Reichsordnung und Regiment.

[27] Das chinesische Alterthum hatte für sin Gemeinwesen ein höheres Ideal, als den Staat, nehmlich das Reich, als die feste Zusammengliederung relativ selbständiger Staaten unter Einem Haupte. Es konnte dieß Ideal jedoch nur in der schränkten Gestalt zur Darstellung bringen, wie er Charakter, die Weltauffassung und die Geschichte des Volkes sie bedingten.

Im Verhältnisse zu seinem heutigen Umfange war das Reichsgebiet jener alten Zeit nur klein. Es übertraf wenig die Größe des jetzigen deutschen Reiches und breitete sich an beiden Ufern des Hoâng hô aus, im Osten den Meerbusen von Pĕ-tschĭ-lí und das gelbe Meer, im Westen den Bezirk von Kān-sŭ in der Provinz Schèn-sī berührend. Noch war es auf allen Seiten von uncultivirten, zum Theil kriegerischen Stämmen umgeben, die es durch Raub- und Eroberungszüge häufig zu gewaffneter Abwehr zwangen. Von ihnen unterschied sich das »schwarzhaarige Volk« mit eben so viel Selbstbewußtsein als Berechtigung durch seine uralte Bildung und eben so alte Reichsordnung.

Mehre Grundzüge schon des alten Chinesenthums zeigten uns das Gepräge allerältester menschlicher Zustände. So ist es auch mit der Verfassung und dem Regimente des Reiches, indem sich darin der ausgesprochenste, in ein System gebrachte[27] Patriarchalismus mit all' seinen Consequenzen vorfindet. Während die großen westasiatischen Reiche des Alterthums sämmtlich aus Krieg und Eroberung hervorgegangen sind und ihre Herrschergeschlechter den mächtigsten und glücklichsten Heerführern entstammten, weiß etwas Ähnliches von den Anfängen des chinesischen Reiches nicht einmal die Sage zu erzählen. Alles deutet darauf hin, daß Herrschaft und Ordnung sich hier auf friedliche Weise aus dem Ansehn der väterlichen Gewalt und der Weisheit des Alters entwickelt haben. Und dieses Gepräge behielt das Reich. Seit unvordenklicher Zeit Monokratie, erscheint es als ein einziger vielgegliederter Haushalt, dem der Höchstregierende mit allen Rechten väterlicher Gewalt, aber auch mit allen Pflichten eines Vaters vorstand. Beide übte er theils vermittelst einer zahlreichen Beamtenschaft aus, theils ließ er sie durch abhängige Lehnsfürsten ausüben, die dann ebenfalls ihre vielen Beamten hatten. Natürlich gehörten, wie die Fürsten, so auch alle Beamten dem Stande der schulmäßig Gebildeten an. Das »untere Volk«, hià mîn, war gleich Kindern, als unmundig, lediglich Gegenstand des Regierens und der Fursorge.

In unserm Zeitraume, dem der Tscheu-Dynastie, nannte sich der Beherrscher des Reiches »König«, wâng, und nur wenn seine höchste Machtwürde bezeichnet werden sollte, hieß er der »Himmelssohn«, Thiân tsè, um auszusagen, daß er des Himmels Gesetz und Willen vermittle und vertrete, indem er zu dem Himmel in demselben Verhältnisse stehe, wie das Reich zu ihm. Denn eingesetzt durch Bestimmung, Auftrag oder Beruf (ming) des Himmels, schuldete er diesem eben so unbedingten Gehorsam wie der Sohn dem Vater. Fragt man nun aber, wie er des Himmels Willen erfahre, so erhalt man die merkwürdige Antwort: der Himmel spricht seinen Willen aus durch das Gesammtbewußtsein des Volkes, in welchem der König ihn zu erkennen und zu befolgen hat. Solange er dieß thut, pflichtget eu für des Volkes Wol sorgt und an den Gesetzen,[28] Einrichtungen und Gebräuchen der alten »heiligen« Kaiser festhält, wird er vom Himmel beschützt und gesegnet. Versäumt er seine Pflichten, vernachlässigt er die Bräuche, versündigt er sich, so schickt der Himmel Unsegen und Landplagen, damit er sich bekehre und Buße thue. Aber der himmlische Beruf ist nicht unabänderlich. Wenn der König ihm nicht entspracht, wenn er vom Alterthum abfällt, ausschweifend und grausam wird, durch schlechtes Regiment das Volk elend macht, sodaß die Herzen der Menschen sich von ihm abwenden, dann ist dieß der Beweis, daß der Himmel seinen Beruf zurückzieht; der Aufstand wird berechtiget, die Dynastie wird gestürzt und eine andere, vom Himmel dazu vorersehene Dynastie empfängt den Beruf.

Aller Grund und Boden des Reiches wurde als Eigenthum des Königs angesehen, doch standen nur die anfangs sehr beträchtlichen Erblande seines Hauses unter seiner unmittelbaren Verwaltung. Der größte Theil des Reichsgebietes war abhängigen Fürsten zu Lehen ausgethan, deren Anzahl gegen Ausgang des zwölften Jahrhunderts v. Chr. auf 1773 angegeben wird. Sie waren nach der Größe ihrer Lande in fünf Rangordnungen abgestuft: Kūng, Heû, Pĕ, Ssè und Nân. Das Gebiet eines Kūng hatte etwa den Umfang des Königreichs Sachsen, während ein Nân nur fünf bis sechs Quadratmeilen besaß. Wir haben die chinesischen Titel immer durch »Fürst« wiedergegeben, da sie sich mit europäischen Fürsten- und Adelstiteln nicht decken. Indeß unterschieden sich ihre Rangstufen auf das strengste in allen Beziehungen, in dem Umfang ihrer Hauptstädte und Paläste, der Zahl ihrer Beamten, der Kleidung, der Opferbefugniß und allem Ceremoniel. Zutheilung und Erhöhung dieser Würden ging lediglich vom Könige aus, und war der Lehenbesitz auch erblich nach dem Rechte der Erstgeburt, so mußte doch bei jedem Erbfall die Investitur persönlich von dem Erben beim Könige eingeholt werden. Bei Stiftung neuer Lehen oder bei neuer Zutheilung erledigter wurden Verwandte[29] des königlichen Hauses, Nachkommen früherer Herrscherhäuser und verdienter Männer vornehmlich berücksichtiget.

Damit diese theilweise sehr mächtigen Vasallen sich ihrer Abhängigkeit von dem »Himmelssohne« und ihres Verhältnisses zum Reiche stets bewußt blieben und dieses öffentlich bezeugten, und damit das ganze Reichsgefüge in lebendigem Zusammenhange mit seinem Mittelpunkte erhalten werde mußten sämmtliche Fürsten sich periodisch am Königshofe in Person einfinden, wozu bestimmte Zeiten festgesetzt waren. Dann brachten und erhielten sie Geschenke, ihre Empfänge und Begrüßungen waren mit vielen ceremoniösen Feierlichkeiten und mit Festliedern, die sich im Schī-kīng finden, begleitet, es fanden Opfer und Festmahlzeiten auch Wettschießen mit Bogen statt. Dabei konnte sich der König von dem Geist. Benehmen und der Geschicklichkeit eines Jeden persönlich überzeugen, und durch belehrende, ermahnende und ermunternde Ansprachen auf Erhaltung einer gleichmäßigen Regierungsweise in den Ländern wirken. Versagte ein Fürst diese huldigenden Besuche, erwies er sich sonst ungehorsam oder als Landesherr pflichtwidrig, so wurde er zuvörderst ermahnt, dann schärfer verwarnt, und blieb auch dieß erfolglos, mit Waffengewalt zur Strafe gezogen und in schwereren Fällen durch seinen Nachfolger ersetzt. Wer sich durch edle Haltung, segensreiche Regierung oder besondre Verdienste um das Reich auszeichnete, wurde durch Gebietsvergrößerung und Rangerhöhung belohnt. In den Zwischenzeiten ihrer persönlichen Besuche mußten die Fürsten jährlich einmal einen hohen Würdenträger an den König senden, der ihre Theilnahme an dessen Ergehen und ihre Unterwürfigkeit bezeugte und etwaige Befehle oder Ermahnungen entgegennahm.

Die Reichsfürsten waren aber auch gehalten, gegenseitig einander feierlich und regelmäßig zu besuchen und zu besenden, um den Wetteifer in Erfüllung aller Pflichten und ein gutes Verhältniß unter ihnen lebendig zu erhalten. Sie sollten sich[30] eben alle als Brüder der einen großen Familie fühlen und einander fördern, berathen und zügeln.

Endlich machte auch der König selbst in bestimmten Perioden Besuchsreisen zu den Fürsten durch das ganze Reich, um unter Beistand hoher Beamten die Regierungsweise und den Zustand der Länder und ihrer Einwohner zu untersuchen, die Befolgung der Gesetze und Gebräuche einzuschärfen und die Landesherrn nach Befinden zu belohnen und zu bestrafen. Man sieht, es war Alles darauf berechnet, König und Reichsfürsten gleichsam in einem steten Familienzusammenhange zu erhalten und einander immer wieder persönlich nahe zu bringen, wobei dann Ceremoniell und Etikette das Bewußtsein der Unterordnung und Abstufung weislich wach erhielten, während die Beförderung einer guten, friedlichen und übereinstimmenden Regierung des Ganzen der letzte Zweck war.

Als die vorzüglichste Obliegenheit des Königs und aller Fürsten galt es, durch tadelloses Leben, würdige Haltung, getreue Pflichterfüllung und gewissenhafte Beobachtung der geheiligten Bräuche vor allem selbst ein gutes Beispiel aufzustellen. Nicht ohne Grund hielt man dafür, daß durch die stille Macht eines ehren- und liebenswerthen Vorbildes, zu dem alle Augen emporblickten, mehr und heilsamer gewirkt werde, als durch alle Gesetze und Verordnungen und deren strengste Handhabung.

Sodann war die gute Ernährung der Unterthanen eine Hauptpflicht. Städte waren noch nicht zahlreich und die große Überzahl des »unteren Volkes« betrieb den Landbau, dessen Erzeugnisse die Städtebewohner miternähren mußten, weßhalb der geregelte und fleißige Betrieb desselben von größter Wichtigkeit war. Nun aber hatten die ackerbauenden Unterthanen kein Grundeigenthum, alles Land war königlich oder im Besitz der Lehnfürsten. Es war deßhalb folgende spende Einrichtung troffen. In jedem Gebiete wurden neun Zehntheile alles zur Landwirthschaft geeigneten Landes den Unterthanen zur Bebauung[31] überwiesen und je nach der Größe der Familien und der Bonität des Landes unter sie verthellt und abgegränzt, wofür sie einen Zehnten vom Ertrage entrichteten. Ein Zehntheil des gesammten Landes mußten sie für den Landesherrn bestellen zum Unterhalt des Hofes und der Beamten. Über dieß waren sie zu gewissen Frohndiensten bei Bauten, Wege- und Wasseranlagen, Jagden u. dergl. so wie zur Kriegsfolge verpflichtet. Die ganze Ackerwirthschaft aber, auch die der Unterthanen auf den zugewiesenen Feldern, unterlag landesherrlicher Bestimmung und Aufsicht. Die Zubereitung des Landes, dessen Verwendung, die Art des zu bauenden Getraides, die Aussaat, das Jäten der Felder, das Ernten und Speichern, und was ein guter Landwirth nur anordnet, alles dieß wurde von dem Landesherrn vorgeschrieben und beaufsichtigt, in den älteren Zeiten persönlich, später und namentlich in den größeren Gebieten so wie in dem Königslande durch besondere Beamte. Die Überschüsse der Ernten wurden in Vorrathshäusern aufgespeichert, aus denen die Armen unterstützt wurden, in Nothjahren aber das ganze Volk seine Nahrung erhielt.

Wälder und Gewässer, Berg- und Salzwerke, die Jagd und die Zölle waren landesherrlich, und ihre Erträgnisse vermehrten die königlichen und fürstlichen Einkünfte.

Überall bestand eine genau abgestufte kommunale Gliederung mit besonderen Beamten für die engeren und weiteren Kreise, deren Eintheilung zugleich die Grundlage bildete für die Zusammensetzung der Heereskörper, wenn die waffenfähige Mannschaft zu Übungen oder zur Kriegsfolge eingerufen wurde. Über die Beschäftigungen der Männer wurden genaue Stammrollen geführt, und außerdem fanden regelmäßige Volkszählungen statt, ebenso statistische Ermittelungen über die Vorräthe an Lebensmitteln, über die Viehbestände, über Ein- und Ausfuhrhandel. Eigne Beamte sorgten für Eheschließungen und schlichtete Ehestreitigkeiten. Unter wolgeordneter Verwaltung[32] und polizeilicher Aufsicht standen Forst- und Jagdwesen, Flüsse und Teiche mit ihren Fischereien, Dammbauten und Kanäle, nicht minder Felder, Wege, Straßen und Herbergen. Sehr ausgebildet war die Markt- und Handelspolizei, auch das Paßwesen, und für die öffentliche Sicherheit, für Nachtwachen und vorsichtigen Gebrauch des Feuers sorgten besondere Beamte.

Die gesammte Rechtspflege war wesentlich unter den Gesichtspunkt des Strafrechts gebracht, indem privatrechtliche Streitigkeiten nur zur richterlichen Cognition kamen, wenn und sofern sie zu Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen geführt hatten. Es bestanden ordentlich besetzte Gerichtshöfe und ein geregeltes Verfahren. Die Strafen waren mannigfaltig abgestuft, aber im Ganzen sehr streng.

Von der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten war schon im vorigen Abschnitte die Rede.

Das Heerwesen war für Kriegsfälle vorsorglich geordnet. Waffen aller Art, Streitwagen, Feldzeichen und sonstiges Kriegsgeräth mußte in den Zeughäusern vorräthig und in gutem Stande sein. Viermal im Jahr, in Mitte jeder Jahreszeit, fanden Waffenübungen und Manoeuvres statt, welche dann mit den Jagden verbunden wurden.

Über alle diese Einrichtungen und Rechtsverhältnisse war die Gesetzbung ausschließlich beim Könige, während den Landesfürsten in ihren Gebieten die Pflicht der Ausführung und die vollziehende Gewalt zustand. Sie hatten dem Könige bestimmte Tribute in Landesproducten zu entrichten, Geschenke darzubringen und bei Kriegen Heerfolge zu leisten.

Natürlich erforderte ein so großer und ausgebildeter Reichsorganismus eine Menge höherer und niederer Beamten, nicht nur bei der Centralregierung und für die Königslande, auch in den vielen Fürstenthümern. Wir sahen, wie sie vorgebildet wurden; und sie bedurften deß um so mehr, als alle Verhandlungen schriftlich geführt wurden. Geschah auch ihre Beförderung nach sittlicher Haltung, Tüchtigkeit und Diensteifer, so[33] kam doch das Alter sofern in Betracht, als nur Vierzigjährige in den höheren Staatsdienst eintreten, nur Fünfzigjährige hohe Würdenträger – Tá fū – werden konnten. Siebzigjährige zogen sich in der Regel vom Dienste zurück. Kein Amt war erblich und mehrere Ämter durften nicht Einer Person übertragen werden. Zwischen Hof- und Staats-, Civil- und Kriegsbeamten wurde jedoch kein Unterschied gemacht.

Dem Könige zunächst standen drei höchste Räthe mit Fürstenrang, die sān Kūng, welche gewissermaßen seinen geheimen Rath ausmachten. Sodann bestanden sechs Ministerien, die etwa folgendermaßen zu bezeichnen wären: 1) das Ministerium des königlichen Hauses, unter dem der gesammte königliche Hof- und Haushalt stand; 2) das Ministerium des Innern, der Domainen und Regalien; 3) das Ministerium des Cultus und des Unterrichts; 4) das Ministerium des Kriegs- und Jagdwesens; 5) das Ministerium für Justiz und Polizei; 6) das Ministerium der öffentlichen Arbeiten. – Jedes dieser Ministerien bestand aus etwa sechzig Beamten höheren und niederen Ranges und fast doppelt so vielen Dienern. Außerdem befand sich ein noch größerer Theil Angestellter verschiedenen Grades in den einzelnen Distrikten des Königslandes. Die höchsten Stellen wurden in der älteren Zeit nicht selten an ausgezeichnete Reichsfürsten übertragen, welche oft nähere oder entferntere Verwandte des Königs waren. Die vielfach abgestuften Rangverhältnisse der Beamten wurden in wie außer dem Dienste genau beobachtet, und Dienst- wie Hofkleidung bezeichneten sofort die Stellung eines jeden.

Die Beamtenschaft der Lehnfürstenthümer war ähnlich gegliedert, nur daß ihre Anzahl in bestimmtem Verhältnisse zu der Größe der Länder stand und die höchsten Räthe der zweiten Rangstufe, den Khïng, angehörten. Bei den Fürsten der großen Länder, den Kūng und Heû ernannte der König die drei Khīng; bei den Pĕ, den Fürsten der mittleren Gebiete, ernannte er nur zwei von ihnen, und der Fürst selbst den[34] dritten. Die Fürsten der kleinen Länder, die Ssè und Nân, hatten nur zwei Khīng, die sie selbst ernannten. In sämmtlichen Fürstenthümern wurden alle übrigen Beamten von den Landesherrn ernannt.

Die Gesammtzahl der geprüften und angestellten Beamten im ganzen Reiche war weit über Hunderttausend, und jeder von ihnen hatte seinen reinlich abgegränzten Geschäftskreis. Die gesetzlichen Diensteinkünfte waren reichlich, die der großen Würdenträger fürstlich. Sie bestanden bei allen höheren Beamten in zugewiesenen Domanialgütern, ähnlich den Beneficien der alten Franken; bei den unteren in Naturalien. Die geringste Einnahme kam dem Ertrage von 100 Morgen Land gleich. –

War nun der an der Spitze dieses großen Organismus stehende König scheinbar durch nichts behindert in der willkürlichen Ausübung der ihm vom »Himmel« verliehenen höchsten Gewalt, so wirkte doch vieles zusammen, um diese auf ein wolthätiges Maaß zu beschränken. Die unter den Fürsten und Beamten herrschende allgemeine Bildung und das in ihr wirksame hohe Ansehn einer edlen moralisch politischen Überlieferung waren Mächte, die auch den Ausschreitungen eines »Himmelssohnes« hemmend in den Weg traten. Dabei war es anerkannte Pflicht der höheren Beamten, ihrem Könige oder Fürsten, ungeachtet ihres sonstigen promptesten Gehorsams, zu keiner Ungerechtigkeit zu dienen, eher ihren Dienst aufzugeben, und im Rathe das Rechte, Gute und Nützliche furchtlos zu vertreten. Auch fehlt es in der Geschichte nicht an Beispielen einer solchen Amtstreue.

Die größte Bürgschaft einer guten Regierung im allgemeinen aber war der das ganze chinesische Wesen durchdringende und beherrschende Geist des Patriarchalismus, wornach sich König, Fürst und Beamter anzusehen hatte als »Vater und Mutter« (fú mù) der Unterthanen. Dieß prägte sich schon darin aus, daß sogar der König Gesetze und Befehle nur in der[35] Gestalt von Belehrungen und Ermahnungen gab, außerdem aber auch zeitweise allgemeine Unterweisungen über Sittlichkeit, Landwirtschaft und Gewerbfleiß ausgehen ließ. In Vertretung des Königs oder der Fürsten hatten die Beamten solche Belehrungen an jedem ersten und fünfzehnten Tage des Monats dem versammelten Volke mündlich zu ertheilen. Kurz, Regieren sollte Belehren sein, und nur wo dieses nichts half, Züchtigung eintreten.

Ein solches Reichs- und Regierungssystem, durchaus mit Glauben, Sitte und Art des Volkes verwachsen, hatte gewiß viel Löbliches, wie es denn auch Zeiten gab, in denen es sich auf das segenvollste bewährte. Allein auch die besten Institutionen vermögen wenig gegen die Leidenschaften der Menschen, wenn der Geist, der sie geschaffen hat, erlahmt und verschwindet. Die Menge will geleitet sein, auch wo sie es nicht eingesteht; aber nicht immer sind die Männer da, welche durch die Macht ihrer Persönlichkeit das Edle, Gute und Rechte zur Herrschaft selbst über die Widerstrebenden zu bringen vermögen. Dann kommen Verfall und Zerrüttung, und zwar nicht bloß durch Zügellosigkeit und üblen Willen, sondern eben so sehr durch gutmüthige Thorheit und Schwäche.

Der altchinesische Reichsorganismus beruhte wesentlich aus der Macht des Königs, und diese auf der Größe des Königsgebiets. Als dieses aber durch Stiftung neuer Lehnfürstenthümer verkleinert, neue Fürstenthümer an den Gränzen errichtet, die Vergrößerung andrer zugestanden wurde, suchten sich die mächtigeren Vasallen immer unabhängiger zu machen. Sie huldigten allmählich nicht mehr, bekriegten sich unter einander, maßten sich Rechte an, die nur dem Könige zustanden, und die Centralregierung vermochte nichts dagegen. In unsern Liedern finden wir mehr als eins, das diesen Verfall und seine die Volkszustände zerrüttenden Folgen schildert und beklagt.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 27-36.
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