3. Der Tiefschlaf (4,3,19–33).

[57] 19. Aber gleichwie dort im Luftraume ein Falke oder ein Adler, nachdem er umhergeflogen ist, ermüdet seine Fittiche zusammenfaltet und sich zur Niederkauerung begibt, also auch eilt der Geist zu jenem Zustande, wo er, eingeschlafen, keine Begierde mehr empfindet und kein Traumbild schaut.

21. Das ist die Wesensform desselben, in der er über das Verlangen erhaben, von Übel frei und ohne Furcht ist. Denn so wie einer, von einem geliebten Weibe umschlungen, kein Bewusstsein hat von dem, was aussen oder innen ist, so auch hat der Geist, von dem erkenntnisartigen Selbste [prâjñena âtmanâ d.i. dem Brahman] umschlungen, kein Bewusstsein von dem, was aussen oder innen ist. Das ist die Wesensform desselben, in der er gestillten[57] Verlangens, selbst sein Verlangen, ohne Verlangen ist und von Kummer geschieden.

22. Dann ist der Vater nicht Vater und die Mutter nicht Mutter, die Welten sind nicht Welten, die Götter nicht Götter, die Veden nicht Veden; dann ist der Dieb nicht Dieb, der Mörder nicht Mörder, der Câṇḍâla nicht Câṇḍâla, der Paulkasa nicht Paulkasa, der Asket nicht Asket, der Büsser nicht Büsser; dann ist Unberührtheit vom Guten und Unberührtheit vom Bösen, dann hat er überwunden alle Qualen seines Herzens.

23. Wenn er dann nicht sieht, so ist er doch sehend, obschon er nicht sieht; denn für den Sehenden ist keine Unterbrechung des Sehens, weil er unvergänglich ist; aber es ist kein Zweites ausser ihm, kein andres, von ihm verschiedenes, das er sehen könnte.

27. Wenn er dann nicht hört, so ist er doch hörend, obschon er nicht hört; denn für den Hörenden ist keine Unterbrechung des Hörens, weil er unvergänglich ist; aber es ist kein Zweites ausser ihm, kein andres, von ihm verschiedenes, das er hören könnte.

30. Wenn er dann nicht erkennt, so ist er doch erkennend, obschon er nicht erkennt; denn für den Erkennenden ist keine Unterbrechung des Erkennens, weil er unvergänglich ist, aber es ist kein Zweites ausser ihm, kein andres, von ihm verschiedenes, das er erkennen könnte.[58]

31. Denn [nur] wo ein andres gleichsam ist, sieht einer das andre, hört einer das andre, erkennt einer das andre.

32. Wie Wasser [rein], stehet er als Schauender allein und ohne Zweiten, er, o Grossfürst, dessen Welt das Brahman ist;« – so belehrte ihn Yâjñavalkya, – »dieses ist sein höchstes Ziel, dieses ist sein höchstes Glück, dieses ist seine höchste Welt, dieses ist seine höchste Wonne; durch ein kleines Teilchen nur dieser Wonne haben ihr Leben die andern Kreaturen.

33. Wenn unter den Menschen einer glücklich ist und reich, König über die andern und mit allen menschlichen Genüssen überhäuft, so ist das die höchste Wonne der Menschen. Aber hundert Wonnen der Menschen sind eine Wonne der Väter, die den Himmel erworben haben; und hundert Wonnen der Väter, die den Himmel erworben haben, sind eine Wonne in der Gandharva-Welt; und hundert Wonnen in der Gandharva-Welt sind eine Wonne der Götter durch Werke, die durch ihre Werke das Gottsein erlangen; und hundert Wonnen der Götter durch Werke sind eine Wonne der Götter von Geburt und eines der schriftgelehrt und ohne Falsch und frei von Begierde ist; und hundert Wonnen der Götter von Geburt sind eine Wonne in Prajâpati's Welt und eines der schriftgelehrt und ohne Falsch und frei von Begierde ist; und hundert Wonnen in Prajâpati's[59] Welt sind eine Wonne in der Brahman-Welt und eines der schriftgelehrt und ohne Falsch und frei von Begierde ist. Und dieses ist die höchste Wonne, dieses ist die Brahman-Welt, o Grossfürst!« – So sprach Yâjñavalkya. – »O Heiliger, ich gebe dir ein Tausend, rede was, höher als dieses, zur Erlösung dient!« – Da fing Yâjñavalkya an zu fürchten und dachte: dieser einsichtsvolle König hat mich aus allen Verschanzungen (oder: Schlupfwinkeln, antebhyaḥ) herausgetrieben.

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 57-60.
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