Vorwort.

Diese Uebersetzung soll den ganzen Rig-Veda umfassen, und zwar der erste Theil die aus einzelnen Familien entsprungenen Bücher 2-8, der zweite die übrigen Bücher 1. 9. 10. In jedem dieser beiden Theile sind diejenigen Verse und Lieder, welche sich als spät hinzugefügt erweisen oder einer metrischen Uebersetzung widerstreben, in einen Anhang verwiesen, und das, was nach Ausscheidung dieser Verse, welche hier höchstens ein Zehntel des Ganzen betragen, übrigbleibt, ist metrisch so übersetzt, dass die Silbenzahl jeder Verszeile genau mit der des Originals übereinstimmt, und das Mass jambisch oder trochäisch genommen ist, je nachdem das Original jambischen oder trochäischen Tonfall darbietet (vgl. S. 3.)

Alles, was eine Kenntniss des vedischen Textes voraussetzt, sei es kritischer oder exegetischer Art, ist in die am Schlusse jedes Theiles hinzugefügten Anmerkungen versetzt, und das übrige mit Ausschluss jenes Anhangs und dieser Anmerkungen so bearbeitet, dass es jedem wissenschaftlich Gebildeten zugänglich ist, sofern er nur bestrebt ist, sich ganz hineinzuversetzen in das religiöse und sittliche Denken und Handeln, das Dichten und Schaffen eines Volks und Zeitalters, welches die erste Geistesentwickelung unsers Stammes uns vor Augen stellt. Wer freilich dies Streben nicht hat, wer gewohnt ist, das allgemein Menschliche, das an sich Schöne, nur[5] da zu sehen und anzuerkennen, wo es in moderne Ausdrucksformen gekleidet ist, für den wird auch dies Buch verschlossen bleiben. Wer dagegen mit unbefangenem Geiste herangeht, der wird, besonders, wenn er nicht zu viel auf einmal liest, sondern, wie es bei jeder Sammlung lyrischer Gedichte nothwendig ist, sich dies und jenes herauswählt und in sich eingehen lässt, sich durch viele dieser Lieder, hier durch die kindliche Einfalt, dort durch die Frische oder Zartheit der Empfindung, dort durch die Kühnheit der Bilder, durch den Schwung der Phantasie mannichfach angezogen fühlen, und sich durch einzelne schwache oder überladene Gedichte, wie sie in einer von den verschiedensten Dichtern eines Volks herrührenden Liedersammlung sich nothwendig vorfinden müssen, nicht zurückschrecken lassen.

Ich habe mich bemüht, den Sinn und den Gesammteindruck des Originals überall so treu als möglich wiederzugeben. Dazu war die metrische Form und eine möglichst durchsichtige Sprache, welche für den, der sich in die Anschauungen jener Zeit zurückversetzt hat, auch ohne Commentar verständlich ist, durchaus nothwendig. Wenigstens musste dies, immer nur annäherungsweise erreichbare, Ziel streng im Auge behalten werden. Die Grundsätze, welche ich bei meiner Uebersetzung befolgt habe, sind daher im wesentlichen dieselben, die man bei jeder Uebersetzung dichterischer Erzeugnisse vor Augen haben muss, und welche ins besondere für die Uebersetzung des Veda von Roth in der »Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft« (Bd. 24) aufgestellt und von ihm selbst und seinen Schülern in den »Siebzig Liedern des Rig-Veda, übersetzt von K. Geldner und A. Kaegi mit Beiträgen von R. Roth«, sowie auch in ganz ähnlicher Weise von Max Müller, besonders in seinen den »Vorlesungen über Religionswissenschaft« (1876, S. 209-19) beigegebenen Uebersetzungen zur Ausführung gebracht sind. Der Unterschied, den man dennoch in der Art der Uebersetzung wahrnehmen wird, ist hauptsächlich in den verschiedenen[6] Zwecken begründet. Dort kam es besonders darauf an, denjenigen, welchen die Texte selbst nicht zugänglich waren, ein übersichtliches Bild vom Inhalt des Veda zu geben, und deshalb mussten solche Ausdrücke und Bilder des Originals, welche den vorausgesetzten Lesern zu fremdartig erscheinen und daher den poetischen Eindruck bei ihnen schwächen oder verwischen würden, vermieden werden. Hier hingegen konnte von dem Leser ein tieferes Eingehen in die Denk- und Anschauungsweise der vedischen Dichter gefordert werden, und es konnten und mussten daher jene dem vedischen Leben entnommenen und nur aus ihm verständlichen Bilder beibehalten werden, da sie gerade vorzüglich geeignet sind, in den ganzen Ideenkreis der Verfasser einzuführen. Dadurch wurde also unbeschadet des Gesammteindrucks eine wortgetreuere Uebersetzung möglich, und konnte daher zugleich das zweite ebenso wichtige Ziel im Auge behalten werden, dem Veda-Kenner diejenige Auffassung des Textes, wie sie mir nach reiflicher Erwägung als die richtige erschien, auch ohne grossen exegetischen Apparat klar darzulegen.

Die Anmerkungen stellen die Conjecturen fest, welche bei der Uebersetzung zu Grunde gelegt sind, und geben Auskunft über die Echtheit einzelner Verse oder Lieder, über Strophenbau und Zerfällung scheinbar zusammenhängender Hymnen in kleinere Lieder, über die vorhandenen Uebersetzungen, welche hier oder dort bei ganzen Liedern besonders benutzt sind, und über exegetische Schwierigkeiten, namentlich über solche, welche in meinem Rig-Veda-Wörterbuch, auf das ich sonst überall zurückgehe, entweder gar nicht aufgehellt, oder, wie ich jetzt glaube, in unrichtiger Weise gelöst sind. Und in diesem Sinne bildet meine Uebersetzung zugleich eine Ergänzung zu meinem Wörterbuch.

Der bisjetzt erschienene erste Theil der Uebersetzung von A. Ludwig ist, obgleich das Manuscript meiner Uebersetzung schon druckfertig vorlag, dennoch sorgfältig verglichen worden. Zwar ist die Ludwig'sche Uebersetzung in Form und Tendenz von der meinigen so verschieden,[7] wie zwei Uebersetzungen überhaupt nur sein können. Dennoch enthält sie, wie verschieden auch die Auffassung des Ganzen sein mag, im einzelnen vieles brauchbare und durfte daher nicht unberücksichtigt bleiben.

Wenn ich hier und auf dem Titel mich als den Urheber dieser Uebersetzung bezeichnet habe, so ist das doch nur mit einer gewissen Einschränkung zu verstehen. Herr Professor B. Delbrück hat sowol den ersten Entwurf meiner Uebersetzung, als auch die neue Ausarbeitung für den Druck, ja auch die Correcturbogen genau revidirt, und so häufig den Sinn sowol als die Form meiner Uebersetzung verbessert, dass ihm ein wesentlicher Antheil an diesem Werke zugeschrieben werden muss. Dazu kommt, dass seine Arbeit über den Gebrauch des vedischen Aorist, welche einen Theil seiner bald zu veröffentlichenden Tempuslehre bilden wird, und von der er mir das Manuscript mitgetheilt hat, auf die Auslegung, ja auch auf die Kritik des Textes ein neues, ganz unerwartetes Licht verbreitet.

Dass der vorliegenden Uebersetzung, ungeachtet aller darauf verwandten Mühe, dennoch viele Mängel anhaften werden, ist mir vollkommen bewusst; wir sind eben mit der Auslegung des Veda noch nicht am Ziele angelangt, und ich werde meine Arbeit hinlänglich belohnt finden, wenn nur anerkannt wird, dass auch durch diese Uebersetzung ein fernerer Schritt zu diesem Ziele hin gethan ist.

Der zweite Theil dieser Uebersetzung wird, wie ich hoffe, in Jahresfrist dem Drucke übergeben werden können.


Stettin, im April 1876.


H. Grassmann.[8]

Quelle:
Rig-Veda. 2 Teile, Leipzig 1876, [Nachdruck 1990], Teil 1, S. V5-IX9.
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