Frankfurt am Main

1815–1816

[150] Rahel bewohnte an der Allee einige wohlgelegene Zimmer, und auch mir fand sich noch das nötige Gelaß. In der Ungewißheit, ob nicht der nächste Tag eine Veränderung[150] brächte, war an keine dauernde Einrichtung zu denken, doch gewährte die vorhandene noch Behagen genug. Aus dem politischen und geselligen Treiben von Paris hieher versetzt, fühlte ich mich wie in einem freundlichen Stillleben; wirklich hatte hier alles das Ansehen bänglicher Erwartung, und aller Augen waren dorthin gerichtet, woher so manche Entscheidung kommen mußte. Was ich mitzuteilen hatte, war nicht sehr tröstlich, und in der deutschen Heimat regte sich auch schon vielerlei, was den treuen Freund des Vaterlandes bekümmern durfte. Mit der verschwundenen Gefahr schien auch ein guter Teil des bisherigen Eifers erloschen, und in der Sphäre der Regierungen und Vornehmen offenbarten sich unverhohlene Neigungen zu Rückschritten, zur Abweisung und Herabdrückung der Volkskraft, auf die sie noch eben sich gestützt hatten. Das Schmalzische Unwesen wucherte fort und setzte überall seinen faulen Schimmel an, während andere Mißgewächse ihr Gift doch in etwas angenehmeren Düften verbreiteten. Ich unterließ nicht, diesen Widerwärtigkeiten scharf entgegenzutreten, sah jedoch wahre Hülfe nur in großen Anordnungen öffentlichen Staatslebens, dem sich die Deutschen damals gutmütig nahe glaubten, während der Verlauf der nächsten dreißig Jahre nur immer mehr ihre Entfernung davon anzeigen sollte!

Einstweilen versäumten wir nicht, solange das gute Wetter es erlaubte, die Annehmlichkeiten des Ortes zu genießen, die ländlichen Umgebungen diesseits und jenseits des Mains zu besuchen, die städtischen Altertümer zu betrachten, wobei sich vor allem auch der Vorzug geltend machte, daß dieser Boden der Schauplatz von Goethes Jugend gewesen war und noch so viele Zeugnisse seines Daseins trug. Ich konnte mich nicht zufriedengeben, Goethen selbst hier versäumt zu haben; denn während ich in Paris war, hatte er eine Woche hier zugebracht und auch Rahel besucht, worüber sowie über andere Begegnisse mit ihm sie mir genau berichten mußte, nicht ohne das wiederholte Bedauern, die Gelegenheit[151] eigentlich schlecht benutzt zu haben. Gegen unsern Eifer stach freilich die Gleichgültigkeit sehr ab, mit welcher die Frankfurter in der Regel den Namen abfertigten, durch den sie doch am meisten vor aller Welt verherrlicht waren, und ich führte dagegen preisend die tiefe und warme Verehrung an, mit der die Hamburger den unter ihnen lebenden Klopstock allgemein gehegt hatten; von Denkmalen und Bildsäulen war damals noch keine Rede, die später sorglich gesammelten Reliquien der früheren Lebenstage wurden kaum beachtet, aber auch die eifrige Mahnung von Rahel, wenigstens die Straße, in der Goethes Vaterhaus steht, mit wohlfeiler Ehrenbezeigung in eine Goethestraße umzutaufen, erregte bei dem Bürgermeister und den Schöffen, in deren Gegenwart sie geäußert wurde, nur ein sauersüßes Lächeln.

Eine plötzliche Unterbrechung erfuhr dieser stille Lauf unserer Tage, als nach erfolgtem Schlusse der Pariser Verhandlungen am Ende des Novembers der Fürst von Hardenberg mit seinem Schweife zahlreichen Gefolges heranbrauste und alles von preußischen hohen und niedern Beamten, Kanzleien sowie von mannigfachem literarischen und militärischen Anschluß gleichsam überschwemmt wurde. Die drei Tage, welche der Staatskanzler in Frankfurt verweilte, waren erfüllt von Vorstellungen, Audienzen, Gesuchen, Anfragen, Aufdringlichkeiten; aus der Umgegend, aus dem Rheinland, war jeder herbeigeeilt, der ein Anliegen bei Preußen hatte, dies oder seine Person in Erinnerung bringen wollte; Otterstedt hatte alle Hände voll zu tun, diese Menge zu übersehen, einzuführen oder abzufertigen. Ohne einigen Mißmut ging es dabei nicht ab; so verursachte es nicht geringe Aufwallung, daß Amschel von Rothschild, der für die in Frankfurt noch hartbedrängte Judenschaft die Zusagen des Wiener Kongresses in Anspruch nahm, vor dem Bürgermeister von Humpracht zur Audienz gelangte und dieser warten mußte, bis jener mit seiner Sache fertig war. Doch Hardenberg schien in diesem Gedränge sich nur zu[152] erholen; mit unermüdeter Aufmerksamkeit und Anmut suchte er allen Forderungen zu genügen und hatte noch am späten Abend, wenn er seine Tochter, die Gräfin von Custine und andere Damen zum Tee sah, die frischeste Heiterkeit. Ich selbst fand ihn freundlich für mich, aber doch merklich kälter als zuletzt in Paris; ich erfuhr auch aus einigen Äußerungen, daß er glaubte, er habe sich über mich zu beklagen, doch was er meinte, kam nicht an den Tag, und nur war mir klar, daß von irgendeiner Seite ihm ungünstig eingesprochen worden. Meine Bestimmung nach Karlsruhe blieb fest; es wurde unnötig erachtet, daß ich noch erst mit nach Berlin reiste, ich sollte meine Ausfertigungen nur getrost in Frankfurt abwarten. Ich war sehr froh, der Mitreise überhoben zu sein, obschon ich später einsehen mußte, daß dies nicht eben zu meinem Vorteil war.

Nach Hardenbergs Abreise blieb in Frankfurt eine Art preußischer Ansiedelung zurück, die sich durch mancherlei Geschäftsberufene sowie durch Nachzügler aus Paris und andere Reisende abwechselnd mehrte. Das Haupt derselben war Humboldt, der die hieher verlegten Verhandlungen wegen der in Deutschland noch unerledigten Gebietssachen führen sollte, die ihm beigegebenen Gehülfen Legationsrat Boideslandes und Graf von Flemming wurden noch durch den jungen Bülow aus Heidelberg verstärkt. Wegen besonderer Geschäfte hatten hier preußische Verpflegs-und Kassenbeamten, Militärpersonen und andere Zuwarter ihren längern Aufenthalt. Auch der Minister vom Stein wollte den Winter in Frankfurt verleben und hatte deshalb eine Wohnung an der Schönen Aussicht gemietet; er hegte den eifrigen Wunsch und die sichere Hoffnung, beim Deutschen Bundestage, dessen Eröffnung bisher verschoben geblieben war, aber nun nächstens erfolgen sollte, als der Gesandte Preußens eine würdige vaterländische Wirksamkeit zu erhalten, was bekanntlich unerfüllt blieb; denn nachdem er ausdrücklich erklärt hatte, er verbäte sich dabei jede Besoldung, was[153] ihm als reichem, auf altererbtem und neugewonnenem Boden fest gegründeten Manne wohl anstand, so wollte man darin zu Berlin doch eher einen Stolz und Trotz erkennen, der sich durch jenes Verzichten eine unabhängigere Stellung zu geben beabsichtige, als die Oberbehörde ihm gestatten dürfe, und der König äußerte, wenn er Diener habe, die sein Geld nicht nötig hätten, so könne ihm das ganz recht sein, aber solche, die es zu nehmen zu stolz wären, wolle er nicht haben. Übrigens hatte die Sache noch lange Zeit, man wußte höheren Orts recht gut, daß der Bundestag so schnell noch nicht ins Leben treten und bis dahin noch mancher Wechsel statthaben würde.

Bald erschien auch der Minister von Altenstein, der seine mühsamen Arbeiten zu Paris hinsichtlich der Zurückforderungen sowohl des Staates als so mancher Privaten mit Erfolg beendet hatte. Bei einem langen Besuche, den er mir machte, entwickelte der sinnige und gelehrte Mann mit vieler Wärme die schönen Hoffnungen, welche er für die nächste Zukunft Preußens hegte; nach seiner Überzeugung durften wir einer nie gesehenen Blüte der Volksbildung entgegenschauen, er zweifelte als treuer Jünger Fichtes nicht, daß dessen Ideen über Volk und Staat immer mehr durchgreifen, daß namentlich Unterricht und Erziehung einen hohen Schwung nehmen und Preußen zu einem Muster für ganz Deutschland erheben würden. Ein preußisches Parlament, schon in Wien feierlich versprochen, glaubte er ganz nahe und war versichert, dasselbe würde das ruhmvollste Beispiel von edler Eintracht des Volkes und der Regierung darstellen. Solchen Hoffnungen konnte ich nur sehr bedingt beistimmen; ich meinte, wir würden zwar zu allem gelangen, aber weder so schnell noch so leicht, als er es voraussetze; es würde Zeit und Kampf erforderlich sein. Wenn er sich späterhin während seiner vieljährigen Amtsführung als Minister des Kultus seiner heitern Aussichten von damals noch erinnert hat, mit wie schweren Seufzern wird er sich haben gestehen müssen, daß mein Trüb- und Schwarzsehen, wie[154] er es nannte, verhältnismäßig eher noch als blendende Helle zu bezeichnen gewesen wäre!

Alles geriet in Bewegung, als es hieß, auch der Fürst von Blücher werde auf seiner Heimkehr durch Frankfurt kommen und einige Tage dort verweilen. Er traf am 18. Dezember ein und blieb bis zum 4. Januar 1816. Von seinem Aufenthalt, seinen Reden und Einfällen, von der Teilnahme, die ihm überall entgegenkam und die er selbst äußerte, hab ich an anderm Orte schon berichtet. Ich bemerke hier nur noch, daß wir mit ihm den 21. Dezember auf einem großen Tee waren, zu welchem Otterstedt die Einheimischen und Fremden in großer Anzahl geladen hatte; der alte Held erschien zuerst ganz artig und zahm, tat schön mit den Damen und gab den Frankfurtern die angenehmsten Worte zu hören; aber bald wandte sich das Blatt, es war unglücklicherweise der Schlacht von Waterloo erwähnt worden, und da ereiferte er heftig, daß man die Schlacht, die er von Belle-Alliance genannt habe, mit jenem Namen zu belegen sich erdreiste, wenigstens in Deutschland solle das nicht geschehen und nicht daß er es höre! Als ihm jemand einzuwenden wagte, daß der Name ja ein welscher und dafür doch besser Schönbund zu sagen sei, rief er mit flammendem Zorn: »Hol euch der Teufel mit eurem Schönbund! Putzt eure Zungen deutsch, soviel ihr wollt, alles Welsche kriegt ihr doch nicht herunter! Belle-Alliance heißt das Stück, das wir dort aufgeführt haben, und heißt so, wenn's auch nicht mehr wahr ist und die Allianz nicht Stich hält! England ist schuld, daß wir arm wie Kirchenmäuse nach Hause gehen und die Franzosen Elsaß und Lothringen behalten.« Dergleichen Verdruß und Ärger spann sich lange fort, bis irgendein muntrer Einfall ihn auf andere Bahn führte oder ein Vorschlag zum Spiel alles andere vergessen machte. Alter und Krankheit übrigens drückten ihn sichtbar, und man durfte mit Recht befürchten, daß der Rest seiner Tage in der begonnenen Friedenszeit nur mit manchem Übelstand sich werde unterbringen.[155]

Auch aus der Heimat wurden manche Züge kund, welche das abgestandene Alte mit dem frischen Neuen in offenem Kriege sehen ließen. Vorurteile, die zwanzig Jahre geschlummert hatten, Anmaßungen, die man für völlig erloschen hielt, wachten unvermutet in plumpen Regungen wieder auf, welche, durch kein öffentliches Ansehen gemäßigt, durch keine geordnete Kraft der Meinung gehemmt, nur allein den schroffen Gegensatz hervorriefen, der dem besonnenen Vaterlandsfreunde fast ebenso bedenklich erschien. Man sprach viel von einer Adelskette, die kürzlich gestiftet worden war und deren stählernes Zeichen alle echten Edelleute verpflichten sollte, gegen den Bürgerstand zusammenzuhalten und ihn auf ein Gebiet zurückzudrängen, das er weit überschritten hatte. Dieses Absehen war um so gefährlicher, als seit den letzten Kriegen wenigstens ein Dritteil der Offiziere des preußischen Heeres bürgerlich war und an Tüchtigkeit und Waffenlust nicht zurückstand; bisher hatte niemand einen Unterschied anzudeuten gewagt, gemeinsame Gefahr und Bildung waren das Band biederer Eintracht, die jetzt durch Mißtrauen, Empfindlichkeit und Leidenschaft so häßlich getrübt werden konnte. Schon hieß es, die bürgerlichen Offiziere sollten nach und nach wieder abkommen oder wie sonst nur bei der Artillerie und den Husaren dienen, durchaus aber nicht in den Königlichen Garden, als welche wie durch Beruf so auch durch Ehre bevorrechtet sein müßten. Wider solcherlei Tichten wußte die Gegenseite kein anderes Heil als das rohste Volkstum, man warf sich in die knappe Deutschheit und in ihre kräftigen Auswüchse, das Turnwesen und die Burschenschaft, wodurch diese an sich vortrefflichen Einrichtungen leider entarten mußten.

Aber nicht allein Aristokratie und Demokratie bedrohten den ruhigen Entwickelungsgang der gegen den äußern Feind so ruhmvoll wiedererkämpften Freiheit, eine dritte, weit gefährlichere Strebung zeigte sich bemüht, allen in Gesinnung, freiwilligen Opfern und edler Tat ausgeprägten Ertrag[156] der letzten Jahre zum Vorteil der alten Stockherrschaft und Behördenmacht einzuschmelzen, eine Strebung, die sich durch den brutalen Ausfall von Schmalz gegen den Tugendbund keck angekündigt hatte und in mancherlei Wegen durch Verunglimpfung und Anfeindung der besten Männer offen und geheim betriebsam fortsetzte. Den klarsten Beweis der wachsenden Macht dieser Partei wollte man besonders in dem von Berlin bald nach Anfang des Jahres ergangenen Verbote des in Koblenz von Görres herausgegebenen »Rheinischen Merkurs« erkennen. Dieses einst von Gentz hoch gepriesene Tagesblatt, von der öffentlichen Stimme dem Bunde wider Frankreich als mitverbündete Macht freudig zugezählt, in Kühnheit und Meisterschaft freier Rede unübertroffen, wurde durch einen Federstrich unterdrückt, wegen geringen Anlasses, ohne Gehör und Verteidigung. Unglaublich war der Eindruck dieser Maßregel. Im ganzen westlichen und südlichen Deutschland hatte das Blatt die eifrigsten Anhänger, es galt für eine Fackel der Wahrheit und Freiheit, und selbst diejenigen Leser, denen es wegen der darin bisweilen hervortönenden fanatischen Klänge zu mißfallen begann, bedauerten dieses sein Ende durch die Polizei. Das Blatt hatte bisher Herrscher und Obrigkeiten ungestraft angreifen dürfen, kein noch so hoher Einspruch war beachtet worden, man hatte ihm alles erlaubt, es stellte eine Insel von Preßfreiheit dar, ein noch einzelnes Vorbild dessen, was künftig allgemein werden sollte. Diesen Gedanken war nun mit einem Schlage der Garaus gemacht. »Da seht ihr«, riefen die Nichtpreußen, »wie es bei euch gemeint ist! Eure stolzen Einbildungen fallen wie Sternschnuppen zu Boden. Mit eurer Verfassung wird es ebenso gehen. Geht nur heim und seid Preußen, wie ihr mögt und könnt, aber mit eurem Deutschtum, in welchem ihr obenanstehen und dem wir uns anschließen sollen, laßt uns ungeschoren!« Dergleichen Reden sind wirklich geführt worden, und unsere höchsten Staatsbeamten klagten, daß sie solche hätten verstummend anhören müssen. Humboldt aber vertraute[157] mir die bedenkliche Bemerkung, wie sehr doch Hardenberg im Augenblicke bedrängt, wie gefährdet sein Ansehen und wie umstrickt seine Hand sein müsse, um solche Maßregeln außerhalb des Geleises der bisher klüglich bezeichneten Bahn querfeldein zu treiben.

In Frankfurt selber regte sich der Widerspruch des Althergebrachten gegen die Neugestaltung nach Vermögen. Die unerwartet zur Selbständigkeit hergestellte Stadt hatte sich bisher mit einem einstweiligen Regierungszuschnitt beholfen, der jetzt in eine schließliche Verfassung übergehen sollte. Der Wiener Kongreß hatte dafür einige Bestimmungen festgesetzt, andere mußten aus dem Bürgerwesen selbst hervorgehen. Man war geneigt, soviel als möglich die früheren Formen hervorzurufen, aber ganz war dies nicht möglich, schon weil Kaiser und Reich nicht ebenfalls hergestellt waren und jeder Bezug auf diese wegfiel; anderes hatte sich längst überlebt und durfte als Totes nicht dem Lebendigen hinderlich werden. Das Verfassungswerk war eben in der Arbeit, und mehrere wohlgesinnte Rechtsgelehrte, unter ihnen Doktor Jassoy, hatten dem Rat eine hierauf bezügliche Eingabe überreicht, welche zu gewissen zeitgemäßen Richtpunkten hinwies, vor andern unzeitgemäßen warnte. Diesen Stimmen entgegen erhob sich der Schöff von Fichard, welcher für seine Standesgenossen, die Mitglieder der Häuser Limpurg und Frauenstein, die früheren Vorrechte dieser Patrizier heftig in Anspruch nahm. Dieser Mann, in staatsrechtlichen Altertümern bewandert und auch Schriftsteller in diesem Fache, genoß doch weder als Gelehrter noch in sonstiger Hinsicht das erforderliche Ansehen, einer solchen Sache vorzustehen; allein er wurde von vielen und einflußreichen Eiferern unterstützt, sowohl in als außer Frankfurt, man nannte bedeutende Namen, Christian Schlosser, Solms-Laubach, sogar Stein, und deshalb empfing die Schrift des Schöffs von Fichard mehrere Antworten, die schärfste und bündigste durch den Doktor Johann Gottlieb Dietz, der mittelst weniger Blätter den armen Gegner so in die Enge[158] trieb, daß er keinen Laut mehr hören ließ. Indes hielten die Patrizier ihre Sache noch nicht für verloren und rechneten auf den erwarteten Bundestag, wo sie genug Gönner und Freunde zu finden hofften. Doch ein freisinniger, witziger Staatsmann, der schon in Frankfurt lebte, um demnächst als Gesandter bei dem Bundestage einzutreten, verdarb ihnen auch diese Hoffnung, indem er ohne Hehl erklärte, er würde in betreff dieses wiederzuerweckenden Stadtadels zu seinen künftigen Kollegen mit den Worten der Heiligen Schrift reden, wo es von dem gestorbenen Lazarus heißt: »Er stinket schon, denn er ist vier Tage gelegen«, und er wollte hinzufügen: »Fühlet ihr euch nun Kraft des Heiligen Geistes, so erwecket ihn«, da er denn überzeugt war, daß niemand sich solche Kraft des Heiligen Geistes werde anmaßen wollen.

Einer andern Streitfrage widmeten die Frankfurter einen weit lebhaftern Eifer, sie betraf das Verhältnis der Juden. In der alten Reichsstadt hatten diese zum Teil ältesten Bewohner derselben unter furchtbarem Drucke gelebt, durch die Regierung des Fürstenprimas und Großherzogs von Frankfurt war ihnen Anteil an den Rechten der christlichen Mitbürger geworden, der jetzige Zustand drängte sie möglichst in die alte Beschränkung zurück. Allerdings war der Wiener Kongreß bemüht gewesen, ein billiges Verhältnis für die Juden innerhalb aller Länder des Deutschen Bundes festzusetzen; allein dies war nur in allgemeinen Worten ausgesprochen, und die Hauptsache blieb den örtlichen Einrichtungen überlassen. Das Vorurteil gegen die Juden hatte sich in Frankfurt unglaublich tief eingewurzelt, und nicht nur das gemeine Volk nährte den Haß mit niedriger Lust, sondern auch mancher Gebildete stand in diesem Betreff mit dem rohen Volke vollkommen gleich. Der Senat und die Bürgerschaft waren durchaus nicht geneigt, den Juden die Rechte zu bewilligen, die sie schon als Staatsbürger des Großherzogtums Frankfurt genossen hatten; die Wiener Kongreßakte erfuhr die ungünstigste Auslegung; die dringenden[159] Verwendungen Metternichs und Hardenbergs, sonst überall durchgreifend, zerschellten an dem Eigensinne des Vorurteils. Der Bundestag, der hier einschreiten und das richtige Maß angeben sollte, war noch nicht vorhanden, und man sprach ihm schon alle Befugnis ab, die Bürger einer Freien Stadt zum Nachgeben zu zwingen. Die Unterscheidung, welche ein Klügling aufstellte, daß die Juden in andern Staaten mit dem Bürgerrechte nur dieses, aber nicht Anteil an der politischen Macht erhielten, wie dies in Frankfurt der Fall sein würde, galt für einen wichtigen Fund, der triumphierend emporgehalten wurde; doch dies weckte nur den Spott, man rechne in Frankfurt sonst mit Gulden und Kreuzern, jetzt aber solle eine Berechnung des unendlich Kleinen stattfinden! Eine triftigere Bemerkung war, daß alles Bürgerrecht, wo es vollständig sei, immer auch politisches Recht in sich begreife und daß, wo dieses noch fehle, der Zustand eben mangelhaft sei. Als der Senat in seinen beschränkenden Maßregeln unbekümmert vorschritt, erschien für die Sache der Juden eine Verwahrung – gegen die Gewohnheit deutscher Aktenstücke so bündig, klar und fest, daß sie ungemein auffiel, und Rahel geradezu behauptete, der Verfasser müsse ein Mensch von großen Geistesgaben sein; das schien denn doch sehr übertrieben; niemand wußte den Mann zu nennen, allein Rahel ruhte nicht, bis der Namen erforscht war, da ihr denn mit einigem Lächeln berichtet wurde, diesmal habe sie sich doch geirrt, der Verfasser sei ein wenig bekannter Jude, der unter dem Großherzog von Frankfurt ein elendes kleines Amt bei der Polizei gehabt, dies aber bei der Freien Stadt gleich wieder verloren habe, natürlich schreie er nun – sein Vater heiße Baruch, er aber nenne sich Börne. Noch in spätern Jahren freute Rahel sich mit innigem Behagen, daß sie den nachher berühmten Mann gleichsam entdeckt habe, aus der Klaue des Löwen!

Die Unruhe, welche der Krieg unter die Menschen gebracht hatte, dauerte gleich den aufgeregten Wellen nach[160] dem Sturme fort, und dies um so mehr, als die militärische Besetzung eines Teiles von Frankreich noch einen halben Kriegszustand anzeigte und in Deutschland nach dem großen Umschwunge so vieles noch ungeordnet lag. Die Meinung, der Krieg sei noch nicht ausgefochten und müsse nochmals anheben, war sehr verbreitet, auch im untern Volke. Frau von Krüdener zog mit großem Anhang im Lande umher und predigte den Bauern diesseits und jenseits des Rheins von nahen Strafgerichten, die nur durch Buße und Heiligung abzuwenden seien. Sie enthielt sich zwar möglichst aller bestimmten politischen Andeutungen, aber sie gab doch zu verstehen, daß es mit den Bourbons nicht ganz richtig bestellt sei und daß die christlichen Herrscher noch große Aufgaben zu erfüllen hätten. Ein Bauer in Wiesloch bei Heidelberg, der schon früher mit Weissagungen sich abgegeben, wurde durch dieses Beispiel aufgeregt, griff nach dem alten Handwerk, hatte in seinem Dorfe nicht Rast mehr und machte sich auf den Weg nach Frankfurt. Hier fing er an zu prophezeien, was binnen Jahresfrist sich ereignen werde: eine völlige Umkehrung der Welt, vor allem aber der Sturz der Bourbons und die Teilung Frankreichs; die vier verbündeten Monarchen würden darauf in Mannheim – sein Flug ließ sich gleich auf der nächsten ihm bekannten und in die Augen scheinenden Stadt nieder – ein prächtiges Schloß vereint bewohnen und von hier aus die ganze Christenheit gemeinsam regieren! Dies alles hatte der Geist ihm offenbart und ihm zugleich befohlen, es zu verkündigen; seine Sendung war insbesondere an den König von Preußen gerichtet, zu dem er schon einmal im Jahre 1807 nach Memel gewandert und von ihm und der schönen Königin für seine damaligen tröstlichen Vorhersagungen reichlich beschenkt sein wollte. Die Geheimnisse der Politik lagen ihm offen vor Augen; da er aber nicht wissen konnte, was im Augenblicke den Leuten wichtig war, so erbot er sich, jede beliebige Frage dem Geiste vorzulegen und dessen Auskunft richtig zu überbringen. Mit den Kabinetten[161] und Diplomaten schien es demnach zu Ende, der Inhalt aller Depeschen war ohne Mühe durch den Seher zu erfahren, und Preußen vor allen schien auf seine Dienste rechnen zu können. Er hieß Adam Müller, und diese Gleichnamigkeit mit dem österreichischen, auch mit etwas Seherwesen behafteten Staatsdiener gab zu manchen Verwechslungen und Scherzen Anlaß. Der Wundermann wurde mir zugeschickt und trank einen Nachmittag bei uns Kaffee, in Gegenwart Oelsners, den er durch seine Aussagen ungemein ergötzte. Mit großer Treuherzigkeit erzählte er seine Begegnisse, an die er selber zu glauben schien, und bekräftigte alles durch Bibelsprüche, die er aufs Geratewohl anführte, passend oder nicht, so daß er eher bibeltoll als bibelfest heißen konnte. Seine Reden verrieten keinerlei trüglichen Zweck, er gefiel sich nur in dem Aufsehen und Anteil, die sein Prophezeien erweckte; aber die Leute, die er gerade vor sich hatte, schien er ziemlich gut zu durchschauen, und mit echter Bauernverschmitztheit sprach er ihnen nach dem Munde. Die Reise nach Berlin ließ er sich nicht ausreden; allein er kam bald wenig befriedigt von dort zurück, und der Geist hatte nun auch für Preußen nur minder gute Vorhersagungen.

In der Tat, das Frühjahr schritt vor, und die mir von Berlin wiederholt als nahe verkündigten Ausfertigungen für meine Bestimmung nach Karlsruhe ließen noch immer auf sich warten. Ich wußte wohl, daß noch stets in den diplomatischen Stellen allerlei Wechsel beliebt wurden, daß nun der Geheime Staatsrat von Küster als Gesandter nach Stuttgart bestimmt sei und daß auch Bewerber um den mir bestimmten Posten nicht fehlten; allein ich wurde versichert, es stehe fest, daß ich nächstens denselben antreten solle. Hier war nun nichts übrig, als sich auf weiteres Warten ruhig einzurichten. Sah ich doch ebenso den Bundestag verzögern und mehr oder minder alle Staatsgeschäfte, sie mochten Namen haben wie sie wollten!

Welchen Eindruck ich von dem allgemeinen Zustande der[162] Dinge damals hatte, gibt ein Brief zu erkennen, den ich am 13. Mai 1816 an Perthes schrieb und der in dessen Lebensbeschreibung ohne meinen Namen bereits gedruckt worden:

»Sie klagen mich an«, schrieb ich, »daß ich alles schwarz und nur immer schwärzer sehe? Also von allem, was ich am Rhein neuerdings erfahren, hier gesehen und aus Berlin, Paris, der Schweiz usw. geschrieben bekommen, will ich Ihnen lieber nichts sagen. Lieber Perthes, wer den Aasgeruch spürt, soll der sich nicht die Nase zuhalten? Ich sehe das Gute, was diese Zeit entwickelt, vielleicht in dem blendendsten Schimmer, in unruhiger Begeisterung; ich bin der Ansicht und Betrachtung, die Sie mir in freundlichen Worten so wohlwollend und tröstend mitteilen, keineswegs fremd; wer möchte, ja wer könnte ohne solchen Glauben, was sage ich, ohne Glauben – ohne solche beständig zuströmende Anschauung die weltlichen Tage noch ertragen! Aber diese Ansicht führt mich weiter, als Sie es ausdrücken. Was über die Gegenwart erhebt, ändert die Gegenwart nicht. Jetzt ist gerade nicht ein günstiger Geschichtsmoment auf der Erde; alles tot und faul, Neues erst im Keime. Und was von dem Alten noch steht, das wird fallen; ich sehe es, wie die es umstürzen, die es halten wollen. Sie sind älter als ich, lieber Perthes, und an Lebens-und Welterfahrung reicher, aber ich sehe andere Dinge, wie Sie sie in dem bei mittelmäßigem Winde wieder ziemlich in Gang gekommenen guten Hamburg aufgedrungen erhalten! Es ziemt mir nicht, Ihnen alles einzelne schriftlich mitzuteilen, auch wäre es schwer; aber das kann ich Ihnen versichern, bei vielem schlügen Sie die Hände über dem Kopfe zusammen. Wenn ich alles zusammenfasse, so muß ich als schwarzer Unglücksvogel Sturm verkünden, wo soll es hin? ›Les peuples existent‹, sagt Mirabeau, ›mais malgré les gouvernements.‹ Diese letzteren arbeiten aber jetzt an ihrem eigenen Untergange mit einem Eifer, einer Tätigkeit, einer Geschicklichkeit, daß man die Frucht ihres Schweißes bald wird genießen können.[163] In Deutschland kommt es soweit, wie es in Frankreich war, aber das kann noch eine Weile hin sein. Erst werden jetzt überall hübsche Aristokratien eingerichtet, damit der Adel nicht milde vergehe, wie die Natur es einem Sterbenden erlauben will, sondern noch so viel Kraft einatme, um den Gang zum Schafott auszuhalten. Rasend sind die Menschen, verrückt; hörten Sie doch, was selbst die Besseren im Vertrauen zu äußern wagen, sähen Sie doch nebeneinander, was zum Beispiel Gentz in seinem Innern erkennt und denkt und was er einem verehrungswürdigen Publikum kecklich mit Salbung vorlügt. Ich nenne das Allereinzelste; es soll nicht beweisen, am wenigsten erschöpfen, nur durch etwas Farbe beleben, was sonst als ein aschgraues, gesichtsloses Phantasma gelten möchte.«

»Seit meinem letzten Briefe«, heißt es vier Wochen später, »hat sich manches näher gezeigt, was mich damals beschäftigte; aber schöner ist es nicht geworden. In Württemberg nimmt die Sache eine recht schlechte Wendung; daran kann kein Wohldenkender noch Gefallen finden! Im übrigen Deutschland – daß sich Gott erbarm; es mag gut sein, daß die Völker mit ihrer frischen Naturkraft wie rohe Kinder wild aufwachsen, aber Erziehung soll man das denn doch nicht nennen. Ich stehe an einer Stelle, von welcher man in diesem Augenblicke vielleicht noch mehr als in Wien und in Berlin das gegenwärtige deutsche Staatenwesen, die gegenwärtig herrschenden Gesinnungen und Absichten erkennen kann und in ihrer Erbärmlichkeit verachten muß.«

Meine beabsichtigten Arbeiten gerieten jedoch bald ins Stocken. Gegen Mitte des Juli trafen die erwarteten Ausfertigungen von Berlin endlich ein, und wir reisten ohne Verzug über Mannheim nach Karlsruhe.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 150-164.
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