1. Die Bedeutung der Aufzeichnungen über die Sitte

[5] Das vorliegende Übersetzungswerk gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammelwerken ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten. Sie zeigt darin die Gestalt, in der sie ihre grundlegende Einwirkung auf das staatliche und kulturelle Leben Chinas auszuüben begonnen hat. Konfuzius lebte am Wendepunkt zweier Zeiten. Durch eifriges Studium hatte er sich die Kultur der alten Herrscher nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrem tiefen Sinn zu eigen gemacht. Diese Kultur war ein organisches Gebilde, geschaffen durch eine Reihe bedeutender Männer, die über die Jahrhunderte hinweg an diesem Bau weitergearbeitet hatten. Konfuzius hätte die Fähigkeit gehabt, in diese Reihe einzutreten und die Kultur zeitgemäß zu erneuern und weiterzuführen. Allein die Verhältnisse erlaubten es nicht. Das Zeitalter der Heiligen auf dem Thron war vorüber. Weltlich-politische Gesichtspunkte bestimmten die Machtpolitik des Tages, die an Stelle der sittlichen Organisation der Menschheit ein System von rivalisierenden Staaten gesetzt hatte. Innerhalb dieses Systems war Kung Dsï mit seiner Auffassung notwendig zum Mißerfolg verurteilt. Allein dieser äußere Mißerfolg wurde für ihn der Anstoß zum Neuen. Während die Organisation der Kultur bisher die Aufgabe der Könige und Fürsten und ihrer Berater gewesen war, die allein im Besitz der Schlüssel der Überlieferung waren, holte sie Kung Dsï gleichsam auf die Erde herab, indem er eine private Überlieferungsgemeinde schuf, in der nicht nur das objektive Aktenmaterial – die klassischen Schriften – tradiert wurde, sondern die er auch in ein lebendiges Verständnis der inneren Grundsätze der Menschheitsorganisation[5] einzuführen versuchte. Der »Edle«, der von jetzt ab das Ideal der chinesischen Gesellschaft wird, ist nicht mehr Geburtsadel, sondern Geistesadel. Konfuzius, der Nachkomme eines uralten Kaisergeschlechts, hat dieses Erbe seiner Klasse weitergegeben an die Klassen, die im Aufsteigen begriffen waren. Ein Edler konnte künftig jeder sein, der sich durch seine Gesinnung dieses Titels würdig machte. So wurde die prinzipiell klassenfreie chinesische Kultur begründet, die neben den Machthabern immer den Stand der Gebildeten kannte, die die öffentliche Meinung beeinflußten und schließlich immer gegen die brutale Macht gesiegt haben.

Nun ist es nicht leicht, ein solches Gebilde in weite Kreise zu überführen. Konfuzius hat darum nicht den Versuch gemacht, sich direkt ans Volk zu wenden, das in seiner Masse damals zu unentwickelt war, um irgendeine revolutionäre Bewegung tragen zu können. Sondern er versuchte mit seinen Grundsätzen in das herrschende System einzudringen, Staatsmänner heranzubilden, die fähig wären, einen Staat sachgemäß zu lenken, und dabei doch den Schwung der Überzeugung besaßen, der über eine bloß pragmatische Anpassung an die Tagesbedürfnisse hinausführte und der Politik eine große moralische Grundidee verlieh. Und in der Tat: die großen konstruktiven Staatsmänner der chinesischen Geschichte, die nicht für vorübergehende imperialistische Tendenzen, sondern für Ordnung auf lange Sicht gearbeitet haben, sind fast alle Erben der konfuzianischen Erziehung gewesen.

Aber neben den aktiven Staatsmännern, die zu ihrer Tätigkeit doch immer durch eine außerordentliche Geisteskraft befähigt sein müssen, galt es auch, Erzieher und Überlieferer heranzubilden. So machte Konfuzius denn aus seinen Schülern das, wozu jeder durch seine besondere Veranlagung befähigt war. Zweiundsiebzig nähere Schüler hat er im Lauf seines Lebens ausgebildet, an die sich noch etwa dreitausend in weiterem Abstand anschlossen.

Unter dieser Schar von Jüngern fanden sich nun viele, die fern vom öffentlichen Leben oder neben ihrer öffentlichen Tätigkeit die Überlieferung und Weiterbildung der Lehre des Meisters pflegten. So entstand die konfuzianische Lehrgemeinschaft,[6] die aber nicht als Religionsgemeinschaft nach Art des Christentums oder des Buddhismus bezeichnet werden kann, weil ihr der prinzipielle Gegensatz zu den »Heiden« fehlt, die nur durch »Bekehrung« in den Kreis der »Geretteten« aufgenommen werden können. Vielmehr ist der Konfuzianismus einem Wege zu vergleichen, den jeder gehen kann, wenn er will, und den jeder so weit geht, als seine Kräfte und Neigungen es zulassen. Das Ziel, das man auf diesem Wege erreicht, ist weder der Zugang in einen Himmel nach dem Tode noch die Erlangung des Nirwana nach dem Durchqueren des Meers des Wahns, sondern einfach die Erlangung des vollen Menschentums, der wirklichen Güte. Gewiß gibt es Menschen, die von Natur dazu prädestiniert sind und dieses Ziel mit selbstverständlicher Leichtigkeit erreichen, und wieder andere, die durch ein Leben voll Arbeit und ernster Selbstzucht das Ideal erst erringen müssen, während es auch solche gibt, die aus äußeren Gründen der Klugheit ihm nachstreben, weil es immer auf die lange Dauer das Vorteilhafteste und Sicherste ist, ein anständiger Mensch zu werden. Aber als Voraussetzung zur Erreichung des Wegs – das Ideal selbst ist wohl für keinen lebenden Menschen je ganz zu erreichen – genügt das ehrliche Streben. Wer immer strebend sich bemüht, der gehört, ob begabt oder unbegabt, ob Chinese oder Barbar, zu der Gemeinschaft der Edlen, zur Aristokratie der Menschheit. Sünde und schlechte Veranlagung sind Hindernisse auf diesem Weg, aber nicht unüberwindlich. Es bedarf zu ihrer Überwindung nicht einer komplizierten äußeren Apparatur – sei es eines ausgedachten Sühnopferdienstes, sei es eines noch mehr ausgedachten Versöhnungsmythos –, sondern einfach der energischen Anstrengung. Denn die Sünde kann überwunden werden durch ein kräftiges Beschließen auf Grund einer unbedingten Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber. Vielleicht geht es nicht beim ersten Versuch, aber der Edle macht so lange weiter, bis es ihm gelingt. Er schämt sich, auf halbem Wege stehenzubleiben. Daß dies möglich ist, hat innere und äußere Gründe. Es wurde zwar zum Streitpunkt in der konfuzianischen Schule, ob der Mensch von Natur gut, d.h. ein geeignetes Material der Kultur mit positiven Trieben zur Selbstveredlung sei,[7] oder ob er von Natur böse, d.h. gehemmt für die Erreichung des Ziels sei. In den beiden großen Nachfolgern des Meisters, Mong Ko und Sün Kuang, finden sich diese gegensätzlichen Anschauungen vertreten. Die Hauptsache bleibt aber, daß jeder den Weg zum Guten beschreiten kann, wenn er will. Und die Mittel zum Erfolg sind höchst einfach: ein klares, umfassendes Wissen um das, was recht ist (denn nicht ein dumpfer Drang, sondern eine klare Überzeugung ist es, die wirkliche Macht verleiht), und außerdem eine konsequente Übung des Gelernten. Dies sind die jedem zugänglichen Grundlagen der Selbsterziehung, durch die die magische Geisteskraft gewonnen wird, auf andere erziehend zu wirken. Denn diese Wirkung ist nicht etwas Äußerliches, sondern muß aus der Wesenstiefe des Überpersönlichen (Ming), das in jedem Menschen persönlich verkörpert ist (Sing), hervorkommen, um organisches Geschehen auf Erden zu bewirken. Diese Geisteskraft entfaltet sich als Liebe, Weisheit und Mut. Sie beruht auf der Basis der innerlichsten Gewissenhaftigkeit (Dschung) und dem Mitgefühl mit dem Nächsten (Schu). Indem es dem Edlen gelingt, sein Wesen mit seinen Trieben und Begierden nicht zu zerbrechen, sondern harmonisch zu formen (Dschung Ho), kommt er in den Besitz der weltumgestaltenden Macht; denn diese Macht des Himmels und der Erde (Natur) ist etwas, dessen Kern dem Menschen im Herzen ist, weshalb der große Mensch mit Himmel (geistiger Natur) und Erde (materieller Natur) die große Dreieinigkeit bildet.

Das Problem der Ethik ist also letzten Endes ein Problem der Erziehung. Der Selbsterzogene hat die Verantwortung und auch die Möglichkeit, andere zu erziehen. In drei Stufen vollzieht sich die Wirkung ins Breite: Familie, Staat, Menschheit. In der Familie sind die Einwirkungen am leichtesten; hier liegen die Wurzeln der menschlichen Gesellschaft: die sozialen Beziehungen von Mann und Frau, Vater und Sohn, älterem und jüngerem Bruder. Die Wirkung der blutmäßigen Zusammengehörigkeit, des unmittelbaren Zusammenseins ist hier die stärkste. Die Grundlage ist Liebe und Ehrfurcht. Der Staat ist die erweiterte Familie; die sozialen Beziehungen von Fürst und Diener und von Freund zu Freund[8] treten hier den Familienbeziehungen zur Seite. Es fehlt der unmittelbare Zusammenhang des Bluts; er wird ersetzt durch die Pflicht. So ist der Staat zwar das abstraktere, aber auch das übergreifende Gebilde. Es kommt vor, daß der Edle wie sein eigenes Leben so auch Weib und Kind dem Staat zum Opfer bringt, aber es entspricht nicht dem Ethos, daß einer etwa um eines glücklichen Familienlebens willen den Staat verriete. Die Menschheit bildet noch eine höhere Stufe. Hier kommen wir in die kosmischen Verhältnisse hinein. An der Spitze der Menschheit steht der Himmelssohn, der ebenso Herrscher wie Priester ist und dessen Aufgabe es ist, das Tun der Menschen mit dem Naturlauf in Einklang zu bringen: Indem er sein Ich zum Ich der Menschheit erweitert, ist er fähig, die Menschen zu ordnen. Er wird nicht viel äußerlich machen und nach außen hervortreten. In tiefer Versenkung angesichts der kosmischen Urgründe stellt er in seinem Innern fest, was die Weltenstunde geschlagen hat, was an Kulturschöpfungen zeitgemäß geworden ist. Und das führt er aus, indem er die richtigen Leute an den richtigen Platz stellt und seine Geisteskraft in ihnen walten läßt.

Es könnte scheinen, als sei dies Weltbild eine bloße Utopie. Gewiß ist es wie jedes Weltbild, das ein Ziel enthält, auch Utopie, in dem Sinn, daß es erst verwirklicht werden muß, nicht irgendwo fertig vom Himmel herunterfällt, aber es ist nicht Utopie im Sinn einer wirklichkeitsfernen Schwärmerei. Wohl wird gelegentlich das Ideal der »Großen Gemeinsamkeit« aufgestellt, das im Grunde eine ideale Anarchie ist, da das Gesetz Bestandteil der Natur der Menschen geworden ist, aber dieses Ideal trübt nicht den Blick für die Wirklichkeit und ihre Aufgaben. Gerade hier liegt ein Vorzug des Konfuzianismus, indem er sich von allen überstiegenen Fanatismen fernhält und die mittlere Linie, Maß und Mitte, als das Wünschenswerteste bezeichnet. Diese mittlere Linie ist nicht die breite Mittelmäßigkeit des Philistertums, sondern die Grenze zwischen Fehler und Übertretung. Sie geht aus von den einfachsten und alltäglichsten Aufgaben, aber sie führt hinauf in kosmische Höhen, da es auch den größten Weisen schwerfällt, ihr zu folgen. Doch, wie gesagt, diese mittlere Linie behält den Kontakt mit der Wirklichkeit. Und da erheben[9] sich nun die ganz klaren Aufgaben. Wie kann die Menschheit zur Ordnung erzogen werden? Wie können die Bindungen bewirkt werden, die nötig sind, daß das Zusammenleben der Menschen kein Chaos, sondern ein Organismus wird?

Verschiedene Wege zu diesem Ziel kennt die Geschichte. Der älteste Weg ist der naturhafte. Das Gruppenbewußtsein ist übergeordnet. Der einzelne wächst in die Gruppe hinein, deren unselbständiger Teil er wird, und lebt aus dem Gruppengeist heraus vielmehr als aus seinen eigenen Trieben. Hier ist das Problem noch latent. Es wird erst dann akut, wenn der »Sündenfall« des Individualismus einsetzt, wenn der einzelne sich mit seinen Ansprüchen der Gruppe gegenüberstellt, ohne daß er die Macht hätte, als Häuptling sozusagen Vertreter des Gruppenbewußtseins zu sein. Die Spukgestalten der Götter und Geister, die nach außen projizierten Phantasiegebilde des kollektiven Unbewußten, werden von Priestern und Herrschern mit der Autorität ausgestaltet, die auf das Gefühl der Menschen wirkt. Geheimnisvoll fürchterliche Bräuche führen dazu, diese Antriebe wirksam zu machen. Die Furcht vor der Rache der Götter, die Hoffnung auf Lohn sind es, die auf dieser Stufe die soziale Ordnung aufrechterhalten. In der Regel sind solche Religionen äußerst blutig, und Fememorde aller Art helfen nach, den Aberglauben zu stärken und ihm Dauer zu verleihen. Es finden sich in der chinesischen Geschichte auch Spuren dieser religiösen Epoche. Doch ist es gerade das Verdienst des Konfuzianismus, daß er sich dem Überwuchern der religiösen Motive energisch entgegengesetzt hat. Nicht in dem Sinn einer platten Aufklärung. Das dem religiösen Kult mit zugrunde liegende Gefühl der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der Umwelt wurde in vollem Maße anerkannt, und im Staatskult und Ahnendienst der Familien wurden feste Formen geschaffen, um diese Verehrung des Göttlichen zugleich in Verbindung mit sozialer Betätigung zu pflegen: Die Opfer waren immer zugleich Feste und Mahlzeiten, bei denen die gesellschaftlichen Abstufungen der Menschen ihren symbolischen Ausdruck fanden. Aber so sehr die religiös geweihte Kommunion geschätzt wurde: abgelöst von den sozialen Menschheitszusammenhängen[10] gab es keinen Kult der Götter. Die Götter konnten infolge der konfuzianischen Haltung nie die menschliche Seele überwuchern. Sie wurden nicht zu blind geglaubten Phantasie-Realitäten, die zu ihrer Verwirklichung den niederen Fanatismus der Massen anstachelten, wie das anderwärts in Religionen der Fall war. Sondern die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen blieb in der Atmosphäre einer kühlen Zurückhaltung. Man ehrte die Götter, aber machte sich nicht mit ihnen gemein. Die Existenz des Göttlichen wurde nicht bezweifelt. Es ist ein Irrtum, wenn das auf europäischer Seite immer wieder behauptet wird. Gerade in unserem Werk haben wir genügende Beweise für die religiöse Grundhaltung. Aber die Wirklichkeit der Götter wurde auch nicht mit der materiellen Wirklichkeit in abergläubischer Weise vermischt. Der Wirkungsbereich des Göttlichen ist die Seele des Menschen. Durch Fasten und Kontemplation kommt zwar der pietätvolle Sohn vor seinem Opfer dazu, daß er die sieht, denen er opfert, aber es ist keine plumpe Wirklichkeit, sondern das kühle Zwischenreich des Als-Ob, das ebensowenig leere Einbildung wie sinnliche Wahrnehmung ist. Auf alle Fälle wurde das religiöse Gefühl von einer überwuchernden Besitznahme des ganzen Gemüts abgehalten. Die Frömmigkeit wurde anerkannt als Mittel zur Herbeiführung eines harmonischen Seelenzustands. Aber die Harmonie der Seele sollte nicht ertränkt werden durch ein Überströmen dumpfen Gefühls.

Gewöhnlich pflegt, wenn im Lauf der Geschichte die religiösen Vorstellungen verblassen und ihren Einfluß auf die Menschen verlieren, die staatliche Macht den Versuch zu machen, zu neuen Bindungen zu führen. Jetzt ist es nicht mehr das »numen tremendum«, das zu fürchtende Unbekannte, das die Seele ängstigt und im Bann der Moral hält, sondern jetzt sind es die höchst realen Staatsgesetze mit ihren höchst realen Belohnungen und Strafen, die dem Menschen Furcht und Hoffnung erwecken und ihn dadurch auf die vom Herrscher gewünschte Bahn zwingen wollen. Auch diese Richtung fand im antiken China ihre Vertreter. Es sind die sogenannten Gesetzeslehrer (Fa Gia), die zum Teil mit dem Unterbau einer taoistischen Metaphysik den Gesetzen eine ebenso unerbittliche[11] Wirkung geben wollten, wie sie das von ihnen als Naturgesetz aufgefaßte Tao besitzt. Aber auch hiergegen wandte sich der Konfuzianismus. Denn wenn die religiöse Motivation zwar aus primitiven Bezirken der Seele aufquillt, aber immerhin innerlich ist, so ist die Motivation durch Furcht und Hoffnung im Hinblick auf Lohn und Strafe etwas rein Äußerliches. Die Wirkung wird die sein, wo nicht der Ernst der Überzeugung und das Vorbild der Herrschenden als geistige Macht dahintersteht, daß das Volk sich der Strafe entzieht durch listige Vermeidung strafbarer Tatbestände bzw. deren Verdeckung und Verschiebung und an die Stelle der Ordnung das Chaos tritt, das vielleicht noch eine Zeitlang latent bleibt, aber schließlich den Ruin der Gesellschaft herbeiführt.

Hier zeigt sich nun im Konfuzianismus ein neuer Weg. Die genannten Mittel zur Erzielung wirksamer gesellschaftlicher Bindungen gehen alle von einem fertigen Tatbestand aus, der belohnt oder bestraft wird, sei es von jenseitigen, sei es von diesseitigen Mächten. Dieser zum mindesten hypothetisch vorausgesetzte Zustand soll verhindert, oder falls er doch wirklich geworden ist, in Zukunft beseitigt werden durch die damit verknüpften Folgen. Die Folge soll also in der Form des Motivs zur Ursache von Handlungen werden. Die psychologische Schwierigkeit der Situation liegt auf der Hand. Demgegenüber ist das Ziel des Konfuzianismus, den asozialen und damit bösen Seelenzustand in den Menschen gar nicht erst erwachen zu lassen, auf die Keime des psychischen Geschehens zu achten, um alles, was sich regt – ehe es Wirklichkeit geworden ist – in solche Bahnen zu lenken, da es sozial wertvoll wird. Dabei ist Voraussetzung, daß der Mensch als Naturwesen anerkannt wird. Er braucht keine Seite seines Wesens auszurotten, keine natürlichen Triebe und Begierden zu unterdrücken, sondern er muß es sich nur gefallen lassen, daß die sozial notwendige Hierarchie der Werte in ihm Gestalt gewinne, daß Wertvolles entwickelt und Wertloses hintangesetzt wird. Die Hierarchie der Werte setzt sich in der Gesinnung ohne Schwierigkeit durch, wenn die seelische Grundhaltung die Ehrfurcht ist. Darum ist Kern und Grundlage des Konfuzianismus die Pflege der Ehrfurcht. Die[12] Ehrfurcht hat ihre naturgemäße Basis in der Familie, im Verhältnis der Kinder zu den Eltern. Hier wird nun alles getan, um die Familie so zu unterbauen, daß Ehrfurcht gedeihen kann. Das Verhältnis zu den Eltern wird seiner persönlichen Zufälligkeiten entkleidet, es gewinnt prinzipielle Bedeutung. Die Familie wird über die Gegenwart hinaufgeführt als eine die Zeit und ihren Generationswechsel überdauernde Kontinuität. Dies ist der Sinn des Ahnenkults. Das Alte ist ehrwürdig durch seine Dauer und die Folge seines Bestandes. In diesen Bestand reiht sich die Gegenwart willig als verbindendes Glied zur Zukunft ein. Aber von der Familie wird die Gesinnung der Ehrfurcht auf alles übertragen: auf das, was über uns, auf das, was uns gleich, und auf das, was unter uns ist. Was in der Familie der Ahnenkult, das ist in der Gesellschaft die Geschichte. Auch hier ist das Alte, der Weg der Heiligen und Kulturschöpfer, das Ehrfurchtgebietende. Darum hat der Konfuzianismus seine Lehren, auch soweit sie durchaus den Forderungen der eigenen Zeit entsprangen, mit der Autorität der alten Heiligen gedeckt. Er behauptete zu überliefern und nicht neu zu schaffen. Besonders war es eine Gestalt der Prähistorie, die er zum Ideal ausbildete: Schun, der Mann aus dem Volke, der trotz aller widrigen Verhältnisse an die Spitze des Weltreichs kam. Dieses Beispiel des Konfuzianismus war nicht vereinzelt. Auch andere Schulen suchten durch Projektion ihrer Ideale in die Vergangenheit Autorität für sich zu gewinnen. So hat der Taoismus sich auf Huang Di und noch ältere mythische Gestalten berufen, Mo Di auf den großen Yü, der sich im Dienst der Allgemeinheit verzehrte, gewisse agrarkommunistische Richtungen auf Schen Nung, den Göttlichen Landmann, u.a.m. Während so die älteste Geschichte (zu der als zweite wichtige Epoche dann die Anfangszeit des Hauses Dschou gerechnet werden muß) als Autorität in Anspruch genommen wird, wird die neuere Geschichte (Frühling- und Herbstannalen) einer kritischen Revision unterzogen, durch die die Begriffe richtiggestellt und die faktisch in Verfall geratene Hierarchie der Werte wieder zur Geltung gebracht werden sollte. Dies die Historie als Mittel zur Festigung der Autorität. Daneben gab es auch noch andere Mittel. Das[13] Äußere und das Innere hängen zusammen. Wie die Gedanken des Inneren ihren Weg nach außen suchen, so wirkt auch das äußere Benehmen, die Haltung, die Gewöhnung des Handelns, ja die Kleidung und Stellung auf das Innere ein. Indem hier durch eine systematische Pflege der Sitte das System der Werte zunächst äußerlich gestützt wurde, war der Einfluß auf die Gesinnung ohne Anstrengung zu erreichen. Denn was Gewohnheit geworden ist, was in Fleisch und Blut übergegangen ist, das wird leicht; Gegenströmungen sind durch die Sitte schon vor ihrem Entstehen gehemmt. Die Keime werden beeinflußt. Von hier aus ist die zentrale Stellung der Sitte als Erziehungsmittel im Konfuzianismus zu verstehen. Die Sitte unterscheidet sich vom Gesetz dadurch, daß, während das Gesetz durch Einschüchterung fordert, also höchstens widerwilligen Gehorsam erzwingt, die Sitte immer auf Gegenseitigkeit, auf Geben und Nehmen, auf einem Ausgleich der Ansprüche und Leistungen beruht, der freiwillig erfolgt, weil er vom anderen auch freiwillig geboten wird. So wird durch Betonung der Sitte in allen Lebenslagen ein Mittel geschaffen, die Menschen zu einer freiwilligen sozialen Bindung zu bringen. Die Sitte verlangt gesellschaftliche Abstufungen; denn nur, wenn es den Unterschied von hoch und niedrig gibt, kann der Niedrige vom Hohen geehrt werden. Diese Abstufungen sind sozusagen das kraftspendende Gefälle der gesellschaftlichen Hierarchie. Aber dieser Unterschied verfestigt sich nicht in einer Erstarrung der Stände. Kasten hat es in China nie gegeben. Vielmehr hat Verdienst und Begabung immer die Möglichkeit des Aufstiegs, durch den dann auch diejenigen Familienmitglieder gefördert werden, die unmittelbar nicht daran teilhaben. So ist die Pflege der Sitte das wichtigste Mittel zur Volkserziehung. Alle wichtigen Handlungen des Lebens werden mit genau festgesetzten sakralen Sitten umgeben: Geburt, Männerweihe, Eheschließung, Gautrinken, Schützenfeste, Hoffeste und Audienzen, Begräbnis, Ahnenkult, Opfer: alles hat seine Sitten, und durch die Befolgung der Sitten wird das Innere beeinflußt, daß es sich freiwillig der sozialen Bindung fügt. Aber auch das äußerliche Betragen bis auf die Kleider, die für die einzelnen Anlässe vorgeschrieben sind,[14] die Speisen, die man genießt, wird durch Sitten geregelt, und das Leben bekommt so einen sittlichen Halt. Alle Menschen mit höheren Tendenzen werden sich freiwillig diesen Regeln der Sitte anschließen. Und wo die Sitte herrscht, hat das Gesetz keine Macht. Gesetze und Strafen, auch Kriege und militärische Strafexpeditionen sind nur der äußere Zaun, der die Gesellschaft vor den Übergriffen der asozialen »unsittlichen« Elemente zu schützen hat. Sie beanspruchen keine selbständige Bedeutung.

Wenn so die Sitte von außen nach innen wirkt, so muß sie ergänzt werden durch ein Erziehungsmittel, das von innen nach außen wirkt. Das ist die Musik. Von hier aus ist die große Bedeutung zu verstehen, die der Musik im Konfuzianismus zukommt. Der Ausdruck Musik darf natürlich nicht im engen Sinn der Tonkunst genommen werden. Zu den Tönen der Instrumente gehörte der Text der Lieder, gehörten die sinnvoll rhythmischen Bewegungen der heiligen Tänze, gehörte die ganze Stimmung, die durch solche Darstellungen erzeugt wurde. Musik, die musische Seelenhaltung einer harmonischen Heiterkeit, die dem, was das Gefühl erschüttert, einen geordneten und adäquaten Ausdruck verleiht: das ist das zweite Erziehungsmittel des Konfuzianismus. Zur Musik in diesem Sinne gehört im einzelnen und öffentlichen Leben alles, was dem Gesetz der Schönheit durch die Gefühle und ihre Äußerungen Ausdruck gibt. Musik ist Kunst, wie Sitte Wissenschaft ist, beide nicht abstrakt getrennt, sondern als harmonische Verbindung von Logos und Eros.

Dies ist die Weltanschauung, die im Buch der Sitte niedergelegt ist. Mannigfaltige Brechungen zeigen die einzelnen Abschnitte. Sie geben bunte Abwechslung weit eher als dogmatische Geschlossenheit. Unter den Schülern des Konfuzius befanden sich solche, die die kleinen Sitten des Alltags mit besonderer Sorgfalt pflegten und durch Einzelarbeit zum Gesamterfolg strebten. Andere, wie die Schule des Dsong Schen, legten alles Gewicht auf die Kindesehrfurcht und machten sie sozusagen zum Maßstab aller Moral. Die Schule des Dsï Sï scheint von taoistisch-naturphilosophischen Gedanken berührt worden zu sein. Und Sün Kuang, der neben[15] Mong Ko der bedeutendste Vertreter des Konfuzianismus war, legte den Hauptnachdruck auf die Sitte als das umgestaltende Medium der Menschenbildung. Alle diese Richtungen finden in den übersetzten Abschnitten ihren Ausdruck, wenn auch der Geist des Sün Kuang als vorherrschend bezeichnet werden muß. Daneben finden sich Überlieferungen aus alter Zeit und Fortbildungen der Lehre bis in das erste vorchristliche Jahrhundert hinein. So ist das Buch eine wichtige Quelle für das, was sich von den Lehren des Meisters Kung realisiert hat. Und manches steht darin, was dauernd Menschheitsbedeutung beanspruchen darf.

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 5-16.
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