Vorwort.

Die Upanishad's sind für den Veda, was für die Bibel das Neue Testament ist; und diese Analogie ist nicht eine bloss äusserliche und zufällige, sondern eine solche, welche gar sehr in die Tiefe geht und in einem allgemeinen, auf beiden Gebieten zur Erscheinung kommenden, Entwicklungsgesetze des religiösen Lebens begründet ist.


In der Kindheit der Völker stellt die Religion Gebote und Verbote auf und gibt denselben Nachdruck durch Verheissung von Lohn und Androhung von Strafe; – sie wendet sich somit an den Egoismus, den sie als den eigentlichen Kern des natürlichen Menschen voraussetzt, und über welchen sie nicht hinausfuhrt.


Eine höhere Stufe des religiösen Bewusstseins wird erreicht mit der Erkenntnis, dass alle Werke, welche auf Furcht und Hoffnung als Triebfedern beruhen, für die ewige Bestimmung des Menschen wertlos sind, dass die höchste Aufgabe des Daseins nicht in einer Befriedigung des Egoismus, sondern in einer völligen Aufhebung desselben besteht, und dass erst in dieser unsere wahre, göttliche Wesenheit durch die Individualität hindurch wie durch eine Schale zum Durchbruche kommt.


Jener kindliche Standpunkt der Werkgerechtigkeit ist in der Bibel vertreten durch das alttestamentliche Gesetz und entsprechend im Veda durch das, was die indischen Theologen das Karmakâṇḍam (den Werkteil) nennen, unter welchem Namen sie die ganze Literatur der Hymnen und Brâhmaṇa's mit Ausnahme der hier und da eingeflochtenen upanishad-artigen Partien befassen. Beide, das Alte Testament und das Karmakâṇḍam des Veda, proklamieren ein Gesetz und stellen für die Befolgung desselben Lohn, für die Übertretung-Strafe in Aussicht; und wenn die indische Theorie den Vorteil hat, die Vergeltung teilweise ins Jenseits verlegen zu können und dadurch dem Konflikt mit der Erfahrung auszuweichen, welcher der alttestamentlichen, aufs Diesseits beschränkten, Vergeltungslehre so viele Verlegenheiten bereitet, – so ist es hinwiederum der auszeichnende Charakter der[6] biblischen Gesetzesgerechtigkeit, dass sie weniger als die indische auf Ritualvorschriften hinausläuft und dafür grösseren Nachdruck auf einen sittlichen, »unsträflichen« Lebenswandel legt. Für die Interessen der menschlichen Gesellschaft ist dieser Vorzug ein sehr grosser; an sich aber und für den moralischen Wert des Handelns begründet es keinen Unterschied, ob der Mensch sich im Dienste imaginärer Götter oder in dem seiner Mitmenschen abmüht: beides ist, solange dabei eignes Wohlsein als letzter Zweck vorschwebt, ein blosses Mittel zu diesem egoistischen Zwecke und daher, wie dieser selbst, moralisch betrachtet wertlos und verwerflich.


Diese Erkenntnis bricht sich Bahn im Neuen Testamente, wenn es die Wertlosigkeit, in den Upanishad's, wenn sie sogar die Verwerflichkeit aller, auch der guten Werke lehren; beide machen das Heil abhängig, nicht von irgendwelchem Tun und Lassen, sondern von einer völligen Umwandlung des ganzen natürlichen Menschen; beide betrachten diese Umwandlung als eine Erlösung aus den Fesseln dieser ganzen, im Egoismus wurzelnden, empirischen Realität.


Aber warum bedürfen wir einer Erlösung aus diesem Dasein? Weil dasselbe das Reich[7] der Sünde ist, antwortet die Bibel; weil es das Reich des Irrtums ist, antwortet der Veda. Jene sieht die Verderbnis im wollenden, dieser im erkennenden Teile des Menschen; jene fordert eine Umwandlung des Willens, dieser eine solche des Erkennens. Auf welcher Seite liegt hier die Wahrheit? – Wäre der Mensch bloss Wille oder bloss Erkenntnis, so würden wir uns, dem entsprechend, für die eine oder andere Auffassung zu entscheiden haben. Nun aber der Mensch ein zugleich wollendes und erkennendes Wesen ist, so wird sich jene grosse Wendung, in welcher Bibel und Veda das Heil erblicken, auf beiden Gebieten vollziehen: sie wird erstlich, nach biblischer Anschauung, das im natürlichen Egoismus versteinerte Herz erweichen und zu Taten der Gerechtigkeit, Liebe und Selbstverleugnung fähig machen, und sie wird zweitens, Hand in Hand damit, in uns die grosse, Kants Lehre antizipierende, Erkenntnis der Upanishad's aufdämmern lassen, dass diese ganze räumliche, folglich vielheitliche, folglich egoistische Weltordnung nur beruht auf einer, uns durch die Beschaffenheit unseres Intellektes eingeborenen Illusion (mâyâ), dass es in Wahrheit nur ein ewiges, über Raum und Zeit, Vielheit und Werden erhabenes Wesen gibt, welches in allen Gestalten der Natur zur[8] Erscheinung kommt, und welches ich, ganz und ungeteilt, in meinem Innern als mein eigentliches Selbst, als den Âtman fühle und finde.


So gewiss, nach Schopenhauers grosser Lehre, der Wille, und nicht der Intellekt, den Kern des Menschen bildet, so gewiss wird dem Christentum der Vorzug bleiben, dass seine Forderung einer Wiedergeburt des Willens die eigentlich zentrale und wesentliche ist, – aber so gewiss der Mensch nicht bloss Wille, sondern zugleich auch Intellekt ist, so gewiss wird jene christliche Wiedergeburt des Willens nach der andern Seite hin als eine Wiedergeburt der Erkenntnis sich kundgeben, wie die Upanishad's sie lehren. »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«, fordert die Bibel; – aber woher diese Zumutung, da ich doch nur in mir, nicht in dem andern fühle? – »Weil«, so fügt hier der Veda erklärend hinzu, »dein Nächster in Wahrheit dein eigenes Selbst, und, was dich von ihm trennt, blosse Täuschung ist.« – Wie in diesem Falle, so ist es auf allen Punkten des Systems: das Neue Testament und die Upanishad's, diese beiden höchsten Erzeugnisse des religiösen Bewusstseins der Menschheit, stehen nirgendwo (wenn man nicht an der Aussenseite klebt) in[9] einem unvereinbaren Widerspruche, sondern dienen in schönster Weise einander zur Erläuterung und Ergänzung.


Ein Beispiel mag zeigen, welchen Wert die Upanishadlehre für die Ausgestaltung unseres christlichen Bewusstseins gewinnen kann.

Das Christentum lehrt seinem Geiste, wenn auch nicht überall seinem Buchstaben nach, dass der Mensch, als solcher, nur zu sündlichen, d.h. egoistischen Handlungen fähig ist (Römer 7,18), und dass alles Gute, seinem Wollen wie Vollbringen nach, nur von Gott in uns gewirkt werden kann (Phil. 2,13). So klar diese Lehre, für jeden, der Augen hat zu sehen, nicht sowohl in vereinzelten Aussprüchen, als vielmehr schon in dem ganzen Systeme als solchem präformiert liegt, so schwer ist es doch zu allen Zeiten der Kirche geworden, sich mit ihr zu befreunden; stets wusste sie einen Ausweg zum Synergismus mit seinen Halbheiten zu gewinnen und der Mitwirkung des Menschen irgendeine Hintertür offen zu lassen, – offenbar, weil sie hinter dem Monergismus, der alles Gute auf Gott zurückführt, als Schreckgespenst die grauenhafte Absurdität der Prädestination stehen sah. Und freilich stellt sich diese als unvermeidliche Konsequenz ein, sobald man jene, so tiefe[10] wie wahre, christliche Erkenntnis des Monergismus verknüpft mit dem, aus dem Alten Testamente überkommenen, jüdischen Realismus, welcher Gott und Mensch als zwei sich ausschliessende Wesenheiten einander gegenüberstellt. – In diesen Dunkelheiten kommt uns aus dem Osten, aus Indien, das Licht. Zwar nimmt auch Paulus einen Anlauf, Gott mit dem ἄνϑρωπος πνευματικός zu identifizieren (1. Kor. 15,47), zwar sucht auch Kant das wundersame Phänomen des kategorischen Imperativs in uns daraus zu erklären, dass in ihm der Mensch als Ding an sich dem Menschen als Erscheinung das Gesetz gibt, – aber was bedeuten diese schüchternen und tastenden Versuche gegenüber der grossen, auf jeder Seite der Upanishad's durchblickenden Grundanschauung des Vedânta, dass der Gott, welcher allein alles Gute in uns wirkt, nicht, wie im Alten Testamente, ein uns als ein andrer gegenüberstehendes Wesen, sondern vielmehr – unbeschadet seiner vollen Gegensätzlichkeit zu unserm verderbten empirischen Ich (jîva) – unser eigenstes, metaphysisches Ich, unser, bei allen Abirrungen der menschlichen Natur, in ungetrübter Heiligkeit verharrendes, ewiges, seliges, göttliches Selbst, – unser Âtman ist![11]

Dieses und vieles andere können wir aus den Upanishad's lernen, – werden wir aus den Upanishad's lernen, wenn wir anders unser christliches Bewusstsein zum konsequenten, nach allen Seiten vollgenügenden Ausbau bringen wollen.

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. VI6-XII12.
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