1. Die Sitte als Mittel zur Bildung

[210] Die Sitte ist ein Werkzeug (zur Bildung), deshalb ist sie so vollständig wie möglich. Durch ihre Vollständigkeit bringt sie die Geisteskräfte zu voller Entfaltung. Die Sitte löst von Irrwegen und verleiht eine gute Substanz. Wo sie angewandt wird, macht sie die Dinge recht; wo sie ausgeübt wird, geht alles gut. Für den Menschen ist sie das, was für die Bambusarten ihr Bast und für Fichten und Zypressen ihr Mark ist. Die beiden Pflanzenarten bilden die beiden großen Gegenstücke auf Erden, aber beide überdauern die vier Jahreszeiten, ohne ihre Zweige zu ändern oder ihre Blätter zu wechseln. Darum: Wenn der Edle die Sitte besitzt, so ist er nach außen in Harmonie und im Innern ohne Unzufriedenheit. Darum wenden sich alle Dinge seiner Gütigkeit zu, und Geister und Götter genießen seine Geisteskraft.

Die früheren Könige schufen die Sitten so, daß sie Wurzel und Linienführung haben. Gewissenhaftigkeit und Mitgefühl sind die Wurzeln der Sitte; die Richtung dessen, was sich ziemt, sind die Linienführungen der Sitte. Ohne Wurzel kann sie nicht bestehen, ohne Linienführung kann sie nicht wirken.

Die Sitte muß stimmen zu des Himmels Zeiten, sich richten nach den Gaben der Erde, folgen den Geistern und Göttern, eins sein mit dem Sinn der Menschen und alle Dinge in klare Richtungen bringen. Die Zeiten des Himmels beeinflussen die Entstehung der Dinge; die Richtungen der Erdkräfte wirken das ihnen Entsprechende; die Organe der Menschen haben ihre bestimmten Fähigkeiten, und die verschiedenen Dinge haben alle ihren besonderen Nutzen. Was daher der Himmel nicht erzeugt und die Erde nicht wachsen läßt, das braucht der Edle nicht für seine Sitten, und Geister und Götter verschmähen es. Wenn daher Bergbewohner bei ihren Sitten Fische und Schildkröten brauchen wollten und Bewohner von Sumpfniederungen Hirsche und Schweine, so würde der Edle denken, daß sie die Sitte nicht verstehen.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 210.
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