Der gemeinsame Urgrund von allen Dingen

[146] (= Shânkhâyana Âranyaka V)


Die Upanishad unterscheidet die Sinnesobjekte, die Sinne und Prajnâ, Erkenntnis oder Bewußtsein; diese drei sind aber innerlich voneinander nicht getrennt; sondern wie der Radkranz an den Speichen, die Speichen an der Nabe haften, so haften die Sinnesobjekte an den Sinnen, die Sinne an dem ›Hauch‹, der mit Prajnâ gleichbedeutend ist. Aus ihm geht, z.B. als Teil von ihm, das Auge hervor, aus dem Auge als Sinnesobjekt (»Wesenselement«) die Gestalt oder Erscheinung. Ebenso das Gehör, aus dem Gehör als Sinnesobjekt der Ton usw. Ein Auge, das von der Prajnâ verlassen ist, vermag eine Erscheinung nicht bewußt[146] zu erfassen, ebenso das von der Prajnâ verlassene Ohr nicht den Ton. In allen Dingen herrscht ein gemeinsames Prinzip; man muß nicht die Vielheit sehen, sondern nach dem fragen, was der letzte Grund aller Vielheit ist. (Man sehe auch S. 104ff. Chândogya-Up. V, 11-18.)


Pratardana, der Sproß des Divodâsa, kam durch Kampf und Heldentum zu Indras liebem Hause. Indra sprach zu ihm: ›Pratardana, wähle dir einen Wunsch aus.‹ Ihm antwortete Pratardana: »Wähle du für mich; du weißt für den Menschen das Beste.« Zu ihm sprach Indra: ›Nicht wählt der Höhere für den Niederen; wähle du selbst1.‹ »Ich hege keinen Wunsch.« Aber Indra ging nicht von der Wahrheit ab; denn Indra ist die Wahrheit. Indra sprach zu ihm: ›Erkenne mich; ich halte das für das beste für den Menschen, daß er mich erkenne. [Ich schlug den Sohn des Tvashtr, übergab die frommen Arunmukhas den Wölfen, durchbohrte unter Bruch vieler Verträge am Himmel die Prahlâdiyas, im Luftraum die Paulomas, auf der Erde die Kâlakanjas, aber kein Haar von mir kam dabei zu Schaden. Wer mich kennt, dessen Welt kommt durch kein Tun zu Schaden, nicht durch Diebstahl, nicht durch Tötung der Leibesfrucht, nicht durch Mutter- oder Vatermord. Nicht weicht das Dunkle aus dem Angesicht des Übeltäters2].‹ Er sprach: ›Ich bin der Atem. Verehre in mir als dem Bewußtsein3 das Leben, das Unsterbliche. Leben ist Atem, Atem ist Leben. Solange in diesem Leibe der Atem wohnt, wohnt in ihm das Leben; durch den Atem erlangt er in dieser Welt Unsterblichkeit4, durch das Bewußtsein wirkliches Vorstellen. Wer in mir das Leben, das Unsterbliche verehrt, erlangt ein volles Alter in dieser Welt und gewinnt Unsterblichkeit, Unvergänglichkeit im Himmel‹. Man sagt nun: »Die Hauche werden zur Einheit; denn man könne nicht auf einmal durch die Rede den Namen, durch das Auge die Form, durch das Ohr den Laut, durch den Geist den Gedanken kundmachen, aber wenn die Hauche zu einer Einheit geworden seien, so machen sie das alles einzeln kund. Wenn die Stimme spreche, so sprechen danach[147] alle Hauche, wenn das Auge sehe, so sehen danach alle Hauche, wenn das Ohr höre, so hören danach alle Hauche, wenn der Geist denke, so denken danach alle Hauche, wenn der Hauch hauche, so hauchen danach alle Hauche.« ›So ist das‹, sprach Indra. Es besteht jedoch für die (eigentlichen) Hauche ein Vorrang.

Man lebt ohne Rede; denn wir sehen die Stummen. Man lebt ohne Auge; denn wir sehen die Blinden. Man lebt ohne Gehör; denn wir sehen die Tauben. Man lebt ohne Geist; denn wir sehen die Dummen. Man lebt ohne Arme; man lebt ohne Beine, das sehen wir. Aber der Hauch erfaßt als Bewußtsein diesen Leib und richtet ihn auf. Darum soll man in ihm das ›Uktha‹ verehren5. In dem Hauch gewinnt man alles. Hauch ist Bewußtsein, Bewußtsein ist Hauch. So sieht man ihn, so erkennt man ihn: wenn ein Mensch im Schlaf keinen Traum sieht, dann wird er in diesem Hauch zu einer Einheit: in ihn geht die Rede mit allen Namen ein, in ihn geht das Auge mit allen Formen ein, in ihn geht das Ohr mit allen Lauten ein, in ihn geht der Geist mit allen Gedanken ein. Wie aus einem brennenden Feuer nach allen Seiten Funken stieben, so breiten sich beim Erwachen aus diesem Selbst die Hauche nach allen Seiten, jeder nach seiner Stelle aus, aus den Hauchen die Götter, aus den Göttern die Welten.

Dieser Hauch erfaßt als Bewußtsein diesen Leib und richtet ihn auf. Darum soll man in ihm das Uktha verehren. In dem Hauch gewinnt man alles. Hauch ist Bewußtsein, Bewußtsein ist Hauch. So kommt er zustande, so erkennt man ihn: Wenn ein Mensch von Krankheit überwältigt im Begriff ist zu sterben, in Schwäche und Verwirrung verfällt, dann heißt es, sein Verstand zog aus, er hört nicht, sieht nicht, redet nicht, denkt nicht. Da wird er in diesem Hauch zur Einheit: in ihn geht die Rede mit allen Namen ein, in ihn geht das Auge mit allen Formen ein, in ihn geht das Ohr mit allen Lauten ein, in ihn geht der Geist mit allen Gedanken ein.[148] Wenn er aus diesem Leibe auszieht, zieht er gemeinsam mit allen diesen aus.

Mit der Rede ziehen in ihn alle Namen ein; mit der Rede erlangt man alle Namen. Mit dem Hauch ziehen in ihn alle Gerüche ein; mit dem Hauch erlangt man alle Gerüche. Mit dem Auge ziehen in ihn alle Gestalten ein; mit dem Auge erlangt man alle Gestalten; mit dem Ohr ziehen in ihn alle Laute ein; mit dem Ohr erlangt man alle Laute. Mit dem Geist ziehen in ihn alle Gedanken ein; mit dem Geist erlangt man alle Gedanken. Mit dem Hauch gewinnt man alles. Hauch ist Bewußtsein, Bewußtsein ist Hauch. Beide wohnen in diesem Körper vereint, und gemeinsam ziehen sie hinaus6.

Wie für dieses Bewußtsein alle Dinge eins werden, das wollen wir erklären.

Die Rede ist als ein Teil davon ausgesondert; ihr ist der Name als Wesenselement gegenübergestellt. Der Hauch ist als ein Teil davon ausgesondert; ihm ist der Geruch als Wesenselement gegenübergestellt. Das Auge ist als ein Teil davon ausgesondert; ihm ist die Form als Wesenselement gegenübergestellt. Das Gehör ist als ein Teil davon ausgesondert; ihm ist der Laut als Wesenselement gegenübergestellt. Die Zunge ist als ein Teil davon ausgesondert; ihr ist Speise und Trank als Wesenselement gegenübergestellt. Die Hände sind als ein Teil davon ausgesondert; ihnen ist die Arbeit als Wesenselement gegenübergestellt. Der Körper ist als ein Teil davon ausgesondert; ihm sind Glück und Unglück als Wesenselement gegenübergestellt. Der Schoß ist als ein Teil davon ausgesondert; ihm ist Wonne, Liebeslust und Zeugung als Wesenselement gegenübergestellt. Die Füße sind als ein Teil davon ausgesondert; ihnen sind als Wesenselement die Gänge gegenübergestellt. Der Geist ist als ein Teil davon ausgesondert; ihm sind Gedanke und Verlangen als Wesenselement gegenübergestellt.

Mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich der Rede, mittels[149] der Rede erlangt er alle Namen; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich des Hauches, mittels des Hauches erlangt er alle Gerüche; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich des Auges, mittels des Auges erlangt er alle Formen; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich des Gehöres, mittels des Gehöres erlangt er alle Laute; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich der Zunge, mittels der Zunge gewinnt er allen Geschmack; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich der Hände, mittels der Hände erlangt er alle Werke; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich des Körpers, mittels des Körpers erlangt er Freud und Leid; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich des Schoßes, mittels des Schoßes erlangt er Wonne, Liebeslust und Zeugung; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich der Füße, mittels der Füße gewinnt er alle Gänge; mittels des Bewußtseins bemächtigt er sich des Geistes, mittels des Geistes erlangt er alle Gedanken (»bemächtigt sich«: wörtlich »besteigt«).

Denn eine Rede ohne Bewußtsein kann ja nichts zur Wahrnehmung bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt sie, nicht nahm ich diesen Namen wahr.‹ Ein Hauch ohne Bewußtsein kann ja keinen Geruch zur Wahrnehmung bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt er, nicht nahm ich diesen Geruch wahr.‹ Ein Auge ohne Bewußtsein kann ja keine Form zur Wahrnehmung bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt es, nicht nahm ich diese Form wahr.‹ Ein Gehör ohne Bewußtsein kann ja keinen Ton zur Wahrnehmung bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt es, nicht nahm ich diesen Ton wahr.‹ Eine Zunge ohne Bewußtsein kann ja Speise und Trank nicht zur Wahrnehmung bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt sie, nicht nahm ich Speise und Trank wahr.‹ Hände können ohne Bewußtsein ein Werk nicht zur Wahrnehmung bringen. ›Unser Geist war anderswo, sagen sie, nicht nahmen wir dies Werk wahr.‹ Ein Körper ohne Bewußtsein vermag ja nicht[150] Freude und Leid zur Wahrnehmung zu bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt er, nicht nahm ich Freude und Leid wahr.‹ Ein Schoß ohne Bewußtsein vermag ja nicht Wonne, Liebeslust und Zeugung zur Wahrnehmung zu bringen: ›Mein Geist war anderswo, sagt er, nicht nahm ich Wonne, nicht Liebeslust, nicht Zeugung wahr.‹ Füße vermögen ohne Bewußtsein den Gang nicht zur Wahrnehmung zu bringen: ›Unser Geist war anderswo, sagen sie; nicht nahmen wir diesen Gang wahr.‹ Ein Gedanke ohne Bewußtsein kann ja nicht zustande kommen; nicht kann, was zu erkennen ist, erkannt werden.

Nicht nach der Rede soll einer fragen, sondern den erkennen, der redet; nicht nach dem Geruch, sondern den erkennen, der riecht; nicht nach der Erscheinung, sondern den erkennen, der sieht; nicht nach dem Laut, sondern den erkennen, der hört; nicht nach Speise und Trank, sondern den erkennen, der Speise und Trank empfindet; nicht nach dem Werk, sondern den erkennen, der es tut; nicht nach Freud und Leid, sondern den erkennen, der Freud und Leid versteht; nicht nach Wonne, Liebeslust und Zeugung, sondern den erkennen, der Wonne, Liebeslust versteht, nicht nach dem Gange, sondern den erkennen, der geht; nicht nach dem Verstande, sondern den erkennen, der denkt.

Denn dieses sind die zehn Sinnesobjekte (»Wesenselement«), die das Bewußtsein voraussetzen, das sind die zehn Sinnesorgane (»Bewußtseinselement«), die die zehn Sinnesobjekte voraussetzen. Ohne Sinnesobjekte gäbe es keine Sinnesorgane, ohne Sinnesorgane gäbe es keine Sinnesobjekte7; denn einseitig käme keine Erscheinung irgendeiner Art zustande; es gibt da keine Trennung. So wie an die Speichen eines Rades der Radkranz und die Speichen in die Nabe eingefügt sind, so sind die Sinnesobjekte in die Sinnesorgane, die Sinnesorgane in den Atem (prâna) eingefügt. Dieser Atem hat Bewußtsein zum innersten Wesen (âtman); ist Wonne, altert und stirbt nicht. Durch ein gutes Werk wird[151] er nicht höher, durch ein schlechtes nicht geringer; sondern er läßt ein gutes Werk den tun, den er aus diesen Welten emporführen will, und ein schlechtes den, den er nach unten führen will. Er ist der Hüter der Welt, der Oberherr der Welt, der Gebieter der Welt; ›er ist meine Seele‹ (âtman), so soll er wissen; ›er ist meine Seele‹, so soll er wissen.


(III)

1

Text unsicher.

2

Die Aufzählung der Taten Indras, die die Mythologie verzeichnet, gehört nicht hierher.

3

Deussen: ›das Bewußtsein – Selbst‹; Berriedale Keith: ›the intelligent self‹.

4

Er stirbt nicht, solange er atmet. Man erwartet amushmin für asmin. Durch Weglassung des Satzes würde der Text glatter.

5

Eine falsche Etymologie, die den Hauch in Beziehung zu einem Hymnenzyklus setzen will, der unter dem Namen Uktha geht.

6

Das Verbum abhivisrijante macht Schwierigkeiten. Aus der Verwendung Kâthaka-Samh. 25, 2; 26, 2; 28, 2 folgt, daß es in der Bedeutung von ›auf-hin‹, ›auf-los‹ gebraucht wird. Behält man den Wortlaut bei, so muß nach m.A. wörtlich übersetzt werden: ›als Rede kehren in ihn die Namen ein‹. Deussen: ›als Rede werden in ihn alle Namen hineingeschüttet‹. B. Keith: ›Speech and all names are deposited in him‹.

7

Cowell: ›Were there no rudimentary elements, there would be no rudiments of prajnâ; were there no rudiments of prajnâ, there would be no rudimentary elements ... there is no division of this union.‹ Deussen: ›denn wenn die Wesenselemente nicht wären, so würden auch die Bewußtseinselemente nicht sein, und wenn die Bewußtseinselemente nicht wären, so würden auch die Wesenselemente nicht sein ... noch auch ist dieses eine Vielheit.‹

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 146-152.
Lizenz:

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon