2. Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit

[121] Der Herzog sprach: »Nun, was soll ich denn lernen, daß es recht ist?«

Der Meister sprach: »Sitte und Musik durchführen und kraftvoll sein in Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit, das mag ein Fürst mit Recht üben.«

Der Herzog sprach: »Redet mehr mit mir von Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit, damit ich nicht in Schwierigkeiten gerate.«

Der Meister sprach: »Wenn es nur nicht dahin kommt, daß[121] man Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ganz klarmacht und sich den Mund ermüdet, ohne daß der Fürst dadurch beeinflußt wird! Wenn man aber Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ganz klarmacht und der Fürst vermag sie wirklich durchzuführen, so läßt sich der Erfolg sofort sehen. Wenn der Fürst Audienz hält und Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ausübt, so dienen ihm die Beamten so, daß die Gewissenhaftigkeit ihr Inneres erfüllt und sich im Äußeren zeigt, daß sie sich im Volke gestaltet und bis zu den vier Meeren ausdehnt. Wen gibt es dann auf Erden, der ihm Schwierigkeiten machen könnte?«

Der Herzog sprach: »Darf ich, bitte, alles über die Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit lernen?«

Der Meister sprach: »Nur der Herr eines Staatswesens weiß wirklich, was diese Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ist. Ich habe nur auf Umwegen etwas darüber gelernt. Wie sollte ich diese Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit kennen?«

Der Herzog sprach: »Außer Euch, Meister, weiß niemand darüber Bescheid.«

Der Meister entschuldigte sich dreimal; dann war er im Begriff zu antworten.

Der Herzog sprach: »Soll Giang sich zurückziehen21

Der Meister sprach: »Giang mag weiterhin aufwarten. Ich habe vernommen, daß der Große Weg kein Geheimnis ist. Wenn ich ihn ausspreche und Ew. Hoheit entfalten ihn bei Hofe und führen ihn im Reich durch, so wird es bald niemand mehr im Reich geben, der es nicht weiß. Warum sollte sich da der eine Giang zurückziehen?

Ich habe vernommen, die Gewissenhaftigkeit hat neun Stufen der Erkenntnis. Wenn man die Gewissenhaftigkeit erkennt, erkennt man die Mitte. Wenn man die Mitte erkennt, erkennt man die Übertragung von sich auf andere (Mitgefühl). Wenn man die Übertragung (Mitgefühl) erkennt, erkennt man das Äußere. Wenn man das Äußere erkennt, erkennt man die Geisteskraft. Wenn man die Geisteskraft erkennt, erkennt man die Ordnung des Staates. Wenn man die Ordnung des Staates erkennt, erkennt man die Amtsfunktionen. Wenn man die Amtsfunktionen erkennt, erkennt man[122] die (von den Beamten zu leistenden) Arbeiten. Wenn man die Arbeiten erkennt, erkennt man die Schwierigkeiten. Wenn man die Schwierigkeiten erkennt, erkennt man die notwendigen Vorbereitungen.

Wenn man bei seinen Handlungen nicht vorbereitet ist, die Schwierigkeiten nicht kennt, ja die Gefahr des Untergangs nicht kennt: wie könnte man da Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit kennen!

Wenn man innerlich nachdenkt, so daß man sein ganzes Bewußtsein durchleuchtet, das nennt man Erkenntnis der Mitte22. Die Mitte, die in ihrer Reaktion auf die Wirklichkeit erkannt wird, heißt Erkenntnis der Übertragung23. Wenn man der inneren Übertragung nach außen einen entsprechenden Maßstab gibt, so heißt das Erkenntnis des Äußeren. Wenn das Äußere und das Innere in der Idee aufeinander eingestellt werden (so daß sie gesetzmäßig aufeinander wirken), so heißt das Erkenntnis der Geisteskraft. Wenn man die Geisteskraft sich auswirken läßt in milder Regierung, so heißt das Erkenntnis der Ordnung des Staates. Wenn man die Bedeutung der Ausführung ordnet und die Richtungen, in die die Ausführung sich gliedern muß, unterscheidet, so heißt das Erkenntnis der Amtsfunktionen. Wenn die Beamten die ihnen obliegenden Gebiete in Ordnung bringen, so heißt das Erkenntnis der Arbeiten. Wenn diese Arbeiten mit Vorsicht und ohne Stolz durchgeführt werden, so heißt das Erkenntnis der Vorbereitungen. Und wenn es infolge davon keine Schwierigkeiten gibt, so heißt das Freudigkeit. Die Bedeutung dieser Freudigkeit ist das letzte Ziel (des Herrschers).«

21

Nach der wahrscheinlichsten Erklärung ist Giang der Name eines Dieners, den der Herzog in seinem Gefolge hatte und den er wegschicken wollte, falls es sich um Geheimnisse handelte.

22

Das Zeichen Dschung = Gewissenhaftigkeit wird geschrieben mit den beiden Symbolen »Mitte« und darunter »Herz, Bewußtsein«. Indem man also den Gesamtinhalt des Individualbewußtseins in das Licht des Gedankens erhebt, entsteht die Erkenntnis des vom Individuum unabhängigen, kollektiven seelischen Zentrums, durch dessen Erkenntnis das Weitere sich stufenweise ermöglicht.

23

Schu (wie Bewußtsein), d.h., Übertragung dessen, was man selber wünscht, auf den anderen.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 121-123.
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