Klage über den Reichskanzler Jìn.1

[305] Steil blickt das Südgebirg in's Land

Mit hochgethürmter Felsenwand.

Auf dich, gewalt'ger Kanzler Jìn,

Ist alles Volkes Blick gewandt;

Sein banges Herz ist wie im Brand,

Und jedes Scherzgespräch verbannt.

Das Reich steht an des Abgrunds Rand;

Warum wird das nicht anerkannt?


Steil blickt das Südgebirg in's Land,

Und was es trägt, grünt reich am Licht.

Gewaltiger Reichskanzler Jìn,

Warum thust du nicht deine Pflicht?

Stets wächst des Himmel Strafgericht,

Aufruhr und Sterben häuft sich dicht;

Und was des Volkes Unmuth spricht,

Dich bessert's nicht und schmerzt dich nicht.


Zum Kanzler ist der Jìn bestellt,

Daß Tschēu er festigt in der Welt,

Daß er das Reich im Gleichgewicht

Und alles Land beisammen hält,

Daß er, dem Himmelssohn gesellt,

Des Volks Verirrung niederhält.

O unbarmherz'ger hoher Himmel,

Ist's Recht, daß er uns alle gar zerschellt?
[306]

Nichts, nichts wird von ihm selbst verricht't.

Drum traut das ganze Volk ihm nicht.

Nichts prüft er, will nach Keinem seh'n,

Um hohen Herrn nicht obzusteh'n

Rechtschaffne zwingt er, abzugeh'n,

Gefahr ist nicht bei Niedrigen;

Drum seine niedern Schwägerschaften

Auch nicht in hohen Ämtern steh'n.


Der hohe Himmel ist verkehrt,

Der solch Verderbniß uns beschert;

Der hohe Himmel ist nicht hold.

Der solch groß Unheil senden wollt'.

Wär' Zutritt Edleren gezollt,

Des Volkes Herz wol ruhen sollt';

Wenn Edlere zum Rechten säh'n,

Sollt' Haß und Ingrimm wol vergeh'n.


O unbarmherz'ger hoher Himmel,

Nichts hält ja die Verwirrung ein,

Mit jedem Mond bricht sie herein

Und will dem Volk nicht Ruh veileih'n.

Von Herzweh tauml' ich wie von Wein.

Wer soll des Reiches Ordner sein?

Greift der nicht selbst regierend ein,2

Hat's Volk zuletzt nur Noth und Pein. –


Vier Hengste hatt' ich vorgespannt,

Hochhalsige hatt' ich genommen.

Ich sah mir all' die Länder an,

Und nirgends war vor Drangsal durchzukommen.[307]

Jetzt wuchert eure Bosheit auf

Und eure Spieße seh' ich blinken;

Dann seid ihr friedlich, dann vergnügt,

Als gält's, einander zuzutrinken.


Der hohe Himmel ist verkehrt,

Und unserm König Ruh verwehrt.

Doch ändert Jener nicht sein Herz,

Und haßt den, der ihn Bess'rung lehrt.


Kiā-fù hat dieses Lied gemacht,

Zu rügen Königs Unbedacht; –3

Ob du doch wandeltest dein Herz

Und nähmst der Lande Wol in Acht.

1

Das Lied richtet sich ebenso auf König Jēu (780-770), den übelberathenen und wenig löblichen, als auf dessen übermächtig gewordenen Reichskanzler (Thái schī).

2

Der Vers ist unbestimmt genug, um auf Kanzler und König zu geh'n.

3

Hier nennt sich der Dichter freimüthig, indem er sich gegen den König offen erklärt.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 305-308.
Lizenz:

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