Kapitel XCVIII.
De theologia interpretativa
oder
Von Auslegung der heiligen Schrift

[150] Es meinen die Ausleger in der Theologie, dass, gleichwie durch die Liberaliät der Natur die Weintrauben, die Oliven, das Getreide, der Flachs und dergleichen mehr wachsen und reif werden, aus welchen hernach durch der Menschen Geschicklichkeit und Hilfe Wein, Öl , Brot, Leinwand und andere Sachen gemachet werden, also müssten auch die göttlichen Weissagungen als dunkel und verborgen durch unsere Auslegung erläutert werden; nicht zwar, dass sie nach unsern Kräften und Erfindungen als Gottes Weissagungen unserer Hilfe vonnöten hätten wie die Werke der Natur, sondern, dass solches auf Anregung des Heiligen Geistes geschähe, welcher seine Güter allen austeilet, wie er will und wann er will, indem er etliche zu Propheten, etliche aber zu Auslegern und Lehrern machet.

Derowegen könnte diese Theologie, heilige Sachen zu interpretieren, nicht nach peripatetischer Art vorgehen, definieren und abteilen, denn durch dieses könnte Gott, welcher nicht definieret und abgeteilet werden kann, keineswegs erreichet werden, sondern[150] es müsste hier ein anderer Weg erfunden werden, welcher ist der mittlere zwischen dieser Art und der prophetischen Vision; dieser Weg ist eine Annäherung an die Wahrheit, durch unsern geläuterten Verstand und gleichsam wie ein Schlüssel zu einem Schlosse ist; und gleichwie dieser der Wahrheit begierig ist, also ist er auch fähig, alles Intelligible aufzunehmen.

Derowegen wird unser Verstand possibilis genennet; denn ob wir gleich durch denselben nicht vollkömmlich verstehen können, was die Propheten und die Erschauer Gottes ausgegeben haben, so wird uns doch die Türe geöffnet, dass wir aus der Konformität der erlangten Wahrheit zu unserm Verstande und aus dem Lichte, welches uns erleuchtet, viel gewisser werden als aus der Weltweisen ihren scheinbaren Satzungen, Definitionen, Divisionen und Kompositionen; er ward uns gegeben, dass wir lesen und verstehen, und nicht allein mit den äusserlichen Augen und Ohren sondern auch mit unsern bessern vernünftigen Sinnen begreifen sollen; und nachdem wir die überzogene Decke und was uns im Wege stehet, weggenommen, so können wir die rechte Wahrheit schöpfen, welche aus dem Mark der Heiligen Schrift herfleusset. Diejenigen nun, welche einen wahren Blick getan haben auf das, was den Weisen dieser Welt verborgen ist, die haben solches mit einem solchen Indicio der Wahrheit gelehret, also dass aller Zweifel nunmehro aus dem Wege geräumet worden.

Weil derowegen diese Wahrheit in der Heiligen Schrift vielfältig verborgen lieget, so haben Heilige und geistreiche Leute die Auslegung der Heiligen Schrift verschiedentlich angefangen; etliche gehen langsam durch die Hülle des Buchstabens, stellen eine Einstimmigkeit an und erklären den Buchstaben durch den Buchstaben nach der Ordnung der Wörter, nach ihrer Etymologie und Eigenheit, und nach der Kraft der Wörter erjagen sie den rechten Sensum und die reine Wahrheit, welche Explikation die Ausleger[151] die litteralem oder buchstäbliche nennen. Andere aber sind, die dasjenige, was geschrieben ist, auf das rechte Gemüts-Geschäfte und Werk der Gerechtigkeit referieren, deren Erklärung oder Exposition wird moralis genennet; andere explizieren und bringen die Arcana der Kirchen durch unterschiedene Tropos und Figuren herfür, deren Meinung dahero der Sen-sus tropologicus oder allegorisch genennet wird. Andere aber, die hoch hinauf sehen und der Kontemplation des ewigen Lebens ergeben sind, die deuten alles auf die Arcana der himmlischen Glorie und Herrlichkeit, welche Exposition sie Sensum anagogicum oder jenseitige, mystische Exposition nennen.

Und diese vier sind in der Kirchen die gemeinesten Expositiones der Theologorum, über welche aber noch zwei gefunden werden, davon die erste alles auf den Wandel der Zeit und die Veränderung der Länder und Saecula setzet und wird typica genennet, worinnen fürnehmlich Cyrillus, Methodius und Joachim Abbas, aus den neuen aber Hieronymus Savonarola von Ferrarien excellieret haben. Die andere aber wird erforschet aus den Wörtern selbsten der Heiligen Schrift, die ganze sensibele Welt und der Natur und Wirkung, Kräfte und Vermögen; und diese Exposition wird physica und naturalis genennet; in dieser ist berühmet gewesen Rabbi Simeon, Benjoachim, welcher über das dritte Buch Mosis ein weitläuftig Buch geschrieben hat, in welchem er fast aller Sachen Natur ergründet und gewiesen hat, wie Moses nach einer dreifachen Welt und ihrer Eigenschaft die Lade des Bundes, die Hütten, die Gefässe, die Kleider, die Gebräuche, die Opfer und andere göttliche Geheimnisse und himmlische Wirkungen an das Licht gebracht hat zur Reinigung des Bildes Gottes; und diese Exposition haben die Kabbalisten in die Welt eingeführet und fürnehmlich diejenigen, welche von den Breschith, das ist von den erschaffenen Dingen traktieren. Denn diejenigen, welche von der Mercana oder von dem Sitz Gottes durch Zahlen,[152] Figuren, Umdrehungen, durch symbolische Vernunftschlüsse uns was lehren, die schreiben alles dem wahren Erschöpfer zu und bringen daraus einen Sensum anagogicum.

Derowegen sind dieses die sechs berühmtesten Auslegungen der Heiligen Schrift, deren Urheber, Ausleger und Verdolmetscher alle mit einem Wort Theologi genennet werden; von diesen sind aus den unsrigen gewesen: Dionysius, Origenes, Polycarpus, Eusebius, Tertullianus, Irenaeus, Nazianzenus, Chrysostomus, Athanasius, Basilius, Damascenus, Lactantius, Cyprianus, Hieronymus, Augustinus, Ambrosius, Gregorius, Ruffinus, Leo, Cassianus, Bernhardus, Anselmus und viel andere heilige Patres, welche uns die alten Zeiten gebracht haben. Nachgehends sind gewesen (alle geringer als die alten) Thomas, Albertus, Bonaventura, Aegidius, Henricus von Gant, Gerson und andere mehr. Aber alle diese Ausleser und Theologi sind Menschen, derowegen müssen sie auch, was menschlich ist, leiden; denn da irren sie bald, bald schreiben sie das Widerspiel, bald statuieren sie, was einem andern konträr ist, bald sind sie selbsten mit sich nicht einig, in vielem fehlen sie und alle können nicht alles sehen. Denn der Heilige Geist alleine, der hat die vollkommene Wissenschaft der göttlichen Sachen; derselbe teilet sie einem jedweden aus nach seinem Mass und behält viel für sich, damit dass er uns alle zu Discipuln behalte; denn (wie Paulus spricht): Omnes, non nisi ex parte, cognoscimus et prophetamus. Das ist: Alles erkennen wir nur stückweise und prophezeien darnach.

Derowegen bestehet diese ganze Theologia interpretativa in der Freiheit des Geistes und ist gleichsam eine von der Schrift absonderliche Weisheit, nach welcher ein jedweder, nachdem er ein Pfund von Gott erlanget hat, eine der Auslegungen, die wir droben gemeldet, machet, welche alle Paulus mit einem Worte Mysteria oder geheime Reden nennet, da nämlich der Geist Geheimnisse redet; dahero nennet[153] sie Dionysius Theologiam mysticam und significativam, welche von diesen heiligen Lehrern in unbändigen Büchern nicht ohne Irrtum ist traktieret worden. Man muss nicht in allem ihnen Glauben beimessen; denn ihrer viel haben verharret in ihren Irrtümern von dem Glauben, welche von der Kirche als ketzerisch sind verworfen worden; und ist dieses offenbar bei dem Papia, dem Heropolitanischen Bischof, bei dem Victorino zu Poitiers, bei dem Irenaeo zu Lyon, bei dem Cypriano, bei dem Origene, bei dem Tertuiliano und viel asndern mehr, die in Glaubenssachen geirret haben, und derer Meinung und Lehre als eine ketzerische ist verdammet worden, trotzdem sie doch in Canone Sanctorum geblieben sind.

Allhier aber wird ein höherer Geist erfordert, welcher recht zu judizieren und zu unterscheiden weiss; dieser nämlich, welcher nicht aus einem Menschen, nicht aus Fleisch und Blut, sondern noch hierüber von dem Vater des Lichts eingepflanzet wird; denn Gott kann niemand denn durch dessen Erleuchtung etwas Beständiges sagen. Aber dieses Licht und diese Erleuchtung ist das Wort Gottes, durch welches alles gemacht ist und welches alle Menschen, die in diese Welt kommen, erleuchtet und ihnen Macht gibt, Kinder Gottes zu werden, die an ihn glauben und ihn annehmen. Denn es ist niemand, der aussprechen kann, was Gottes ist, als dessen eigentliches Wort. Und wer hat erkennet den Willen des Herrn und ist dessen Rat worden als nur allein Gottes Sohn, das Wort des Vaters? Und von diesem wollen wir bald reden, wann wir nur die Theologiam propheticam oder die weissagerische Theologie werden absolvieret haben.[154]

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 2, S. 150-155.
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