2. Die Güte (Jen) als Summum bonum

[184] Der Meister hat gesagt: »Der Gütige ist das Vorbild der Welt, der Gerechte ist die Regel für die Welt, der Dankbare ist der Gewinn für die Welt.«

Der Meister sprach1: »Wenn man Liebe mit Liebe vergilt, so wirkt das anfeuernd auf die Menschen; wenn man Haß mit Haß vergilt, so lassen die Menschen sich das zur Warnung dienen ... Wer Haß mit Liebe vergilt, der schafft seiner eigenen Güte einen breiten Wirkungskreis. Wer Liebe mit Haß vergilt, der ist ein Mensch, der für den Galgen reif ist.«

Der Meister sprach: »Ohne Hoffnung auf Lohn das Gute lieben und ohne Furcht vor Strafe das Nichtgute hassen, das tut auf Erden nur eine Art von Menschen. Darum stellt der Edle seine Anforderungen, den rechten Weg zu gehen, an sich selbst und gibt dadurch ein Muster für die Menschen.«

Der Meister sprach: »Von menschlicher Güte gibt es drei Arten. Die Gütigen fühlen sich wohl in der Güte; die Wissenden kennen den Vorteil der Güte (und handeln danach); die sich vor der Strafe fürchten, zwingen sich zur Güte. Sie alle tun gemeinsam die Werke, die der Güte entsprechen, aber ihre Gefühle sind verschieden dabei. Wer in seinen Werken mit der Güte übereinstimmt, dessen Güte kann man noch nicht erkennen. Erst wenn einer Fehler macht, die der Güte entsprechen, dann kann man wissen, daß er gütig ist. Die Güte[184] ist zur rechten Hand, der Weg ist zur linken. Die menschliche Güte ist Menschentum, der Weg ist Gerechtigkeit. Wer stark ist in Güte, aber schwach in Gerechtigkeit, der wird geliebt, aber nicht geehrt. Wer stark ist in der Gerechtigkeit, aber schwach in der Güte, der wird geehrt, aber nicht geliebt.

Es gibt drei Wege: den höchsten (welcher Güte und Gerechtigkeit vereint), den der Gerechtigkeit und den der (äußeren) Tatsachen. Der höchste Weg führt zur Königsherrschaft, der Weg der Gerechtigkeit zur Gewaltherrschaft, der Weg der Tatsachen dazu, daß man seine Stellung nicht verliert.«

1

Vgl. Lun Yü XIV, 36 (Diederichs Gelbe Reihe 22, S. 149) und Taoteking 49 (Diederichs Gelbe Reihe 19, S. 92).

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 184-185.
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