlich sichtbar würde, versagte der Bevollmächtigte Spaniens, Don Gomez Labrador, seine Unterschrift, nachdem er die Gründe seiner Weigerung einige Tage vorher durch eine dem Fürsten von Metternich übergebene Note dargelegt. Von den acht Mächten, die ursprünglich zusammengetreten waren, unterzeichneten demnach nur sieben, und außer der von Spanien ausgesprochenen stolzen Verwahrung erging alsbald auch noch ein nachdrücklicher Einspruch durch den Kardinal Consalvi im Namen des Papstes gegen alle Verfügungen, welche der Kongreß irgendwie zum Nachteil der katholischen Kirche getroffen habe.


Damit schloß der Wiener Kongreß. Doch die Enden der hier abgebrochenen Fäden hingen weit hinaus und wurden jetzt oder später mit aufgenommen und weitergesponnen. Zu untersuchen, was im ganzen geleistet, was gewonnen oder versäumt worden, ist hier nicht unsere Aufgabe. Im allgemeinen dürfen wir wohl das Gleichnis einer großen Überschwemmung heranziehen, wo es zuvörderst gilt, die noch rettbaren Gegenstände, eigne und fremde, möglichst bald auf das Trockne zu bringen, da denn freilich oft das eine Teil schon an der Sonne liegt, während das andere noch im Wasser schwimmt und wobei auch nebenher manches Stück gewonnen wird, das man kaum gehofft und nicht in ersten Wert gestellt hatte. Auf das Trockne aber wurde[106] viel gebracht, und es ist nicht die Schuld des Kongresses, wenn spätere Arbeiter die Sache nicht gehörig weiter besorgt oder gar manches zerbrochen haben. Die neue Feststellung und Gewährleistung des Besitzstandes wie auch mancher Verfassungsrechte wurde die Grundlage eines neuen Staatensystems, das in seinem Äußern seit zwanzig Jahren allerdings manche Veränderung erfuhr, im wesentlichen aber noch fortdauert und der Boden ist, auf dem wir stehen.


Inzwischen waren aus allen Gegenden und Fernen die großen und kleinen Heereskräfte unablässig gegen den Rhein und die Niederlande in Bewegung. In Belgien sammelte Wellington die englisch-niederländisch-hannöversche Kriegsmacht, Blücher gleich daneben die preußische; die russischen, die österreichischen Truppenmassen zogen dem Mittel- und Oberrheine zu. Viele der bisher in Wien vereinigten Fürsten, Staatsmänner, Generale waren in ihre Heimat zurückgekehrt oder dem neuen Kriegsrufe gefolgt. Auch die großen Herrscher hatten ihre Abreise längst beschlossen und verließen endlich Wien, um demnächst im Feldlager aufs neue zusammenzutreffen.

Wir waren durch den Frühling hindurch- und tief in den Sommer hineingegangen und sahen die winterlich vollgedrängte Kongreßstadt nach und nach leer werden; die ländliche Umgegend öffnete sich, die weite Ferne zog an, und nach und nach verlor sich, was nicht dem Mittelpunkte der Geschäfte angehörte. Auch wir genossen des Aufenthaltes nur noch als Scheidende, denn es war längst ausgesprochen, daß ich nicht in Wien bei der Gesandtschaft, sondern fortan in der Umgebung des Staatskanzlers bleiben und meine Arbeiten unmittelbar von ihm empfangen sollte. Unsere Gesellschaft war zerstreut, Graf von Flemming und Baron Franz von Eckardstein, Meier aus Rathenau waren zum Kriegsdienst abgegangen, desgleichen Tettenborn, Bentheim, Nostitz und andere unseres Kreises, nur wenige Landsleute und näher Befreundete weilten noch. Wir machten schöne Fahrten[107] in der herrlichen, reichen Gegend, genossen der frischen Sommerluft im Augarten, in der Brigittenau, in Schönbrunn, Nußdorf, auf dem Kallenberg, in Weidling am Bach, oft wir beide allein, zuweilen in Begleitung eines lieblichen Wiener Kindes, das uns durch seine Zuneigung und sein unübertreffliches Wienerischreden gar sehr erfreute. So lief der prächtige Kongreß mit seiner Hof- und Staatswelt und neuer Kriegsflamme für uns persönlich in friedliche Bilder ländlich-idyllischer Tage aus, bis die Mahnung des nahen Scheidens uns erinnerte, daß auch wir den Störungen angehörten, von denen die Welt erfüllt war. Ich war benachrichtigt, dem Staatskanzler nach Berlin, demnach in das Hauptquartier, zu folgen. Rahel wollte die Wendung der Dinge in dem sichern Wien abwarten und war dringend eingeladen, für die nächste Zeit an dem Landhausleben der Frau von Arnstein bei Wien und in Baden teilzunehmen. Solcher guten Obhut und Gesellschaft für sie versichert, reiste ich am 11. Juni mit dem Geheimen Staatsrat Stägemann, dem ich als Reisegefährte zugewiesen war, von Wien ab. Wir gingen über Linz und Prag nach Berlin, wo Hardenberg noch vor uns eintreffen mußte und in Friedens- und Kriegsgeschäften ein neuer Strudel unser harrte.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 38-108.
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