2. Theorie der Musik - Yüo Lun

[74] Die Musik bewirkt Vereinigung, die Sitten bewirken Trennung. In der Vereinigung lieben die Menschen einander, durch die Trennung achten die Menschen einander. Wenn die Musik überwiegt, so entsteht die Gefahr des Zerfließens. Wenn die Sitte überwiegt, so besteht die Gefahr der Erstarrung. Die Gefühle in Einklang zu bringen und die Äußerungen zur Schönheit zu bringen, das ist die Aufgabe von Sitte und Musik.

Wenn der Sinn der Sitte feststeht, so gliedern sich vornehm und gering. Wenn die Kunst der Musik vereinigt, so leben hoch und niedrig in Frieden. Indem der Fürst seiner Liebe zum Guten und seinem Haß gegen das Böse Ausdruck gibt, werden Tüchtige und Untaugliche unterschieden. Wenn durch Strafen Gewalttaten verhindert werden und durch Ehrungen die Tüchtigen erhoben werden, so wird die Regierung ebenmäßig. Durch die Gütigkeit werden die Menschen zur Liebe geführt; durch Gerechtigkeit werden die Menschen zum Rechttun geführt. Auf diese Weise kommt des Volkes Ordnung in Gang.

Die Musik kommt aus dem Innern hervor. Die Sitten gestalten von außen her. Weil die Musik aus dem Innern hervorkommt, darum bewirkt sie Ruhe. Weil die Sitten von außen her gestalten, darum bewirken sie Schönheit. Deshalb ist höchste Musik stets leicht und höchste Sitte stets einfach. Die höchste Musik entfernt den Groll, die höchste Sitte entfernt den Streit. Durch Freundlichkeit und Nachgiebigkeit die Welt zu ordnen, das ist der Sinn von Sitte und Musik. Wenn gewalttätige Menschen sich nicht erheben, wenn die Lehensfürsten sich willig unterwerfen, wenn Wehr und Waffen nicht erprobt werden, wenn die fünf Strafen nicht gebraucht werden, wenn die Untertanen nicht leiden und der Sohn des Himmels nicht zürnt, dann hat die Musik ihren Zweck erfüllt. Wenn sich Vater und Sohn in Liebe vereinigen, wenn die Unterschiede zwischen Alter und Jugend klar erkannt werden, wenn die Menschen innerhalb der vier Meere einander achten, dann hat die Sitte ihre Wirkung erreicht.

Die große Musik wirkt mit Himmel und Erde zusammen[75] harmonische Vereinigung. Die große Sitte wirkt mit Himmel und Erde zusammen rhythmische Gliederung. Harmonische Vereinigung bewirkt, daß die Dinge nicht verlorengehen. Rhythmische Gliederung ermöglicht, dem Himmel zu opfern und der Erde zu spenden. In der Sichtbarkeit herrschen Sitte und Musik; im Unsichtbaren herrschen Geister und Götter. Auf diese Weise sind alle Menschen vereint durch gegenseitige Achtung und verbunden durch gegenseitige Liebe. Der Zweck der Sitte ist es, die verschiedenen Tätigkeiten durch Achtung zu vereinen; der Zweck der Musik ist es, die verschiedenen Formen durch Liebe zu vereinigen. Sitte und Musik stimmen ihrem letzten Wesen nach überein. Daher haben sie die weisen Könige gemeinsam gefördert. So kamen die Werke in Einklang mit der Zeit und die Namen zur Deckung mit den Leistungen.

Glocken und Pauken, Oboen und Klingsteine, Federn und Flöten, Schilde und Äxte sind die Werkzeuge der Musik. Beugen und Strecken, Neigen und sich Aufrichten, die Reihen und Zahlen, Langsamkeit und Raschheit sind die Formen der Musik. Die Körbe und Schalen, die Weihgefäße und Kornbehälter, die Vorschriften und Schmuckformen sind die Werkzeuge der Sitte. Hinaufsteigen und Herabsteigen, das Umwandeln und das Wechseln der Kleider sind die Formen der Sitte. Darum, wer das Wesen von Sitte und Musik versteht, der vermag sie zu schaffen; wer die Formen von Sitte und Musik versteht, vermag sie zu überliefern. Wer sie zu schaffen vermag, ist ein Heiliger. Wer sie zu überliefern vermag, ist ein Weiser. Der Name der Weisen und Heiligen bezieht sich auf das Überliefern und Schaffen.

Die Musik ist die Harmonie von Himmel und Erde. Die Sitte ist die Stufenfolge von Himmel und Erde. Durch Harmonie verwandeln sich alle Dinge, durch die Stufenfolge unterscheiden sich alle Dinge. Die Musik hat ihren schöpferischen Ursprung im Himmel, die Sitten formen sich nach der Erde. Wenn der Formungen zuviel werden, so entsteht Verwirrung; wenn des Schöpferischen zuviel wird, so entsteht Gewalt. Nur wenn man Himmel und Erde klar erkennt, dann vermag man Sitte und Musik zur Blüte zu bringen.

Die Vereinigung der verschiedenen Beziehungen ohne Leid[76] ist das Wesen der Musik. Freude, Heiterkeit, Vergnügen und Liebe sind die Wirkungen der Musik. Schlicht und recht und ohne Arg ist der Gehalt der Sitte. Ernst und Achtung, Ehrerbietung und Gehorsam sind die Formen der Sitte. Wenn Sitte und Musik ausgeübt werden auf metallenen und steinernen Instrumenten, sich äußern in Lauten und Tönen, dargebracht werden im Ahnentempel und vor dem Altar des Bodens und Korns, wenn man mit ihnen dient den Bergen und Strömen, den Geistern und Göttern, so kommt man in Übereinstimmung mit dem Volk.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 74-77.
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