»Der geheime (innere) Lenker«

[64] Da fragte ihn Uddâlaka Âruni: ›Yâjnavalkya‹, sprach er. ›Wir hielten uns im Lande der Madrer, im Hause des Patancala Kâpya auf zum Studium des Opfers. Dessen Gattin war[64] vom Dämon gepackt. Wir fragten ihn: »Wer bist du?« Er sprach: »Kabandha Âtharvana.«‹

»Der sagte zu Patancala Kâpya und den Opferpriestern: ›Kennst du den Faden, durch den diese und jene Welt und alle Wesen miteinander verknüpft sind?‹ Patancala Kâpya sagte: ›Den weiß ich nicht, Ehrwürdiger.‹«

»Der sprach zu Patancala Kâpya und den Opferpriestern: ›Kennst du, Kâpya, den geheimen Lenker, der diese und jene Welt und alle Wesen innerlich lenkt?‹ Patancala Kâpya antwortete: ›Den weiß ich nicht, Ehrwürdiger.‹«

»Der sprach zu Patancala Kâpya und den Opferpriestern: ›Wer diesen Faden kennt und den geheimen Lenker, der ist kundig des Brahman, kundig der Welt, kundig der Götter, kundig des Veda, kundig des Opfers, kundig der Wesen, kundig des Âtman, kundig des Alls.‹ Er erklärte es ihnen, und ich weiß es. Wenn du, Yâjnavalkya, des Fadens und des geheimen Lenkers unkundig, die für den (gelehrtesten) Brahmanen ausgesetzten Kühe eintreibst, dann wird dein Haupt zerspringen.«1

›Ich weiß, Gautama, diesen Faden und den geheimen Lenker.‹ »Jeder kann sagen, ›ich weiß, ich weiß‹. Sage uns nur, wie.«

›Dieser Faden, Gautama, ist der Wind; durch den Wind als Faden, Gautama, ist diese und jene Welt, sind alle Wesen verknüpft. Von einem toten Menschen sagt man darum, daß seine Glieder sich lösen. Denn durch den Wind [= Hauch] als Faden sind sie zusammengeknüpft.‹ »So ist es, Yâjnavalkya. Beschreibe den geheimen Lenker.«

›Der, welcher in der Erde wohnend von der Erde verschieden ist, den die Erde nicht kennt, dessen Leib die Erde ist, der die Erde von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.2

Der, welcher in den Gewässern wohnend von den Gewässern verschieden ist, den die Gewässer nicht kennen, dessen Leib die Gewässer sind, der die Gewässer von innen[65] lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Feuer befindlich vom Feuer verschieden ist, den das Feuer nicht kennt, dessen Leib das Feuer ist, der das Feuer von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Äther wohnend vom Äther verschieden ist, den der Äther nicht kennt, dessen Leib der Äther ist, der den Äther von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Winde wohnend vom Wind verschieden ist, den der Wind nicht kennt, dessen Leib der Wind ist, der den Wind von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher in der Sonne wohnend von der Sonne verschieden ist, den die Sonne nicht kennt, dessen Leib die Sonne ist, der die Sonne von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Monde und den Sternen wohnend von Mond und Sternen verschieden ist, den Mond und Sterne nicht kennen, dessen Leib Mond und Sterne sind, der Mond und Sterne von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher in den Himmelsgegenden wohnend von den Himmelsgegenden verschieden ist, den die Himmelsgegenden nicht kennen, dessen Leib die Himmelsgegenden sind, der die Himmelsgegenden von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Blitz wohnend vom Blitz verschieden ist, den der Blitz nicht kennt, dessen Leib der Blitz ist, der den Blitz von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Donner wohnend vom Donner verschieden ist, den der Donner nicht kennt, dessen Leib der Donner ist, der den Donner von innen lenkt, das ist dein Âtman,[66] der heimliche Lenker, der unsterbliche. Das in bezug auf die Götter. In bezug auf die Welten aber gilt:

Der, welcher in allen Welten wohnend von allen Welten verschieden ist, den die Welten alle nicht kennen, dessen Leib alle Welten sind, der alle Welten von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Soviel in bezug auf die Welten. In bezug auf die Veden aber gilt:

Der, welcher in allen Veden wohnend von allen Veden verschieden ist, den die Veden alle nicht kennen, dessen Leib alle Veden sind, der alle Veden von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Soviel in bezug auf die Veden. In bezug auf die Opfer aber gilt:

Der, welcher in allen Opfern wohnend von allen Opfern verschieden ist, den die Opfer alle nicht kennen, dessen Leib alle Opfer sind, der alle Opfer von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Soviel in bezug auf die Opfer. In bezug auf die Wesen aber gilt:

Der, welcher in allen Wesen wohnend von allen Wesen verschieden ist, den die Wesen alle nicht kennen, dessen Leib alle Wesen sind, der alle Wesen von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Soviel in bezug auf die Wesen. In bezug auf die Person (âtman) aber gilt:

Der, welcher im Hauch wohnend vom Hauch verschieden ist, den der Hauch nicht kennt, dessen Leib der Hauch ist, der den Hauch von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher in der Stimme wohnend von der Stimme verschieden ist, den die Stimme nicht kennt, dessen Leib die Stimme ist, der die Stimme von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Auge wohnend vom Auge verschieden ist,[67] den das Auge nicht kennt, dessen Leib das Auge ist, der das Auge von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Ohr wohnend von dem Ohr verschieden ist, den das Ohr nicht kennt, dessen Leib das Ohr ist, der das Ohr von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Verstande wohnend vom Verstande verschieden ist, den der Verstand nicht kennt, dessen Leib der Verstand ist, der den Verstand von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Gefühl (in der »Haut«) wohnend vom Gefühl verschieden ist, den das Gefühl nicht kennt, dessen Leib das Gefühl ist, der das Gefühl von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher in der Wärme (»Glut«) wohnend von der Wärme verschieden ist, den die Wärme nicht kennt, dessen Leib die Wärme ist, der die Wärme von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Dunkel wohnend von dem Dunkel verschieden ist, den das Dunkel nicht kennt, dessen Leib das Dunkel ist, der das Dunkel von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der, welcher im Samen wohnend vom Samen verschieden ist, den der Same nicht kennt, dessen Leib der Same ist, der den Samen von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Der im (individuellen) Selbst wohnend vom Selbst verschieden ist, den das Selbst nicht kennt, dessen Leib das Selbst ist, der das Selbst von innen lenkt, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche.

Er ist der Seher, den man nicht sieht, der Hörer, den man nicht hört, der Denker, den man nicht denkt, der Erkenner, den man nicht erkennt; es gibt keinen anderen Seher, es gibt[68] keinen anderen Hörer, es gibt keinen anderen Denker, es gibt keinen anderen Erkenner, das ist dein Âtman, der heimliche Lenker, der unsterbliche. Leidvoll ist alles andere.‹ Darauf schwieg Uddâlaka Âruni.


(III, 7)

1

Über das Bersten des Kopfes und die Gefährlichkeit der Redeturniere siehe Hanns Oertel, Studien zur vgl. Literaturgeschichte VIII, 1, 121.

2

Diese Wendung wiederholt sich zwar beständig; ich habe den Text aber doch unverkürzt gegeben, weil er sonst von seiner Eigenart verliert.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 64-69.
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