3. Die großen Opfer

[212] Ein Edler sprach: »Die Sitten, die den menschlichen Gefühlen am nächsten stehen, sind nicht immer die höchsten. So opfert man auf dem Anger Blut, beim großen Opfer rohes Fleisch,[212] beim Opfer mit drei Gängen gekochtes, und erst beim geringsten Opfer, dem mit einem Gang, opfert man Braten.

Darum verhält sich der Edle so, daß, ehe er sie vollführt, er seine Gefühle in die richtige Stimmung versetzt ...

So pflegen die Fürsten von Lu, ehe sie dem höchsten Gott opfern, erst die Bräuche in dem Lehrgebäude mit dem halbrunden Graben zu vollziehen (wo Hou Dsi, der Hirsewalter, der Urahn der Familie, verehrt wurde, der dem höchsten Gott auf dem Anger beigeordnet war). Die Fürsten von Dsin pflegen, ehe sie dem Gelben Fluß opfern, erst die Bräuche vor dem Bach Wu Tschï zu vollziehen. Die Fürsten von Tsi pflegen, ehe sie dem Großen Berg opfern, erst die Bräuche vor dem Beigeordneten des Berges Lin zu vollziehen. Das Opfertier bei den großen Opfern wird erst drei Monate gefüttert; der Fürst fastet erst sieben Tage und übernachtet dreimal (im Fastenraum). Das ist das höchste der Sorgfalt ...«

Ein Edler sprach: »Wer kein Maß in seinem Innern hat, der wird, wenn er die Vorgänge betrachtet, sie nicht verstehen. Wer die Vorgänge verstehen möchte, aber nicht von der Sitte ausgeht, der wird es nicht erlangen. Wer etwas tut, ohne sich auf die Sitte zu stützen, der findet keine Achtung. Wer etwas redet, ohne sich auf die Sitte zu stützen, der findet keinen Glauben. Darum heißt es: Die Sitte ist es, die alle Dinge vollendet.

Darum haben die Könige des Altertums die Sitten geschaffen, indem sie die Dinge und Vorgänge zugrunde legten und ihre (eigentliche) Bedeutung zur Darstellung brachten. So richtete man sich, wenn man etwas Großes unternahm, stets nach des Himmels Zeiten. Die frühere oder spätere Stunde richtete man nach Sonne und Mond. Wenn man sich an die Gottheiten in der Höhe wandte, so ging man stets von Hügeln und Bergen aus. Wenn man sich an die Gottheiten der Tiefe wandte, so ging man stets von Flüssen und Seen aus. Darum sandte der Himmel zur rechten Zeit den Segen des Regens. Indem der Edle das versteht, strengt er sich unermüdlich an.

Deshalb haben die alten Könige die Männer voll Geisteskraft geschätzt und die Männer, die im Besitz des Weges waren, geehrt; sie haben die Fähigen mit Aufgaben betraut[213] und die Würdigen erhoben. Sie haben die Scharen versammelt und einen Eid auf sie gelegt.

So haben sie durch den Himmel dem Himmel gedient, durch die Erde der Erde gedient. Sie benützten die berühmten Berge, um in des Himmels Mitte emporzusteigen. Sie benützten die segensvolle Erde, um Gott auf dem Anger zu opfern. Weil sie zur Mitte des Himmels emporstiegen, kam der Phönix herab, und Drachen und heilige Schildkröten nahten sich. Weil sie Gott auf dem Anger opferten, deshalb kamen Wind und Regen im rechten Maß und Kälte und Hitze zu ihrer Zeit. Darum steht der Heilige da mit dem Angesicht nach Süden, und alle Welt ist in Ordnung.

Des Himmels Wege geben die höchsten Unterweisungen. Der Heilige besitzt die höchsten Geisteskräfte. Beim Ahnenopfer stehen oben vor der Halle des Tempels bei den östlichen Stufen die Opfergefäße mit Ornamenten und bei den westlichen Stufen die Gefäße in Form von Opfertieren. Unten vor der Halle hängen die großen Trommeln im Westen und die antwortenden Trommeln im Osten. Der Herr steht auf den östlichen Stufen, seine Gemahlin ist im Zimmer der Westseite: Das große Licht entsteht im Osten, der Mond entsteht im Westen. Das ist der Unterschied des Prinzips des Lichten und des Schattigen (Yin und Yang) und der Platz von Gatte und Gattin. Der Herr schenkt im Westen die Tiergefäße voll, seine Gemahlin im Osten die Gefäße mit Ornamenten. Während so die Zeremonien sich oben kreuzweise bewegen, antwortet von unten auch kreuzweise die Musik. Das ist das Höchste der Harmonie.«[214]

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 212-215.
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