Paris

1814

[7] Ich war in dem wohlbekannten Hôtel de l'Empire abgetreten; die nötige bürgerliche Kleidung, in welche jeder Stand und Rang hier beeifert war unterzutauchen, war gleich zur Hand, und ich begann meine Fahrten und Gänge, mir das wohlbekannte und durch den Wechsel der Ereignisse doch völlig neue Paris in Augenschein zu nehmen. Außerdem, daß die Fremden nun als solche in ihrer Tracht und Wehr und Selbstigkeit zahlreich und angesehen hervorragten, zeigten auch die Franzosen eine von der frühern ganz abweichende Physiognomie. Mit den Bildern ihrer Kriegsübermacht, die ihnen seit langen Jahren schmeichelnd vorgehalten worden, waren auch die meisten andern Festigkeiten, an denen sie ihr Leben regelsicher zu halten meinten, zusammengebrochen oder schwankend geworden, die tonangebende Meinung, das selbstzufriedene Betragen, der helle und rasche Überblick ihrer Zustände und Welt, der ihnen im Praktischen von jeher so großen Vorteil gab, alles war plötzlich fort, mußte erst wieder gefunden, wieder errungen werden, und das Wo und Wie lag in tiefem Dunkel. Napoleons Stern war untergegangen, das war gewiß, ihm blickten sehnend und trauernd einzelne Anhänger nach, aber die große Menge hatte sich völlig abgewandt. Die Anhänger der Bourbons jubelten laut, und niemand störte sie, aber in ihren eignen Reihen war große Unruhe und schon mannigfache Spaltung; die wenigsten von ihnen hatten ihre Treue durchaus rein erhalten, die meisten, und unter diesen[7] die vornehmsten und fähigsten, mußten sich größere oder geringere Abweichungen verzeihen lassen; war doch sogar Chateaubriand in diesem Falle! Und während nun die Ausschließlichen sich den höchsten Lohn, den andern aber gerechte Strafe zuerkannten, fühlten sie doch sogleich die Notwendigkeit, auch den erst heute entstandenen Eifer gelten zu lassen und ihm einige Anschließung zu gönnen. Die Politischen hinwieder wollten, von der Gegenwart ausgehend, nur die Zukunft ins Auge fassen; ihnen galt Gesinnung und Hingebung nur insoweit, als sie heute zu brauchen waren, und es zeigte sich bald, daß die eigentliche Kraft der Dinge bei ihnen war; die altadeligen Offiziere und Beamten, die unter dem Kaiser gedient hatten, aber nun von ihm abgefallen waren, standen im größten Vorteile des Augenblickes, sie waren am meisten geeignet, der neuen Sache mit Kraft und Erfolg zu dienen. Die Freiheitsfreunde und Republikaner, sofern sie nicht schon in das Kaisertum übergegangen waren, standen zerstreut und dunkel im Hintergrunde, von ihnen war kaum die Rede. Die Masse des Volkes hatte wenig Selbständiges, sie harrte beklommen und neugierig der Dinge, welche kommen würden, und konnte mit mäßigen Zugeständnissen befriedigt werden, sobald nur Ordnung, Festigkeit und eine leidliche Übereinstimmung der Regierenden mit den bisherigen nationalen Entwickelungen zu hoffen blieb. Diese gutmütige Hoffnung war allerdings bei vielen vorhanden, und sogar auf die verbündeten Herrscher sah man hiebei mit Zuversicht, sie hatten ihre eigne Sache kraftvoll und weise geführt, ihre Mäßigung war augenscheinlich, und der Kaiser Alexander führte eine Sprache, welche an die schönsten Ergüsse aus den frühsten Zeiten der Revolution erinnerte. Man war überzeugt, aus soviel edlem Willen müsse Gutes und Richtiges hervorgehn; die Masse des Volkes würde ohne Widerwillen den Versuch gemacht haben, sich von dem jungen Napoleon unter Regentschaft seiner Mutter oder von dem Kronprinzen von Schweden regieren zu lassen, die Wiedereinsetzung der[8] Bourbons, die alsbald zustande kam, erfuhr dieselbe halb gleichgültige, halb vertrauende Aufnahme, wiewohl nicht zu verkennen war, daß dieser Versuch im allgemeinen die Gemüter doch bedenklicher stimmte, als es bei jenen andern schien folgen zu müssen.

Doch das eben Gesagte gilt nur von dem kleinen Zeitraum der ersten acht oder zehn Tage, denn mit unglaublicher Schnelligkeit ging eine völlige Verwandlung vor. Das Ungewisse entschied sich, das Schwankende befestigte sich, wie im allgemeinen, so in jedem einzelnen; die Bestürzung hörte auf, die Besinnung kehrte wieder, man erkannte sich selbst, überschaute die Fremden, die Nächsten, die Feinde und Gleichgesinnten, man erwog und rechnete, und binnen wenig Wochen zeigten sich alle Vorteile der Stellung und des Benehmens im täglichen Verkehr wieder auf der Seite der Franzosen. Aus dem Gewirr von Widersprüchen und Parteien erhob sich, als gemeinsamer Ausdruck aller, vorherrschend die Richtung des Nationalen und trat den Fremden gegenüber mit Erfolg auf; alle Kräfte und Eigenschaften der Nation waren zu diesem Werke tätig und eifrig, und wie ein über Nacht schnell aufgeworfner Wall die Dahinterstehenden am Morgen in einer ganz neuen Stärke und Fassung zeigt, so standen uns die Franzosen unvermutet in neuer Sicherheit gegenüber, indem sie mit stiller, aber eiliger Arbeit, zu welcher alle Klassen beitrugen, sich mit achtunggebietenden Linien der Nationalität umzogen hatten, die nicht verletzt werden dürfe, der alle Ehrerbietung und Huldigung zu widmen sei. Wirklich sah es bald aus, als wären wir nicht unsertwegen, sondern der Franzosen wegen nach Paris gekommen, als müßten wir vor allem sie zufriedenstellen, ihren Beifall gewinnen, uns das Zeugnis edler Denkart und feiner Sitte von ihnen ausstellen lassen. Wir fühlten wohl, und nicht ohne Mißmut, daß unsre Sache in demselben Maße erschlaffte, als die der Franzosen sich steifte, wir fühlten, daß unser Volkswesen, gemischt und unentwickelt, gegen das französische zurückstände, daß[9] unsre Anliegen zurückgeschoben blieben, wie denn sogar unsre Krieger im eroberten Lande schlecht quartiert und versorgt waren; aber den Franzosen durften wir deshalb keinen Vorwurf machen, im Gegenteil mußten wir anerkennen, daß grade hierin sie uns ein achtungswertes Beispiel gäben, und die Erscheinungen, aus denen es sich zusammensetzte, waren im einzelnen so gefällig, so lustig oder so scharf und bedeutend, daß ein unbefangener Sinn sich unwillkürlich davon einnehmen ließ.

Mein erster Gang war zu dem Grafen von Schlabrendorf. Im Hôtel des Deux-Siciles, vor demselben wurmstichigen Schreibtisch, auf demselben gebrechlichen Stuhl und auch wohl in demselben zerrissenen Kittel, fand ich ihn wieder, ganz wie vor vier Jahren. Er war froh und keck, lebhaft wie immer und sah mit stolzer Zuversicht aus seiner Einsiedelei auf die Dinge hin, die sich draußen in der Welt begaben. Die Ereignisse freuten ihn; so lange schon hatte er den Sturz Napoleons geweissagt, aber die Erfüllung in unbestimmte Ferne gesetzt, nun war sie plötzlich unter sei nen Augen geschehen! Doch keinen Augenblick hatte sie ihn berauscht; er durchschaute besonnen die Ursachen und die Folgen des Sturzes und verhehlte sich nicht, daß die Sache, für welche sein Eifer ausschließlich brannte, die Sache der Freiheit, dabei nicht hauptsächlich, sondern nur gelegentlich beteiligt sei, nur insofern, als sie bei jeder Bewegung gewinnen müsse. An seinen Grundsätzen, den Ergebnissen seines Nachdenkens und seiner Erfahrung, hielt er unverbrüchlich fest; im Gebiete der Idee ließ er sich nichts abdingen, keinen Anspruch, keine Folgerung, unverkürzt und unverhüllt sollten alle Erfordernisse zugestanden sein, die er als wesentlich zum Urbilde des Staates gehörige sich ausgeklügelt hatte; dafür war er nachgiebig und billig für die Erscheinungen, beurteilte die Menschen mild und suchte gern überall das Beste hervor. Er war der erste und vielleicht der einzige, der an demselben Tage, wo Napoleons Herrschaft brach, gleich wieder an Republik dachte und für[10] sie eiferte. Dennoch übersah er um seiner Träume willen keinen Drang der Wirklichkeit. Die Verbündeten waren in Paris eingerückt, mit verhältnismäßig geringer Macht, umgeben von französischen Truppen, die zwar kapituliert hatten, aber mit andern in Berührung kamen, die noch als feindliche anzusehen waren; die Scharen Napoleons konnten von Fontainebleau heranrücken, die Pariser Nationalgarde war noch bewaffnet, das Volk gärte in drohenden Wallungen, mehrere Tausend Napoleonischer Offiziere, von ihren Truppen abgekommene, neuer Anstellung harrende oder auch von Krankheiten und Wunden genesene, streiften aufregend durch die Stadt; die geringe Zahl der verbündeten Truppen, die schwachen Maßregeln zur Sicherheit des Kaisers von Rußland und des Königs von Preußen wurden Anlaß zu einem verwegenen Plane, beide Herrscher aufzuheben; die Truppen bei Fontainebleau waren benachrichtigt, auf ein gegebenes Zeichen anzurücken, fünfhundert Offiziere sollten auf Leben und Tod den Hauptstreich führen und in die Wohnungen der Monarchen eindringen, das Volk sollte in Masse zu den Waffen gerufen, an mehreren Orten Feuer angelegt werden, und wenn auch Paris darüber in Flammen unterginge, hieß es, so sei der Preis für Frankreichs Befreiung nicht zu hoch. Schlabrendorf, dem dergleichen schnell vertraut wurde, sandte noch in der Nacht eine genaue Anzeige und Warnung an den König von Preußen, der ihm dafür danken ließ und die nötigen Maßregeln anordnete, um jeden Angriffsversuch zu vereiteln. Einige bewaffnete Haufen kamen wirklich in den Straßen zum Vorschein, wurden aber sogleich auseinandergesprengt und die vom Felde her sich der Stadt nähernden Truppen zurückgetrieben. Nur der erste Augenblick war hiebei der gefahrvolle, nachdem dieser verloren und alles Verabredete fehlgeschlagen oder unterblieben war, stand kein neues Unternehmen zu befürchten, solche Gelegenheit und solcher Mut wiederholen sich nicht. Hatte sich hiedurch Schlabrendorf um seinen König und um die Sache der Verbündeten verdient[11] gemacht, so war er dagegen in andern Beziehungen ein unerschütterlicher Freund der Franzosen. Er wollte die Errungenschaft der Revolution gewahrt wissen, keines ihrer teuer erkauften Güter sollte verlorengehn. Gegen die Könige hatte er im allgemeinen viel einzuwenden, er sprach darüber mit einer Freiheit und Scheulosigkeit, die, wie der jugendliche Ungestüm seiner geistreichen Ausdrücke, in Erstaunen setzten, besonders da er zu Franzosen aller Parteien und zu Deutschen jedes Ranges und Standes sprach, denn seine Klause war zu manchen Tagesstunden ganz überfüllt von Besuchenden. Er wurde erinnert, daß manche seiner Äußerungen doch gefährlich seien, die heutigen Machthaber dürften in gewissen Fällen sogar strenger sein als Napoleon gewesen. Er aber versetzte lebhaft: »Die mich hören, müssen sich fürchten, mehr als ich, der ich spreche!« Und so fuhr er fort, alles zu sagen, was ihm in den Sinn kam.

Dem Fürsten von Metternich, den ich darauf besuchte, standen der Sieg und Ruhm der verbündeten Sache sehr wohl zu Gesicht, er durfte sich von dem vollbrachten großen Werk ein gutes Teil zurechnen, und wiewohl man behauptete, die letzten Wendungen seien nicht ganz nach seinen Absichten erfolgt und er habe andre Auswege, als die man gewählt, im Sinne gehabt, so war doch in seinem Wesen keine Spur eines Mißvergnügens zu merken, und wenn jene Meinung nicht ganz unbegründet gewesen, so wäre nur um so mehr die Ruhe und Größe zu bewundern, die das zur Tatsache Gewordene mit klarem Bewußtsein hinnahm und nun aufrichtig und standhaft das erkannte und förderte, was vorher vielleicht dem eignen Sinne weniger entsprechen mochte.

Bisher hatte sich mir neben der Aussicht, nach Beendigung des Krieges eine neue Laufbahn in Preußen anzutreten, auch die Lockung, dies in Österreich zu versuchen, oftmals dargeboten, und es gab persönliche Gründe genug, die mich vorzugsweise das letztere konnten wählen lassen. Nach Verschiedenheit der Umstände und Eindrücke mußte ich[12] bald mehr zu der einen Seite, bald mehr zu der andern neigen. Die große Anziehung des Fürsten, an den sich anzuschließen mir als das wünschenswerteste Glück erschien, konnte jetzt durch ihren Zauber allem Schwanken ein Ende machen. Sie tat es, jedoch im entgegengesetzten Sinne, als ich erwartet hatte. Denn da ich aus dem überaus gütigen und vertraulichen Gespräche des Fürsten bald entnahm, ihm gelte nicht als ausgemacht, daß ich im österreichischen Dienste auch in seiner Nähe bleiben würde, so war aller Eifer mir gleich erloschen, und ich fühlte deutlich, daß, wenn bloß der Staat in Betracht zu kommen hätte, ich unbedenklich Preußen vorziehen müßte.

Dies kam auch gleich zur Entscheidung, als ich den Minister vom Stein zu sprechen bekam. Er lachte laut auf, daß Paris, das eroberte Paris der Ort sei, wo wir uns wiedersähen! Die Freude und das Behagen glänzten in seinen Zügen, er hatte die reinste, die vollste Zufriedenheit, ihm waren die höchsten Wünsche erfüllt, der Feind lag darnieder, das Vaterland war frei; niemand schwelgte so uneigennützig, so ledig aller Nebengedanken in diesem frischen Gefühle. Daheim würde schon alles zum besten sich ordnen, meinte er, und wenn nur Recht und Wahrheit im Ganzen walteten, so dürfe man es mit einer Handvoll Gebrechen nicht so genau nehmen, deren würden in allen menschlichen Einrichtungen immer zu finden sein. Auch er hatte in seiner hohen Stellung öfters zwischen Preußen und Österreich geschwankt, bald dem einen, bald dem andern sich stärker angeschlossen; allein während der letzten Monate war sein Sinn entschieden auf preußischer Seite befestigt worden und mit den politischen Ansichten des Staatskanzlers Freiherrn von Hardenberg in volle Übereinstimmung getreten. Er fragte mich, was ich zu tun gedächte. »Sie werden doch nicht nach Rußland gehen wollen? Pfuel, Clausewitz, Barnekow, die kehren alle nach Preußen zurück, und da rat ich Ihnen auch, sich anzuschließen. Da will man Sie brauchen, ich glaube, im Fach der[13] Auswärtigen Angelegenheiten, Hardenberg hat es mir gesagt; der will Ihnen wohl und denkt, Sie können gut schreiben. Werden Sie mir aber nur kein Schwätzer und kein Naturphilosoph, studieren Sie Grotius und Pufendorf, da steckt die echte, die kernhafte Diplomatik drin.« Die Warnung vor der Naturphilosophie hatte ich mir noch von Prag her verdient, und er nannte mich, wie dort, auch hier bisweilen »Herr Metaphysikus«. Der gutgemeinte Eifer des trefflichen Mannes wurde durch seine polternden Ausdrücke nur noch wohltuender, ich hätte sie für keine noch so zierlichen eintauschen mögen! Er hatte mir noch eingeschärft, ohne Säumen bei Hardenberg anzusprechen, ich würde vielleicht sogleich da zu tun finden. Nun war das meine Meinung wohl nicht, so übereilt wollte und durfte ich Tettenborn nicht verlassen, und wenigstens den Sommer wünscht ich mir frei zu erhalten, um, ganz der eignen Neigung lebend, mich zu erholen und zu sammeln. Aber den Staatskanzler aufzusuchen war mir Annehmlichkeit und Pflicht.

Bei Hardenberg sah es preußisch aus, prunklos und kriegsmäßig, als wäre man noch im Feldlager, gedrängt, geschäftig. Generale und Offiziere in großer Anzahl, die freudige Stimmung noch mit etwas Trotz und Mißvergnügen gemischt, die Rede kühn und scharf, gern in Ironie auslaufend. Durch Wilhelm und Alexander von Humboldt, Gneisenau, Knesebeck, Rühle von Lilienstern, Ancillon und Jordan, die ich hier beisammen fand, fühlt ich mich sogleich auf bekanntem Boden, der Staatskanzler selbst war die hervorragende Mitte dieses Kreises. Hier hörte ich zuerst die bedeutenden Worte: der Krieg sei noch nicht beendigt, der Frieden könne nur ein Waffenstillstand sein, nur die Sache Napoleons sei abgetan, die Nationalsache zwischen Deutschland und Frankreich aber nicht ausgefochten, man werde dazu nochmals auf den Walplatz zurückkehren müssen. Wer konnte denken, daß die Prophezeiung Gneisenaus im nächsten Jahre schon eine scheinbare Erfüllung finden würde! Doch allerdings nur eine scheinbare, denn abermals war es[14] nur wieder die Sache Napoleons, die ihre schließliche Entscheidung empfing, die andere Sache steht noch jetzt, nach achtundzwanzig Jahren, ebenso wie damals.

Mein künftiges Verhältnis wurde von Hardenberg vorläufig so besprochen, wie es für den Augenblick mir genügen konnte. Ich sah meine Lebenswendung für entschieden an, und Stein, dem ich es zu melden eilte, bezeigte die größte Zufriedenheit darüber; ebenso Tettenborn, der inzwischen mit dem größten Teile seiner Offiziere gleichfalls in Paris eingetroffen war und sich freute, daß ich wenigstens die nächste Zeit noch mit ihm bleiben könnte. Er hatte für sich und sein Gefolge eine große prächtige Wohnung in der Rue du Helder genommen, und ich mußte nun in dasselbe Hotel ziehn, ehemals Hôtel de Mirabeau genannt, wie ich mit Vergnügen erfuhr. Das enge Zusammensein mit den Kriegskameraden genoß ich als ein schönes Glück noch zuletzt vollauf, denn der geliebte General hielt uns gern vereint und blieb auch auf dem heißen Boden der üppigen Hauptstadt uns ein glänzender Führer zu allen Herrlichkeiten und Vergnügungen wie früher im Felde zu Kampf und Anstrengung. Die nahe Trennung war übrigens nur allzu gewiß, das Band, welches die verschiedenartigsten Verhältnisse innig zusammengeschlungen hatte, löste sich auf. Pfuel, Hochwächter und Bismarck kehrten nach Preußen zurück, Droste von Vischering und Herbert nach Österreich, die Hanseaten nach Hamburg, der Marquis de La Maisonfort war schon kein Russe mehr, sondern wieder ein völliger Franzos; Russen und Deutsche sannen auf die Heimreise, manche der letzteren auf neue Abenteuer; als Adjutanten blieben bei dem General zuletzt nur die Rittmeister von Lachmann und von Philipsborn, sie sollten ihn fürerst nach London begleiten, wohin auch mir mitzureisen bestimmt wurde.

Ich benutzte die Zwischenzeit aufs beste und fand in dem bewegten Drange so vieler Menschen und Gegenstände noch immer Zeit, auch durch Schreiben mannigfach tätig zu sein.[15] Zu Tagesbemerkungen, Denkschriften und Aufsätzen gab es immer neuen Anlaß; Briefe waren zu schreiben, geschäftliche und freundschaftliche.

Nachrichten aus allen Gegenden des deutschen Vaterlandes kamen allmählich an, man gelangte wieder zu einigem Überblicke, man erkannte sich aus Toten und Lebenden heraus, und nach gehaltenem Abschlusse fing man auf neue Rechnung zu leben an. Unter den Verlusten schmerzte mich am meisten Fichte, dessen Tod mir erst hier bekannt wurde. Wen alles ich von Lebenden hier wiedersah, lieb und unlieb, erwartet und unvermutet, aus allen Klassen, besonders aber Offiziere, preußische, österreichische und russische – das wäre kaum aufzuzählen. Auch französische Bekanntschaften drängten sich heran, ehmalige Emigrierte, die unsern Heeren gedient oder in Deutschland sich aufgehalten hatten, die Brüder unsres Chamisso, sogar einige Spanier, die ich von Hamburg her kannte, wo sie mit dem Marquez de la Romana gewesen waren.

Meine liebste und heilsamste Zuflucht blieb jedoch Schlabrendorf, und der Tag, wo ich ihn zu sehen versäumte, was nur selten geschah, galt mir als ein unbefriedigter. Die Gesellschaft bei ihm war immer zahlreich und gemischt, ihn hinderte niemand, und da er meist allein sprach, so konnte man im schlimmsten Falle nur für das verantwortlich gemacht werden, was man gehört hatte. Auf diese Gefahr wagten es doch die angesehensten Personen, ihn zu hören. Hardenberg, Wilhelm von Humboldt, Gneisenau und eine Menge andrer Preußen, besonders die vornehmen Schlesier, besuchten ihn. Von Franzosen erwähn ich vor allen den liebenswürdigen, sprachkundigen Fauriel, den scharfsinnigen edlen Say. Zu seinen eifrigsten Besuchern gehörte auch der Portugiese Dr. Constancio, ein Arzt, der aber Politik und Literatur zu seinem Fach erwählt hatte und in beiden mehr England, wohin er schon als Knabe gekommen war, als Frankreich angehörte. Oelsner, früher in diplomatischen Geschäften tätig, Keidel, Geschäftsträger der Stadt Danzig,[16] Schubart aus Bremen, buchhändlerisch und politisch betriebsam, kannten Paris und die französischen Verhältnisse nach allen Richtungen. Sie und eine große Zahl ähnlich gestellter und beschäftigter Franzosen, von alter Zeit her mit Schlabrendorf vertraut, legten regelmäßig den Ertrag ihrer zugeströmten oder eingesammelten Neuigkeiten bei ihm ab und empfingen sie kritisch gesichtet, erläutert und gesteigert von ihm zurück. Die frischesten Vorgänge waren hier gleich bekannt, die geheimsten Betreibungen enthüllt, die entlegensten Bezüge sogleich gefaßt und ihr Zusammenhang aufgehellt. Alle Fragen des Tages, alle dabei namhaften Personen wurden hier mit gründlicher Kunde und ergötzlicher Munterkeit besprochen. Was für Debatten, was für Auseinandersetzungen, welche Anklagen und Verteidigungen hab ich hier mit angehört! Die Stunden flogen im Sturme dahin, und immer fand man die Sitzungen zu kurz; wäre man noch anders als mit Worten oder einem Glase Wasser bewirtet worden, man hätte gern bis in die Nacht hinein ausgehalten!

Aber auch Stoff und Reiz der Tagesgegenstände in jener Zeit waren übergroß; die Geschicke der Welt, die Angelegenheiten von Europa, der Abschluß einer ungeheuern Revolution, der Anfang einer neuen Wendung, die Dämpfung und Neugestaltung der lebhaftesten und bisher mächtigsten Nation, alles war in Paris zusammengedrängt und arbeitete gärend untereinander. Über das künftige Regierungswesen in Frankreich war schon kein Zweifel mehr, der Wiedereinsetzung der Bourbons konnte kein Hindernis mehr entgegentreten, schon war der Graf von Artois, für den auch der altherkömmliche Titel Monsieur aufwachte, als Vorläufer und Stellvertreter seines Bruders, des Königs, in Paris eingetroffen und von Behörden und Nationalgarden feierlich empfangen worden. Auch war jedermann überzeugt, daß die neue Regierung konstitutionelle Formen haben würde, nur über die Art und Stärke derselben schwebte man in ängstlicher Dunkelheit. Der Senat hatte[17] zwar eine Konstitution entworfen und veröffentlicht, in der Meinung, der von ihm berufene König werde sie nicht abzuweisen wagen; allein jene Körperschaft entbehrte alles Ansehens und Vertrauens in der Nation, und es stand ihr schlecht an, sich zwischen Volk und Herrscher als Vermittlung aufzustellen; daß sie die Sicherung der Dotationen ihrer Mitglieder in die Konstitution aufgenommen hatte, brach beiden um so schneller den Hals, dem Senat und der Konstitution.

Nicht gesetzlich, aber tatsächlich und unhemmbar bestand jetzt in Paris völlige Preßfreiheit; wer hätte sie beschränken, wer die Gesamtheit der Veröffentlichungen leiten, wer sie nur überschauen können? Noch unter dem eisernen Zwange der Kaiserherrschaft, in den letzten Tagen derselben, bevor die Verbündeten in Paris einzogen, hatte Chateaubriand mit Gefahr seines Lebens insgeheim seine heftige Schrift gegen Napoleon und für die Bourbons zum Druck befördert, und fast gleichzeitig mit den Ereignissen, die sie verkündete, trat sie fertig hervor. Sie fand bei den Royalisten und bei den Fremden ungemessenen Beifall, auch in den Anschuldigungen gegen Napoleon bei vielen Franzosen noch Zustimmung genug; allein die pomphaften und sich den alten Formen anschmiegenden Erhebungen des wiederkehrenden Königshauses erregten Mißfallen und Argwohn oder ließen kalt und gleichgültig. Auch Benjamin Constant ließ bald eine Schrift erscheinen, durch die er beweisen wollte, daß Napoleon Frankreichs Verderben gewesen, alles Heil aber nun von dem Königtume zu erwarten sei; strenger und gedankenschärfer als der bilderreiche Chateaubriand hatte Constant den Gegenstand behandelt, allein auch ihm warf man vor, daß er schon zu schmeichlerisch für die neue Herrschaft rede, und Feindlichgesinnte dachten daran, seine vor acht Jahren erschienene Schrift »Des réactions politiques« wieder abdrucken zu lassen, worin er freilich hatte beweisen wollen, daß die Wiederkehr der Bourbons nie zu wünschen, nie für Frankreich heilsam sein könne![18]

Diesen edlern und höheren Schriften drängten sich bald eine Unzahl gemeine und geringe nach, in welchen Bonaparte und seine ganze Familie, seine Anhänger und seine Herrschaft auf alle ersinnliche Weise geschmäht, alle verschuldeten und unverschuldeten Gebrechen seiner Staatsverwaltung gehässig hervorgezogen und alles zum Ärgernis verarbeitet wurde. Eine ganze Literatur entstand in dieser Richtung, eine jedem guten Geschmack und Sinn durchaus ekelhafte. Ich sah hier das Gegenstück zu dem schon einmal Erlebten, zu dem ähnlichen Hervorbrechen solcher schmähenden und schamlosen Schriften, das ich in Berlin infolge der Unglücksfälle Preußens gesehen hatte; dieses Höhnen der Geschlagenen, dieses Schmähen der für den Augenblick Wehrlosen, dieses freche Zerreißen jeder Hülle war mir jetzt hier, wie damals dort, in der Seele zuwider, und ich sah mit Unwillen, daß die französischen Schriften solcher Art von meinen Landsleuten begierig gekauft und genossen wurden. Sollte hier die Nemesis ihr Recht haben, so war der Göttin wenigstens edlere Sprache zu wünschen, und wenn die Genugtuung nur darin besteht, daß zu dem einen Unschönen noch ein zweites komme, so ist es wohl besser, auf alle Vergeltung zu verzichten!

In ganz anderer Richtung und unerwarteter Kraft erschienen alsbald auch Flugschriften von der Freiheitsseite her. Eine der frühesten und wichtigsten war die des Senators Grégoire, des ehemaligen Bischofs von Blois, der, ungeachtet seines revolutionären Eifers und späteren Grafentitels, immer ein streng katholischer Christ und ein starrer Republikaner geblieben war. Er kritisierte die von dem Senat entworfene Konstitution mit eindringender Schärfe und stellte politische Grundsätze auf, die man seit vielen Jahren nicht gehört hatte. Andere Schriften solcher Richtung, von genannten und ungenannten Verfassern, folgten rasch nach, und bei solcher Sprache und solchen Forderungen, wie hier aufgestellt wurden, begann man zu fühlen, daß die Revolution doch wohl nicht überall erstickt sei.[19]

Schlabrendorf ging mit verjüngter Lust und Kraft in diese Erörterungen ein; er hatte die Schriften gleich zuerst, erkannte ihren Sinn, ergänzte die Lücken, deutete die Anspielungen und hatte mit den Gründen auch stets die Gegengründe zur Hand, mit welchen letztern er seine Hörer oft nicht wenig überraschte. Denn seine reife Erwägung drängte sich selbst seiner Parteineigung vor, und wo er falsche Anklagen zu finden glaubte oder oberflächliche Meinungen walten sah, da berichtigte er streng und verteidigte dann auch wohl das Königtum und die Bourbons mit größtem Eifer und siegender Beredsamkeit. Daß jede Seite gehört würde, darauf bestand er unverbrüchlich; er pries gerade darum die öffentliche Verhandlung, weil auch das Dumme und Verkehrte sich da ausspreche und solchergestalt unschädlich mache. Daher genügte ihm auch keines der Geschichtsbücher über die Französische Revolution, weil alle zu wenig die Debatten überlieferten, in welchen doch oft einzig der Schlüssel der Begebenheiten zu finden sei. Als Zeugnisse des Tages empfahl er die erwähnten Flugschriften der Aufmerksamkeit nicht nur des Staatsmannes, sondern auch des Geschichtschreibers; er meinte, ihr wesentlicher Inhalt dürfe in einer Erzählung dessen, was wir eben erlebten, nicht fehlen. Da er bedauerte, weder rasch und leicht noch gern zu schreiben, indem er sonst wohl eine solche Erzählung versuchen würde, so nahm ich in seinem Sinne die Feder und begann ein Bruchstück, »Die Rückkehr der Bourbons«, zu schreiben, welches ich ihm dann zeigte und ihn damit zu reizen dachte, selbst Hand anzulegen. Allein obgleich er die Auffassung billigte, so wollte er doch die deutsche Sprache für diesen Gebrauch noch zu unbeholfen halten, er meinte, die Franzosen müsse man nur französisch reden lassen. Er war nämlich damals ein großer Eiferer für deutsche Sprachreinheit und wollte solche Wörter wie Revolution, Konstitution, Monarchie, Souverainetät und andere dieser Art im höheren deutschen Stil nicht gelten lassen, ohne sie doch immer durch schickliche und fast nie[20] durch gleich verständliche, rein deutsche ersetzen zu können. In Briefen gab er schon größere Freiheit zu und im Gespräch völlige. Zum eigenen Schreiben war er doch nicht zu bewegen und lehnte auch in der Folge jede Zumutung der Art entschieden ab. Meine Arbeit blieb also liegen und mag nun, fragmentarisch und verspätet wie sie ist, nur noch als Merkwürdigkeit, in der das Leben jener Tage und der Geist jenes ausgezeichneten Mannes widerscheint, wohlgünstigen Lesern mitzuteilen sein.

Ich besuchte Schlabrendorf auch zu solchen Stunden, wo ich ihn allein wußte, denn ihn zu stören durfte man nicht befürchten, er war Tag und Nacht zum Sprechen und Erörtern bereit, und er schien beinahe dankbar, daß man ihn vom Lesen und Schreiben erlöste, denn in der Einsamkeit war er doch zu einem von beiden notwendig verurteilt. In diesen Gesprächen unter vier Augen nahm er einen ganz andern Schwung, als wenn er gemischte und darunter auch wohl ganz gewöhnliche Zuhörer vor sich wußte; er verließ den realen Boden der Tageswelt und erhob sich in ideale Gebiete der Staatskunde, der Sittenlehre, der Geschichte. Was er sagte, waren meist Bruchstücke seines großen Entwurfs einer Republik, die als Ganzes von ihm selber wohl nur als Hirngespinst bezeichnet wurde, deren Grundlinien aber und einzelne Bestandteile er in jedem gegebenen Staate wiederfand, schwächer oder stärker, wonach sich denn auch die Stufe der Entwickelung bestimmen sollte, auf der sich ein Staat befände, je nachdem er viel oder wenig von jenem Ideal darstellte. Daß er hiebei auf die seltsamsten Dinge kam, unerhörte Verknüpfungen machte und von Paradoxen zu Paradoxen sich verstieg, braucht kaum noch gesagt zu werden. So stand ihm zum Beispiel Rußland in gewissen Beziehungen, doch freilich nur in diesen scharf bezeichneten, dem Staatsideale weit näher als Deutschland und sogar England; in andern Beziehungen, wieder waren ihm die Vereinigten Staaten von Nordamerika ein Beispiel des ganz Verwerflichen. Genug, man konnte von ihm sagen,[21] wie Schillers König Philipp vom Marquis Posa, daß die Welt in diesem Kopfe sich ganz anders abgebildet habe als in jedem andern! Ich schrieb mir manches von seinen derartigen Äußerungen auf und kann daher einige Beispiele davon fast in seinen eignen Worten hier mitteilen.

»Alle gemäßigte Monarchie«, sagte er eines Abends, »ist nur als Stufe zur Republik zu betrachten; der Fürst ist das sinnliche Zeichen, dessen das Volk zur Ehrfurcht für das Gesetz bedarf; kommt einmal das Volk so weit, diese Ehrfurcht für das Gesetz selbst zu hegen, so wird der Fürst unnütz, und die Republik ist da. Schlimm aber ist es, wenn das Zeichen unnütz erscheint, ehe der Sinn für das Wesen reif ist wie jetzt in England, wo der Geringste im Volke weiß, daß sein König wahnsinnig, daher für das Land wie gar nicht da ist, und doch der Staat zusammenhält. Fände sich dagegen ein Volk so reif, republikanisch sein zu können, und so weise, freiwillig auf jener Stufe der Annäherung zu bleiben, so könnte man von solchem wohl die größten Erscheinungen der Geschichte erwarten.« Ein andermal sagte er: »Die Freiheit ist unteilbar; wo man ein Stück von ihr zuläßt, da folgt unabwendbar das Ganze nach; jede einzelne ihrer Institutionen zieht die andern mit stiller Gewalt heran. Volksbewaffnung, Bürgervertretung, Preßfreiheit, all dergleichen ist ein Zweig der Freiheit, meint man den einen zu nähren und zu treiben, so nährt und treibt man alle andern mit, und unversehens grünt und blüht der ganze Baum. Es ist in diesem Sinne ganz artig, daß die französische Republik sich jene Eigenschaft, die doch nur von der Freiheit selber gilt, angemaßt und sich une et indivisible genannt hat.« Diesem Gedanken reihte sich ein ähnlicher an: »Staaten sowenig wie Menschen«, sagte er, »können isoliert sich bilden und fördern; sie verfallen in dumpfe Trägheit oder in wilde Wut; es fehlt ihnen Tausendfaches, was nur bei nachbarlichem Wetteifer erzeugt wird und bestehen kann. Für die Vereinigten Staaten ist es ein großes Glück, daß neben ihnen andre Freistaaten entstehen, denn[22] wiewohl jene noch vorteilhaft genug eine Mehrheit in sich selber darstellen, so sind sie doch schon sehr in Einseitigkeit erstarrt und bedürfen neuer Anfrischung. Deshalb konnte auch die Französische Revolution nicht gleich gelingen: ein Volk für sich allein kann so etwas nicht ausführen; man sagte immer, Frankreich sei zu groß für seine neuen Staatsformen, ich sag im Gegenteil, es war zu klein! Aber jetzt, da die Revolution nicht mehr ein isoliertes französisches Faktum ist, da ganz Europa willig oder gezwungen daran teilgenommen hat und noch nehmen wird, jetzt kann es gelingen, daß sie als das gemeinsame Werk so vieler Völker sich bewährt und behauptet; die Völker von Europa gehören mehr zusammen, als man glaubt, sie gehen im ganzen nach derselben Richtung, nach denselben Grundsätzen.« Solche Aussprüche könnten ergiebige Texte mannigfacher Erörterungen werden, worauf wir uns doch hier natürlich nicht einlassen. Als ich ihm den Fortschritt pries, der doch darin liege, daß, ohne allen Zwang, wenigstens sichtbaren und handgreiflichen, der König von Frankreich seinem Volke freie Institutionen verhieße, rief Schlabrendorf stürmisch aus: »Jawohl, ein Fortschritt, aber kein Verdienst! Fürst und Volk sollen zusammenkommen, das ist unwiderruflich; steigt nun der Fürst nicht einige Stufen hinab und gibt, so steigt das Volk einige hinauf und nimmt; die Sache bleibt dieselbe.« Dann sagte er wieder: »Die Fürsten können den Völkern nicht helfen, sie dürfen sich ihrer Macht auch um der Völker willen nicht begeben, denn die Übergänge, einmal begonnen, hat nachher niemand mehr in seiner Gewalt, und sie können ebensogut zum Verderben als zum Heile führen. Drum wer ein rechter Fürst ist, der bleibe es und regiere kräftig fort, dann wird das Volk auch im Gehorsam sich frei fühlen.« Er verlangte, die Staatsverfassung solle niemanden zwingen wollen, frei zu sein: »Mögen auch in der Republik alle, die dazu Lust haben, sich zu Knechten, Kriechern und Schmeichlern machen! Aber das verlang ich vom Staate, daß seine Formen[23] von der Art sind, um einem jeden zu erlauben, ohne gerade ein Held und stets kampf- und schlagfertig zu sein, doch immer frei und würdig zu leben; diesen großen Vorzug hat England, dem ehemaligen Frankreich aber fehlte er ganz.« Menschenfreundliches Wohlwollen war ein Hauptzug in Schlabrendorfs Staatsbildern; er verwarf es, daß Klassen oder einzelne dem Staatszwecke zum Opfer fielen, er wollte Heil und Freude für alle, ja, seine Forderung freier Institutionen geschah nicht um des Kunstwerks willen, das sie darstellen sollten, sondern weil er jeden einzelnen Menschen dabei beteiligt sah; »denn der Mensch entbehrt des höchsten Lebensreizes«, sagte er, »wenn er nicht einem freien Gemeinwesen in tätiger Mitwirkung und höchster Selbständigkeit angehören kann.«

Daß England im Kampfe mit Frankreich nicht unterlegen, freute ihn, besonders da er dies Ergebnis ganz aus der Stärke herleiten durfte, welche den Engländern durch ihre Verfassung und Freiheit gegeben wird; allein auch die Gebrechen dieser Verfassung und die Mängel dieser Freiheit zeigte er scharfsinnig auf und meinte, hier liege der Grund zu Englands einstigem Fall, der nicht ausbleiben könne. »Und«, setzte er mit prophetischem Tone hinzu, »nie wird Englands Macht größer, nie glänzender und furchtbarer gewesen sein als am Tage vorher, ehe sie zusammenbricht.« Er wandte den Spruch des Römers vom Römischen Reiche, »iam magnitudine laborat sua«, auf England an. »Übrigens merkten«, sagte er, »die gescheiteren Engländer es schon lange genug, wo es ihnen fehle und daß ihr Land in vielen Dingen zurückgeblieben und es starke Schritte machen müsse, um den Nachbarn – den Besiegten – wieder gleichzukommen. Die Erteilung der Bürgerrechte an die Katholiken, die Zufriedenstellung Irlands und die unausweichbare Parlamentsreform würden nicht bloße Schritte, sondern wahre Sprünge, halsbrechende Sprünge sein.«

Reizende Schilderungen wußte er von dem Leben im Staate zu machen. Er nahm darin vier Stufen an, die des[24] Jünglings, der aufstrebt und lernt, des Bürgers, der seine selbständige Freiheit hat und ausübt, des Staatsbürgers, der an der Verwaltung tätig teilnimmt, zuletzt des Altvaters, der als zurückgezogene ephorische Weisheit und Erfahrung, ohne Mitstreben des Ehrgeizes, nur noch durch Rat und Vermittelung einwirkt. In dem Altvater malte Schlabrendorf in belebten, großartig rührenden Zügen unwillkürlich sein eigenes Bild aus. »Wenn die Menschen«, sagte er, »bei solcher gesetzlich eingeführten Abstufung dann nur nicht über das rechte Maß hinaus auf derselben Stufe verweilen wollten, sondern einander zu gehöriger Zeit Platz machten, so könnte jeder Mensch, der lange genug lebte, sie alle durchgehen, jeder am Gemeinwesen nach seiner Gebühr teilhaben und so die höchste Fülle menschlichen Kraftgenusses und schönster Lebensausstattung empfinden, deren Reichtum man jetzt kaum ahndet.« Wenn im Staat ein Altvaterstand bestimmt würde, dann, meinte er, käme auch wieder das Alter zu Ehren, dem man jetzt schon deshalb wenig Achtung bezeige, weil es sie nicht einmal annehmen wolle, weil es sich selbst lieber verleugne. Eine Hauptsorge des Staates müsse sein, die Männer nicht zu lange über ihre Lebensfrische hinaus in Ämtern hinaltern zu lassen, zu denen jüngere Rüstigkeit erfordert werde; hier sei es am angemessensten, goldne Brücken zu bauen für die, welche sich zurückzögen; es würde ein großes Verdienst sein, zu diesem Zwecke große Stiftungen zu machen. Er meinte auch, es würde sehr angemessen sein, wenn in einem Parlamente sich eine permanente Opposition aus lauter Altvätern bildete, die freiwillig aus den Ämtern getreten wären und keine mehr begehrten.

Ich verweile vielleicht manchem schon zu lange bei der Mitteilung dieser Urteile und Träume des liebenswürdigen Altvaters; allein außer dem Werte, den sie an sich haben mögen, besitzen sie an dieser Stelle einen örtlichen, den ich durch nichts ersetzen könnte und doch ungern vermissen würde. Sie kommen mir vor wie hohe Schattenbäume, zu deren stillem Dunkel man sich gern einige Augenblicke zurückzieht[25] aus dem heißen Staub und Lärm so vieler Leidenschaften, scheinsamer Äußerlichkeiten, leichtfertiger und unwürdiger Spiele, welche jeden ermüden, der sich durch ein Stück Pariser Leben drängt. Mir waren jene Gespräche und Gedanken wirklich eine Zuflucht und Kräftigung, und wenn ich in später Nacht von dem Hôtel des Deux-Siciles durch die einsamen Straßen heimging, so fühlte ich, daß ich ein Pfund bei mir trug, das der Zerstreuung und Auflösung des wiederkehrenden Tagelebens ein heilsames Gegengewicht hielt.

Inzwischen war nun auch der König Ludwig XVIII. in der Hauptstadt eingetroffen, und die französischen Angelegenheiten zeigten eine mit jedem Tage festere Gestalt. Die Emigrierten drangen von allen Seiten hervor und nahmen Besitz, nicht von ihren verlorenen Gütern, denn das war auf keine Weise tunlich, aber von der Gunst, dem Einflusse, den Ämtern. Mit ihnen wetteifernd, rückte die Geistlichkeit in die Vorteile ein, die der Augenblick eröffnete; doch mußte sie noch mit Klugheit und Schonung verfahren, denn der König selbst war ihr nicht günstig und hielt nichts von ihren Formeln, die er nur als politisches Hülfsmittel gelten ließ. Er war ein Philosoph im französischen Sinne, das heißt in unsrem Sinne ein Freigeist, der allen Kirchenglauben verwirft. Seltsamerweise hatte man sogar, um dem Könige unter der Masse der Franzosen Anhänger zu gewinnen, diese Seite von ihm geflissentlich gerühmt und nicht ohne Erfolg, denn es schien darin eine Gewähr gegeben, daß die Priester kein schädliches Übergewicht im Staat erlangen würden. Doch im allgemeinen war gleich im Anfange die Stimmung kalt und mißtrauisch, und auch die Royalisten, die entschiedensten und heftigsten wenigstens, vertrauten für ihre Sache mehr dem Grafen von Artois und der Herzogin von Angoulême als dem Könige selbst. Bei dem Volke machte die Persönlichkeit des Königs keinen guten Eindruck; sie wurde bald Gegenstand frecher Bilder und Witzworte. Eines der Spottlieder, die gegen ihn erschienen, im Vergleich mit andern[26] mehr lustig als schlimm zu nennen, wurde noch am Tage des Einzugs auf den Boulevards ausgeteilt.


Neben diesem stillen Lichte flammte nun aber plötzlich eine sprühende Fackel auf, und die Augen wurden unwillkürlich zu dieser Erscheinung hingelenkt. Frau von Staël war in Paris eingetroffen, hatte ein schönes Hotel bezogen und ihre Gesellschaftsabende begonnen. Sie war in früherer Zeit von den Royalisten und Emigranten übel angesehen, die Bourbons hatten allerlei Groll, allein die lange von ihr durch Napoleon erlittene Verfolgung war eine Art von Sühne geworden, und in den letzten Zeiten hatte die begabte Frau sich offenbar um die Sache des Hofes verdient gemacht; dabei waren ihr die alten Freunde aus der Revolutionszeit nicht verloren, die aus der Kaiserzeit hatten keinen Grund mehr, sie zu verleugnen, die Fremden aber wetteiferten in Verehrung und Aufmerksamkeit. Sie hatte auf ihrer großen Fluchtreise durch Europa gesellig, literarisch und politisch vielfach gewirkt und ihren berühmten Namen mit Hoffnungen verflochten, die jetzt großenteils erfüllt waren. Der Kaiser von Rußland bewies für sie die größte Beeiferung und besuchte öfters ihre Abendgesellschaft, andre große Herren folgten dem allgemeinen Zuge, der Herzog von Wellington leuchtete den Engländern vor, Feldherren und Diplomaten aller Nationen drängten sich, die Literatoren und Künstler hatten das unbestrittenste Anrecht, es war eine glänzende Hofhaltung – wie die Bourbons erlebte auch Frau von Staël ihre Restauration. Einen solchen Kreis in der Nähe zu betrachten, dürft ich mir nicht versagen, ich hatte sogar persönliche Aufforderung dazu. Durch August Wilhelm von Schlegel, bei dem ich zuerst ansprach, wurde ich sogleich angemeldet und eingeführt. Es war vormittags, in einem Gartenzimmer, Frau von Staël, in leichter Morgenkleidung, trat uns von dem Garten her entgegen, einen frischen Zweig in der Hand, den sie eben von einem der draußenstehenden Orangenbäume abgepflückt hatte. Ich wußte genug von ihr,[27] um durch nichts überrascht zu sein, es war wie eine alte Bekanntschaft, nur solche Unbefangenheit und schlichte Natürlichkeit hatte ich nicht erwartet, diesen großen Reiz und wohltuenden Eindruck hatte mir niemand an ihr gerühmt. Sie wußte auch einiges von mir, sie hatte einige Erinnerung von dem Buche »Die Versuche und Hindernisse«, das in Coppet war gelesen worden und von dem ich, nach Schlegels Meinung, der alleinige Verfasser sein sollte. Ohne Zweifel hatte Schlegel ihr Gedächtnis hierüber eben erst aufgefrischt, wie er sie jetzt auch erinnerte, daß ich ein Kriegsgenosse ihres Sohnes Albert gewesen; sie wollte beeifert alles hören, was ich von diesem wußte, wie wir zusammen gelebt, wie er sich gezeigt, welche Meinung man von ihm gehabt, was man von ihm gehofft. Die Umstände des Zweikampfs, in welchem er getötet worden, mußte ich genauer angeben; sie weinte, doch tat ihrem Herzen wohl, daß er sich als ein Tapferer bewährt und weder Furcht noch Gefahr gekannt. Dieser erste Besuch war nur sehr kurz, es kamen neue Anmeldungen, und nachdem Frau von Staël mich noch zu ihren Abenden verbindlich eingeladen, empfahl ich mich, und Schlegel begleitete mich, um sogleich umständlicher zu vernehmen, wie mir seine Herrin gefallen habe. Ich konnte ihn wohl zufriedenstellen, mir selbst aber nicht verhehlen, daß Frau von Staël, so achtungsvoll und interessant sie sei, mir doch eigentlich nicht gefalle; ich vermißte Anmut, den lieblichen Ausdruck einer tiefen Seele – Güte, Weichheit, Feinheit, die ich ihr zugestehen mußte, waren mir dafür kein Ersatz. Ihr Wesen gab mir das Gefühl eines Zwiespaltes, der keine Vermittelung fand, mir stand in ihr zugleich eine Fürstin vor Augen und eine Bürgerfrau, und welches von beiden – oder ob gar beides – nur Maske sei, schwebte in beängstigendem Zweifel. Ihr Buch über Deutschland, früher auf Befehl Napoleons zu Brei verstampft, aber doch in einigen Abdrücken gerettet, war nun in mehreren gleichzeitigen Ausgaben wieder erschienen und wurde allgemein mit Eifer gelesen und gepriesen. Mir war[28] es schon von jener früheren Zeit bekannt, und ich konnte jetzt nicht milder darüber urteilen als damals. Manches darin empörte mich, die sichtbare Unfähigkeit in philosophischer Richtung war nur durch die Anmaßung übertroffen, mit der die unruhige Frau alles Betastete schon begriffen zu haben wähnte, in den ästhetischen Beziehungen erkannte man die Einseitigkeit der auf Treu und Glauben angenommenen fremden Aussprüche. In meiner damaligen Stimmung überwogen diese Gebrechen allen sonstigen Wert des Buches, den ich später gern anerkannt und einmal gegen Tieck, der jene Vorwürfe erneuerte, lebhaft und zu dessen eigenem Beifall verteidigt habe; wenigstens läßt sich nicht leugnen, daß die Wirksamkeit des Buches ungeheuer gewesen und Folgen gehabt, welche von Deutschen und Franzosen gleich dankbar anzuerkennen sind.

Um doch den persönlichen Eindruck gleich frisch durch den literarischen zu vervollständigen, griff ich lieber zu dem Roman »Delphine«, der überdies, wie man versicherte, das ideale Charakterbild der Verfasserin, ihre Gefühls- und Sinnesweise vortrefflich schildern sollte. Aber auch hier fand ich wenig Befriedigung; in dem großen Talent, bei der Macht der Gedanken und der Leidenschaft des Herzens, die sich in einer oft hinreißenden Sprache offenbarten, blieb mir immer etwas Störendes, was mich zu keinem rechten Genusse kommen ließ; mir gelang nicht, darüber völlig klarzuwerden, und noch heute wüßt ich es nur im allgemeinen damit zu bezeichnen, daß man sich nicht auf natürlichem, festen Boden fühlt.

Ich wagte nur einmal bei Frau von Staël einen Abendbesuch; eine glänzende, wogende und doch verhältnismäßig stille Gesellschaft erfüllte den Saal; gespannt und ehrerbietig lauschte alles auf einzelne Stimmen, die sich in nicht eben lauter Weise vernehmen ließen. Der Kaiser Alexander war zugegen und gab sich liebenswürdig hin wie ein Gleicher unter Gleichen; doch hatte nur Frau von Staël vor ihm ihre völlige Freiheit und nährte fast allein das Gespräch.[29] Als ich ein wenig vorgedrungen war, hörte ich, daß die mutige Wirtin den hohen Gast über Negersklaverei zu reden veranlaßte und daß er mit Unwillen sie eine Schändlichkeit nannte; ein Portugiese – ich weiß nicht, ob es der Marquez Marialva war – erlaubte sich, dem Kaiser vorzuhalten, in seinen Landen sei doch Leibeigenschaft; der menschenfreundliche Herrscher zuckte einen Augenblick, war aber gleich wieder gefaßt und sagte mit edler Festigkeit: »Sie haben recht, in Rußland gibt es Leibeigene, aber der Unterschied von ihnen zu den Negersklaven ist noch sehr groß; doch will ich davon absehen und erkläre, daß auch die Leibeigenschaft schlecht ist, daß sie abgeschafft werden muß und daß sie mit Gottes Hülfe noch unter meiner Regierung aufhören wird.« Ein Gemurmel des Beifalls verbreitete sich durch den ganzen Saal, denn der Kaiser hatte diese Worte laut gesprochen, und sie wurden sogleich weitergesagt und erläutert. Ich war schon wieder zurückgedrängt, ich sah keine Möglichkeit, Frau von Staël auch nur zu begrüßen, die Hitze nahm überhand, und ich wählte den völligen Rückzug. An der Türe traf ich mit Bartholdy zusammen, der ebenfalls wegging; er schien von der Äußerung des Kaisers wenig erbaut, ganz und gar nicht aber von der Gesellschaft, in der man, meinte er, wenn man nicht Fürst oder Herzog sei und drei bis vier Sterne habe, nur immer beschämt und gedemütigt dastehe, ohne Vergnügen oder Nutzen; er werde gewiß nicht mehr hingehen. Ohne gerade seine Gesichtspunkte zu haben, ließ auch ich es bei diesem einen Male bewenden und sah leider Frau von Staël nicht wieder, was ich doch oft bereut habe, denn ihres näheren Umganges zu genießen wäre mir in allem Betracht erwünscht und vorteilhaft gewesen.

Die großen Ereignisse und, nachdem ihr Ausgang sich im allgemeinen entschieden, die tägliche Verarbeitung ihrer noch bewegten Einzelheiten hielten Paris in einer Spannung, welche durch die Zahl und Verschiedenheit der hier ungewöhnlich zusammengedrängten Menschen noch verstärkt[30] wurde. Solche Spannung wirkt durchaus kräftigend, aber sie pflegt, nachdem sie eine gewisse Höhe erreicht hat, plötzlich nachzulassen und in weichliche Ermattung überzugehen. Dieser Übergang wurde wohl schon von den meisten empfunden und mit ihm auch die stärkere Regung der Krankheitskeime, welche dann nicht säumen, aus ihrem Hinterhalt hervorzubrechen und das Leben in seiner Schwäche zu überfallen. Das Frühjahr war vorgeschritten und der Kampf in der Atmosphäre zwischen Hitze und Kälte so heftig, daß es genug war, diese Luft zu atmen, um von katarrhalischen Übeln ergriffen zu werden. Die Krankheit war fast allgemein. Einheimische und Fremde litten gleicherweise, doch besonders unsre jungen Leute, die in der Umgegend meist in schlechten Quartieren lagen und sich wenig helfen konnten. Auch Schlabrendorf entging dem Übel nicht, Tettenborn mußte sich niederlegen, und mich traf dasselbe Los; doch nur auf wenige Tage, während deren ich die »Delphine« zu Ende las, eine Auswahl von Briefen der Frau von Sévigné, Duclos' »Geschichte Ludwigs XI.« und Chamforts Schriften durchlief. Eine starke Dosis Opium stellte mich rasch wieder her und gab mir neues Zutrauen zu der Lehre Browns. Auch Tettenborn genas bald wieder und bereitete sich zur Abreise nach Mannheim, wohin ich ihm später nachfolgen sollte; denn einige wichtige Geschäfte mußten mich noch eine Weile in Paris zurückhalten.

Mir war dies um so peinlicher, als der Aufbruch fast allgemein war und alles sich zur Abreise, teils nach England, teils in die Heimat, anschickte. Hardenberg begleitete, wie auch Blücher und Gneisenau, den König nach England; mir gereichte zum Vorteil, beim Abschiednehmen seinen Schwiegersohn bei ihm zu treffen, den bayerischen General Grafen von Pappenheim, den er sehr liebte; denn der biedre und freundliche Mann, früher im österreichischen Dienste Tettenborns Kriegskamerad, stellte mich durch sein zutrauliches und doch rücksichtsvolles Benehmen sichtbar in der Meinung des Staatskanzlers um einige Stufen höher. Ich[31] empfing die günstigsten Versicherungen von Hardenberg, die er mir auch noch schriftlich zufertigen ließ. Doch fand ich einen merklichen Unterschied zwischen dem schriftlichen Ausdruck und dem mündlichen; mein Wunsch, noch eine Zeit frei zu bleiben, wurde zugestanden, aber es lautete, als hätte ich das Gegenteil gewünscht und müßte mich gedulden. Solcherlei Zeichen eines im stillen wirksamen Widersinnes habe ich späterhin noch oft genug in wichtigeren Dingen und erhöhten Maßen zu erfahren gehabt.

Auch Stein bereitete sich schon zur Abreise. Seine Geschäfte in der Kriegsverwaltung deutscher Länder waren noch nicht erledigt und wurden jetzt wichtiger und dringender. Auch begleiteten ihn wieder seine treuen Gehülfen Rühle und Eichhorn. Er war ungemein heiter. Eines Tages, da ich bei ihm zum Essen bleiben sollte, aber es ablehnte, weil ich versprochen hatte, mit zweien Freunden bei Grignon zu speisen, mußte ich sie ihm nennen; der eine war ein Philosoph. »Da täten Sie doch besser«, rief Stein, »Sie äßen bei mir, denn bei mir sind Sie nicht in Gefahr, verrückt zu werden«; und nun ergoß er sich in munterer Schilderung dessen, was er Metaphysik nannte: sie sei bei den Menschen das, was bei den Schafen das Drehen, doch ich wisse wohl gar nicht, was das sei, ich solle ein Landwirt werden, da würd ich ihn schon verstehen! In diesen Zorn hatte ihn ein Buch von Oken gebracht, das ihm in die Hände gekommen war. – Als ich ihn zuletzt mit Tettenborn besuchte, um Abschied zu nehmen, fanden wir Wilhelm von Humboldt dort, und es fielen wieder mancherlei ergötzliche Reden vor, bei denen Humboldt in gewohntem Übergewicht erschien.

Stein hatte mich immer mit ernster Teilnahme nach Schlabrendorf gefragt und öfters ein gefühlvolles Verlangen bezeigt, ihn zu sehen, aber sich doch nie überwinden können, zu ihm zu fahren; der Gedanke, mit Jakobinern, Bonapartisten und wer weiß was alles für Teufelszeug zusammenzutreffen, war ihm zu widerwärtig. Schlabrendorf, der sich schon entschlossen hatte, seinen Bart abschneiden[32] zu lassen und einige Besuche zu machen, nahm es mit dem alten Freunde nicht so genau und trat unvermutet bei Stein ins Zimmer, als dieser eben im Begriff war abzureisen. Der alte Freund sah wohl anders aus als vor so vielen Jahren, wo Stein ihn zuletzt in England gesehen hatte, er mußte seinen Namen nennen, worauf denn Umarmung und freundliche Grußesworte folgten. Bald aber bemächtigte sich Steins einiger Unmut, und die folgenden Wechselreden sind wörtlich aus der Erzählung Schlabrendorfs, der mir gleich nachher das Vorgefallene mitteilte.


Stein: Aber warum kommen Sie auch grad erst jetzt, da ich gleich in den Wagen steigen muß!

Schlabrendorf: Das hab ich denn doch wohl nicht berechnen können! Und reisen Sie nach Frankfurt, wie ich gehört habe?

Stein: Ja, ich mag nicht mit nach England, mich vom Prinzregenten begaffen zu lassen.

Schlabrendorf: Späterhin aber rufen Ihre Dienstgeschäfte Sie wohl nach Wien?

Stein: Dienstgeschäfte? Ich habe keine, ich diene niemandem.

Schlabrendorf: Schon recht, weil Sie allen dienen. Das ist eine republikanische Gesinnung, die mag in Deutschland vielfältig not tun.

Stein: Aber wir wollen keine Republik in Deutschland.

Schlabrendorf: Nun, Sie haben sich doch der Freien Städte treulichst angenommen.

Stein: Das ist ganz was anders.

Schlabrendorf: Ich will auch gar nicht eigensinnig sein und will die Republik fallenlassen, aber republikanische Gesinnung werden Sie doch in keinem Staate entbehren können, und jeder Fürst muß sie im eignen Interesse wecken und nähren.

Stein: Was Sie meinen, erkenn ich an; aber wir haben andere Benennung dafür, wir nennen's Gemeinsinn.[33]

Schlabrendorf: Auch gut und mir um so lieber, weil es deutsch ist, nur verstehen die Deutschen nicht immer das Deutsche so recht.


Die Scheidestunde war herangerückt, und die alten Freunde sagten einander Lebewohl. Zum Schlusse rief Stein noch: »Auf Wiedersehn in Deutschland! Denn wenn Preußen ein Parlament erhält, dann kommen Sie doch und werden Präsident? des Ober- oder Unterhauses, wie Sie wollen!« – Sie sahen einander nicht wieder.

Schlabrendorf sah sich auch zu Besuchen bei Hardenberg und Gneisenau veranlaßt. Beide waren im Auftrage des Königs bei ihm gewesen und hatten ihm mit dessen Danke zugleich das Eiserne Kreuz überbracht. Der König wollte dadurch den vaterländischen Eifer und die großmütigen Aufopferungen anerkennen, durch welche Schlabrendorf um die preußische Sache sich so vielfach verdient gemacht. Die Stiftung des Eisernen Kreuzes hatte ihm gleich ungemein gefallen, und wiewohl sonst kein Freund von Orden, ließ er diesen doch vollkommen gelten. Aber nie war ihm in den Sinn gekommen, selber so geschmückt zu werden, und die Sache überraschte und freute ihn, obgleich sie ihn auch etwas verdroß, letzteres ebendeshalb, weil sie ihn freute. Dieses Gemisch in seiner Empfindung war auch wohl Ursache, daß er mir bis dahin von dem ganzen Vorgange lieber gar nichts gesagt und mich ihn erst jetzt wie zufällig erfahren ließ. Bei Gneisenau wurden ebenfalls wie bei Stein scharfe Reden mit guter Laune ausgetauscht, die mir Schlabrendorf nachher wiederholte, von denen ich aber nichts aufgezeichnet finde; ich erinnere mich nur, daß er mit Vergnügen anmerkte, bei einigen seiner Äußerungen, welche Gneisenau mit ernster Miene ruhig angehört, hätten die jungen Adjutanten sich des Lachens nicht erwehrt.

Der Frieden mit Frankreich war schon so gut wie geschlossen, man erwartete täglich die Unterzeichnung. Was von den Bedingungen verlautete, wollte jedoch weder den[34] Franzosen noch den Deutschen genügen; nur die Engländer schienen erlangt zu haben, was ihnen gebührte und genehm war, nächst ihnen waren die Russen am meisten befriedigt; für Preußen, überhaupt für Deutschland, blieb noch manche Ungewißheit, deren Lösung auf den Kongreß verschoben wurde, der im Sommer zu Wien stattfinden sollte.

Von Napoleon, der auf der Insel Elba sich ruhig verhielt, hörte man wenig; sein österreichischer Begleiter auf der Reise nach Elba, Graf Karl von Clam-Martinitz, erzählte mir von den wunderlichen Auftritten, die sich unterwegs ereignet hatten; von dem Hasse, der sich gegen ihn gezeigt; jedermann glaubte seine Rolle zu Ende, und niemand wollte des Vertrags von Fontainebleau eingedenk sein, dessen Erfüllung die Bourbons ohnehin verweigerten. Plötzlich aber rief ein erschütternder Schlag den Namen Napoleons für einen Augenblick aufs neue ins Gedächtnis und regte zu tiefen Betrachtungen auf. Die Kaiserin Josephine, Napoleons geschiedene Gattin, starb am 29. Mai in Malmaison sehr schnell an dem herrschenden Übel, das auch sie, doch anfangs nur sehr gelinde, befallen hatte. Der Kaiser von Rußland war ihr besonders günstig gewesen, die Bourbons nahmen sich ihrer an, sie sollte in den nächsten Tagen am Hofe Ludwigs XVIII. erscheinen; während der Glanz des im Übermute des Glückes treulosen Gemahls mehr und mehr erlosch, ging der Stern der Verstoßenen noch einmal wieder auf. Doch nur auf kurze Frist! Ihr Tod wurde von vielen Franzosen aufrichtig bedauert. Man überdachte den Eindruck, den die Nachricht auf Napoleon machen mußte. Viele wollten die Nemesis erkennen, die ihm sage, es sei mit seinem Glücke vorbei, und die ihn furchtbarer Reue überliefere; andre wollten darin die rächende Strafe für Josephinen sehen, weil diese den Feinden des Gemahls sich befreunden wollte, ja man beschuldigte sie, am meisten zu seinem Sturze beigetragen zu haben; denn sie zumeist habe die Ideen in ihm genährt, die ihn das Faubourg Saint-Germain begünstigen und eine zweite Heirat wünschen ließen.[35]

In den nächsten Tagen begann der fast allgemeine Aufbruch nach England, auch die nur kürzlich erst angekommenen Prinzessinnen von Kurland reisten dorthin, wiewohl sie ungern Paris so schnell verließen; mit der Herzogin von Acerenza war die Gräfin von Plettenberg gekommen, die wir noch vor wenigen Monaten auf ihrem Landsitze bei Münster besucht hatten. Das Wiedersehn nach solchen Umwandlungen aller Dinge, nach so großen Gemütsbewegungen der Furcht und Hoffnung hatte einen Reiz, der sich mit nichts vergleichen läßt.

Nur wenige Tage, so schien es, hatte ich noch in Paris zu verweilen, um einige militärische Ausfertigungen, die sich in den Kanzleien hinschleppten, abzuwarten, und meine Ungeduld hatte längst alles, was von meiner Seite geschehen konnte, zur Abfahrt vorbereitet. Allein mir sollte dies ersehnte Glück so schnell noch nicht gewährt sein. Meine Genesung, anstatt sich zu befestigen, ging sichtlich abwärts, und die nicht geheilte, nur unterdrückte und dadurch verschlimmerte Krankheit brach in einem Rückfall neuerdings heftiger aus. Das Katarrhalfieber war in ein nervöses übergegangen, und der herzugerufene Arzt Dr. Harbaur verriet einige Bedenklichkeit. Eine Reihe sehr schlechter Tage ging vorüber; erst mit Beginn der Besserung ließ ich Schlabrendorf wissen, daß ich krank sei; er kam nun und saß stundenlang vor meinem Bette, zu meinem unaussprechlichen Troste; seine Unterhaltung war die lieblichste, erfreuendste und ganz meinem Zustande angemessen, sie wurde stärker und derber nach Maßgabe meiner wachsenden Kräfte. In den Stunden des Alleinseins labte ich meine Seele mit den heilsamen Eindrücken der Erzählungen Goethes aus seinem Leben, wovon der dritte Teil eben herausgekommen und durch ein Wunder so früh nach Paris in die Hände von Henriette Mendelssohn gekommen war; das Buch konnte gewiß kein zweites Mal hier gefunden werden. Frau von Jordis und Henriette Mendelssohn sandten mir Erquickungen. Der wackre Arzt ließ es seinerseits an keiner Aufmerksamkeit[36] fehlen; und so war ich binnen kurzem soweit, an die Abreise denken zu dürfen, die ich als die zuverlässige Ergänzung meiner Genesung ansah.

Der Abschied von Paris war mir leicht, der von den lieben Freunden schwer. Schlabrendorf gestand mir, er selber denke jetzt zum erstenmal ernstlich an die Rückkehr nach Deutschland; Paris, das er unter den schwersten Umständen ertragen, das er in den schlimmsten Zeiten noch stets geliebt, werde ihm jetzt zuwider, und hauptsächlich aus einem Grunde, der geringfügig erscheine im Vergleich mit andern Dingen, aber für ihn entscheidend werde: die neue Regierung hatte nämlich eine strenge Verordnung wegen der Sonntagsfeier erlassen, und er sah darin den Anfang eines Pfaffenregiments, einer nun unfehlbar einreißenden, von oben begünstigten und gebotenen Gleisnerei und Scheinheiligkeit, das Schrecklichste, was seiner Meinung nach einem Lande widerfahren könne; denn alle wahre Religion und Tugend, alle Redlichkeit im Staate und alles Glück der Familien gehe dabei zugrunde. Die Leute, die für ihre Andacht so tiefe Stille und so große Anstalten nötig hätten, dünkten ihm in der Frömmigkeit nicht so zurück zu sein, wie jener Klempnermeister es im Schreiben war, der seinen Lehrburschen in die Werkstatt abschickte mit der Weisung, die Gesellen möchten doch eine Weile still sein, er habe eine Quittung auszufertigen! Dies mit anzusehn, meinte Schlabrendorf, diese kirchliche Äußerlichkeit als Frömmigkeit hinzunehmen, sei ihm unmöglich, und grade weil die Sache ganz äußerlich hervortrete und täglich den Sinnen sich aufdringe, werde sie ihm zu täglich wiederholter Beleidigung. Als ich später in Berlin diese von Schlabrendorf angeführte Beweggründe zum Weggehen von Paris dem General von Krusemarck wiedererzählte, tadelte dieser sie heftig und meinte, was das den Alten denn anginge, dergleichen könne ihm ganz einerlei sein, sobald man ihn nicht persönlich zu etwas zwingen wolle. Allein Schlabrendorf nahm die Sache höchst ernst und wichtig, als eine[37] persönliche und allgemeine. Genug, er war entschlossen, Frankreich zu verlassen, und wollte zuerst auf seinen Gütern in Schlesien nachsehen, was er dort etwa Nützliches unternehmen könnte. Es war ihm ernst genug, aber die Ausführung, gleich der so manches andern Vorsatzes, verlor sich in der grübelnden Überlegung, in welcher Weise die Sache am zweckmäßigsten zu tun sei. Ich fand ihn das nächste Jahr noch stets im Hôtel des Deux-Siciles.

Am 16. Juni reiste ich nach Straßburg ab und von hier ohne Aufschub jenseits des Rheins nach Baden-Baden, wo ich Tettenborn finden sollte.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 7-38.
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