2. Die Sitte in Übereinstimmung mit den Umständen

[210] Meister Kung sprach: »Die Sitten muß man genau unterscheiden. Die Sitten sind nicht alle gleich, sie dürfen nicht zu prächtig (für den Anlaß) sein und nicht zu dürftig. Das bezeichnet man als ihre richtige Anpassung.«

Es gibt Sitten, bei denen die Fülle das Wertvolle ist: wenn nämlich der Sinn sich auf das Äußere richtet. Die Kraft (der Natur) entfaltet und entwickelt alle Wesen, in großen Richtungszügen sind die Dinge ausgebreitet. Sollte da nicht die Fülle (der Opfer) das Wertvolle sein? Darum liebt der Edle hier das Spenden. Es gibt Sitten, bei denen die Sparsamkeit das Wertvolle ist: wenn nämlich der Sinn sich auf das Innere richtet. Die Kraft der Natur erzeugt die Dinge auf eine so wunderbar geheimnisvolle Art, daß, wenn man alle Dinge auf Erden betrachtet, man nicht ihre Kraftwirkungen zu bezeichnen vermag. Sollte da nicht Sparsamkeit das Wertvolle sein? Darum ist der Edle sorgfältig in seinen geheimsten Regungen.

Die Heiligen des Altertums betrachteten das Innere als verehrungswert und das Äußere als heiter, die sparsame Anwendung der Form als ehrwürdig, die Fülle der Formen als schön. Darum haben die alten Könige die Sitten so geschaffen, daß man sie nicht vermehren darf und nicht verringern darf, daß sie gerade angemessen sind.

Wenn daher ein vornehmer Mann das große dreifache Opfer bringt, so ist das der Sitte entsprechend; wenn ein gewöhnlicher Mann aus dem Volk das große dreifache Opfer bringt, so ist das Übertriebenheit.

Guan Dschung (früherer Kanzler von Tsi) hatte Opfervasen mit durchbrochenen Schnitzereien und purpurne Hutschnüre; auf den Kapitellen seiner Säulen waren Berge geschnitzt und auf den Dachträgern Algen. Die Edlen hielten das für zu üppig.

Yen Ping Dschung (späterer Kanzler von Tsi) opferte seinen Vorfahren ein Schweinchen, das mit den Schultern kaum die Opferplatte bedeckte. Er ging in alten, verwaschenen Kleidern und einem alten, gewaschenen Hut zu den Staatsaudienzen. Die Edlen hielten das für schäbig.[211]

Darum muß der Edle bei Ausübung der Sitten sehr sorgfältig sein; denn sie sind die Fäden, an denen er die Masse hält. Wenn die Fäden verwirrt sind, kommt die Masse in Unordnung.

Meister Kung sprach: »Ich kämpfe, um zu siegen, ich opfre, um Segen zu empfangen.« Er hat den rechten Weg gefunden.

Ein Edler sprach: »Beim Opfer soll man nicht um persönliches Glück bitten; man soll die Opfer nicht vor der geschriebenen Zeit darbringen; man soll sich nicht daran freuen, sie möglichst groß zu veranstalten; man soll die Heilopfer (vor freudigen Ereignissen wie Männerweihe oder Ehe) nicht besonders gut machen wollen; man soll als Opfertier nicht ein besonders fettes wählen; man soll nicht denken, daß es bei den großen Spenden auf möglichst vielerlei ankomme.«

Meister Kung sprach: »Wie kann man von Tsang Wen Dschung behaupten, daß er sich auf die Sitten verstanden habe! Der Oberpriester Hia-Fu Fu Ki verwirrte die Reihenfolge der Opfer vor den fürstlichen Ahnentafeln, und er verhinderte ihn nicht daran. Er brachte ein großes Brandopfer auf einem Holzstoß dar vor dem Küchengott. Nun ist der Küchengott ein solcher, dem die alten Weiber opfern: Sie nehmen ein wenig Speise auf einem Teller und als Kelch eine Flasche.«

Die Sitten gleichen dem Körper. Wessen Körper nicht vollständig ist, den hält der Edle nicht für einen richtigen Menschen. Wenn man die Sitten nicht geziemend vollzieht, so ist es ebenso, wie wenn sie unvollständig wären. Unter den Sitten gibt es große und kleine, offenbare und geheimnisvolle. Die großen darf man nicht verringern, die kleinen darf man nicht vermehren; die offenbaren darf man nicht verhüllen, die geheimnisvollen darf man nicht vergrößern. Grundlegende Sitten gibt es dreihundert, Einzelsitten dreitausend; aber ihr Ziel ist dasselbe. Es ist noch nie jemand ins Zimmer eingetreten außer durch die Tür.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 210-212.
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