Amṛitabindu-Upanishad.

[649] Amṛita-bindu-Upanishad oder, wie sie schon bei Sâyaṇa (der ihren Vers 10 zu Taitt. Âr. 10,27 p. 849 zitiert) und anderweit (auch in Ça karânanda's Kommentar) heisst: Amṛita-nâda-Upanishad bedeutet: »Die Geheimlehre des (Anusvâra-)Punktes (bindu) oder des Nachhalls (nâda) des Wortes Om, welcher das Unsterbliche (Brahman) bedeutet« oder auch »welcher Unsterblichkeit verleiht«. Bei der Bestimmtheit, mit welcher v. 4 und 24 jedes Lautelement ausgeschlossen wird, ist der erstere Name der passendere, wie auch der besser beglaubigte. Der Namenwechsel liesse sich daraus erklären, dass durch ein Schreiber-Versehen der Name Brahmabindu ausfiel und durch Amṛitabindu ersetzt wurde, worauf man denn auch für unsere Upanishad einen neuen Namen wählen musste.

Der Inhalt besteht aus einer Einleitung, vier Teilen und einem Schlussverse.

Die Einleitung (v. 1-4) verwirft nicht nur alle Schriftgelehrsamkeit, sondern betrachtet auch die lautenden Elemente von Om als blosses Mittel zum Zweck. Nur das lautlose m (asvara makâra), welches durch den Anusvârapunkt (bindu) mit bezeichnet wird, ist zu meditieren.


I. v. 5-16. Von den acht Gliedern des Yogasystems nennt unsere Upanishad, ebenso wie Maitr. 6,18 (oben S. 343), nur fünf, wozu noch, wie dort, als sechstes tarka tritt:

1. pratyâhâra, Zurückziehung des Manas und der Indriya's von den Sinnendingen (erklärt v. 5, der passender hinter v. 6 stehen würde).

2. dhyânam, Nachsinnen, dessen Erklärung fehlt.

3. prâṇâyâma, Atem-Regulierung, bestehend in a) recaka, Leerung, b) pûraka, Füllung, c) kumbhaku, Einbehalt des Atems in der Brust.

4. dhâraṇâ, Fesselung des von den Sinnendingen abgewendeten Manas in dem Âtman, v. 15. 17. 31.

5. tarka, Reflexion, fehlt in den Yogasûtra's und wird v. 16 anders erklärt als zu Maitr. 6,18, p. 130,12.

6. samâdhi, Einkehrung in den Âtman, das Selbst, »welches man meditiert, obwohl man es schon besitzt« (yam labdhvâ api eva manyeta).

[650] II. v. 17-27. Regeln für das Verhalten des Yogin: Arten des Sitzens, des Meditierens über Om usw.; v. 27 würde besser zu Anfang, vor v. 17 stehen.

III. v. 28-31. Frucht des Yoga. Die fünf Moren, welche hier imaginiert werden, entsprechen den fünf Eigenschaften: Geruch, Geschmack, Gesicht, Gefühl, Gehör; die Erde besitzt alle fünf, das Wasser vier, das Feuer drei, die Luft zwei, der Äther eine. Durch Konzentrierung auf die halbe Mora macht man sich von ihnen allen los.

IV. v. 32-37. Der Prâṇa und seine fünf Verzweigungen, denen hier nicht nur ein bestimmter Sitz sondern auch (ähnlich wie Chând. 8,6,1 den Adern des Herzens) fünf verschiedene Farben zugeschrieben werden.

V. v. 38. Schlussverheissung. Unklar ist hier und v. 17. 26 der Terminus maṇḍalam; v. 17 ist dasselbe zu murmeln, v. 26 und 38 ein Durchgangspunkt der ausziehenden Seele, und zwar v. 38 vor, v. 26 nach ihrem Austritt aus dem Leibe; also, wie es scheint, hat maṇḍalam an den drei Stellen drei verschiedene Bedeutungen, was bei einem so kurzen Werke nicht ohne Bedenken ist.


Vers 1-4. Erhabenheit des Brahman über die Schriftgelehrsamkeit und über die hörbaren Teile des Wortes Om.


1. Der Weise, der die Lehrbücher

Las und studierte fort und fort,

Des Brahmanwissens teilhaftig,

Wirft sie von sich, als brennten sie.


2. Das Om besteigt er als Wagen,

Sein Wagenlenker Vishṇu ist,

Er sucht der Brahmanwelt Stätte,

Den Rudra zu gewinnen sich.


3. Doch der Wagen ist nur dienlich,

Solang man auf dem Fahrweg ist;

Wer zu des Fahrwegs Endpunkt kommt,

Lässt den Wagen und geht zu Fuss.


4. So lässt man auch die Wortzeichen,

Und nur mit dem lautlosen m

Von Om kommt man zum tonlosen,

Lautlosen, unsichtbaren Ort.


Vers 5-16. Die sechs Glieder des Yoga.


5. Die fünf Objekte der Sinne

Und das Manas, das regsame,[651]

Sind nur des Âtman Ausstrahlung,

Dies wissen, heisst Zurückziehung.


6. Zurückziehung und Nachsinnen,

Atemhemmung und Fesselung,

Reflexion und Einkehrung,

Die sechs Glieder des Yoga sind.


7. Wie durch Schmelzen der Bergerze

Die Schlacken werden ausgehrannt,

So durch des Atems Einhaltung

Verbrennt der Sinne Sündenschuld.


8. Durch Atemhemmung wird Sünde,

Durch Fesselung die Schuld verbrannt,

Vernichtet so die Schuld habend,

Gedenke man des Glänzenden.


9. [Beim Denken an] das Glänzende

Atmet man aus und wieder ein.

Drei Atemhemmungen gibt es,

Leerung, Füllung und Einbehalt.


10. Die Gâyatrî mit ihrem Haupt

Nebst Vyâhṛiti's und Praṇava

In einem Atem sprich dreimal,

Das nennt die Atemhemmung man.1


11. Wenn man, den Odem ausstossend,

Macht inhaltlosen, leeren Raum,

An dieser Leere sich haltend, –

Das ist, was man die Leerung nennt.


13. Den Mund als Lotosrohr spitzend,

Pflegt Wasser man zu schlürfen ja2;[652]

So auch soll man den Wind einziehn,

Das ist, was man die Füllung3 nennt.


12. Wenn man nicht aus- noch einatmet4,

Auch seine Glieder nicht bewegt,

Und so die Luft in sich festhält,

Das wird der Einbehalt genannt.


14. Schau an die Formen wie Blinde,

Wie Taube höre an den Schall,

Wie ein Stück Holz den Leib achte,

Dann heisst du ein Beruhigter.


15. Wer als Organ des Vorstellens

Das Manas in dem Selbst versenkt

Und so gefesselt sich selbst hält, –

Das wird als Fesselung gerühmt.


16. Nachdenken, das nicht zuwider

Der Lehre, heisst Reflexion;

Was man schon hat und doch durchdenkt5,

Ist der Einkehrung Gegenstand.


Vers 17-27. Regeln für den Yoga.


17. Auf einem ebnen Erdboden,

Der lieblich ist und fehlerfrei,[653]

Nehm' er sein Manas in Obhut

Und murmele ein Maṇḍalam6;


18. Den Lotossitz, den Kreuzformsitz,

Oder auch wohl den Glückessitz7

Als Yogasitz richtig schlingend,

Bleibt er nach Norden8 zu gewandt.


19. Ein Nasloch schliesst mit dem Finger,

Luft zieht ein durch das andre er,

Staut in sich auf das Kraftfeuer9

Und überdenkt den heil'gen Laut.


20. Om! diese Silbe ist Brahman,

Mit Om allein er atme aus,

Mit diesem Himmelslaut oftmals

Wäscht er der Seele Flecken ab.


21. Dann meditiere und sprech' er

In Reihen den erwähnten (v. 10) Spruch,

Oftmalig, mehr als oftmalig,

Kein Übermass ist hier zu viel.10


22. Von seitwärts, oben und unten

In sich zurückgesenkt den Blick,

Sitzt regungslos, fest der Weise,

Dann übt wirklich den Yoga er.


23. Taktmass [im Atmen], Hingebung11,

Fesselung12 und Vereinigung13,

Der Yoga auch, der zwölfmassig14,

Gilt als bestimmt dem Tempo nach
[654]

24. Geräuschlos, konsonantlos und vokallos,

Tonlos in Kehle, Gaumen, Lippen, Nase,

Auch ohne Schnarrlaut, beide Lippen unbewegt, –

Die heil'ge Silbe, die so lautlos lautet15,


26. Mit diesem Laut sieht den Weg er,

Den Weg, auf dem sein Prâṇa geht,

Darum soll man ihn stets üben,

Damit den rechten Weg man geht,


26. Durch Herzenspforte, Windpforte,

Die Pforte, die nach oben führt,

Und der Erlösung Pfortöffnung,

Die man als offne Scheibe16 kennt.


27. Vor Furcht, vor Zorn und vor Schlaffheit,

Vor zu viel Wachen, zu viel Schlaf,

Vor zu viel Nahrung, Nichtnährung

Soll der Yogin sich hüten stets.


Vers 28-31. Frucht des Yoga.


28. Wenn er auf diese Art allzeit

Den Yoga treibt der Ordnung nach,

Entspringt von selbst in ihm sicher

Das Wissen in drei Monaten.


29. Die Götter schaut er nach vieren,

Wird nach fünfen so stark wie sie,

Nach sechsen, wenn er will, sicher

Wird Absolutheit ihm zuteil.


30. Durch fünf Moren wird erdartig,

Durch viere wasserartig er,

Feuerartig durch drei Moren,

Durch zwei Moren dem Winde gleich,


31. Durch eine Mora raumartig;

Doch meditiert die halbe er,[655]

Dann wird er fertig mit Manas,

Denkt nur durch sich und nur in sich.


Vers 32-37. Der Prâṇa und seine Verzweigungen.


32.17 Dreissig Mannsfinger breit Raum ist,

Wo Prâṇa mit den Prâṇa's wohnt,

Der Hauch, so heisst er, weil dienend

Dem Hauch draussen als Tummelplatz.


33. Einhundertdreizehn mal tausend

Und einhundert und achtzig mal18

Erfolgt das Ein- und Ausatmen19

In dem Zeitraum von Tag und Nacht.20


34. Prâṇa zunächst weilt im Herzen,

Der Apâna im Darm als Ort,

Samâna da, wo der Nabel,

Udâna, wo die Kehle ist.


35. Der Vyâna endlich fortwährend

In allen Gliedern schaltend streicht.

Nun die Farben der fünf Prâṇa's,

Wie sie folgen der Reihe nach.


36. Der Prâṇa ist an Schein ähnlich

Einem rotfarbnen Edelstein,

Der Apâna erglänzt rötlich

Wie ein Marienkäferchen.


37. Der Samâna im Leib schimmert

Wie ein milchfarbner Bergkristall.[656]

Der Udâna ist blassgelblich,

Der Vyâna einer Flamme gleich


Vers 38. Schlusswort.


38. Bei wem, durch diesen Ring brechend,

Der Lebenshauch zum Haupte steigt,

Wo der auch immer mag sterben,

Er wird nimmer geboren mehr,

– er wird nimmer geboren mehr.


Fußnoten

1 = Vishṇusmṛiti 55,9. Ferner wird dieser Vers von Sâyaṇa zu Taitt. Âr. 10,27 (welcher Abschnitt die ganze hier vorgeschriebene Formel enthält) p. 849 zitiert, und zwar als amṛitanâdopanishadi vorkommend. Das »Haupt der Gâyatrî« ist der sie krönende (auf sie folgende) Spruch: om âpo jyotî raso 'mṛitam brahma (auch Maitr. 6,35. Prâṇâgnihotra-Up. 1, oben S. 359. 613), woran sich die Vyâhṛiti's (bhûr, bhuvaḥ, svar) und der Praṇava (om) schliessen sollen.


2 Nach dem Telugudruck und Ça karânanda: vaktreṇa utpalanâlena toyam âkarshayen naraḥ.


3 Nârâyaṇa's sowie Weber's Kodex haben umgekehrt in v. 13 kumbhaka (Einbehalt) und in v. 12 pûraka (Füllung). Weber's Vorschlag, beides zu vertauschen, wird bestätigt durch den Telugudruck und Ça karânanda's Text, die auch über den Grund der Konfusion Aufschluss geben, indem bei ihnen richtig zuerst v. 13, dann v. 12 steht. Ein Abschreiber stellte sie aus Versehen um, und ein folgender stellte die v. 9 geforderte Reihenfolge recaka, pûraka, kumbhaka dadurch her, dass er die beiden Termini in v. 13 und 12 einfach vertauschte, was dann dem Nârâyaṇa zu der treuherzigen Bemerkung Anlass gab, dass hier eine besondere Art von kumbhaka zu verstehen sei.


4 Die Bibl. Ind. liest: na ca ucchvaset, na anucchvaset, welches ein Beispiel des a privativum beim Verbum finitum (nañas ti â samâsaḥ) sein würde; Weber liest: na ucchvasen na anûcchvâsayet; aber anu + ud + çvas kommt nicht vor und kann noch weniger »einatmen« bedeuten. Das Richtige hat wohl der Telugudruck: na ucchvased na ca niçvâsair (scil. çvaset); oder man kann mit Ça karânanda und der Bombayer Ausgabe lesen: na ucchvasen, na ca niçvaset.


5 Nach Weber's Handschrift: yam labdhvâ api eva manyeta. Nârâyaṇa liest: yam labdhvâ api avamanyeta und erinnert an Bhag. G. 6,22; der Telugudruck (mit Ça karânanda): samam manyeta yal labdhvâ, vgl. das Bekannte: mama samadṛiço yântu divasâḥ Ind. Spr. 2. Aufl. No. 844.


6 Nach Nârâyaṇa einen auf die Sonnenscheibe bezüglichen Spruch, wie: yad etan maṇḍalam tapati. Anders Ça karânanda.


7 padmâsanam, svastikam, bhadrâsanam sind drei Modalitäten des Sitzens mit untergeschlagenen Beinen.


8 Vgl. Maitr. 6,30, S. 352, Z. 8.


9 D.h. wohl die Kraft (tejas), von der Maitr. 6,35. 37 (S. 358 fg. 361) die Rede ist.


10 Mit Weber's MS: na atimûrdham atikramaḥ (anders Nâr. Ça k. Weber).


11 yoga nach Nârâyaṇa = samâdhi.


12 dhâraṇâ Fesselung des Manas, vgl. v. 15.


13 Nach Anquetil der individuellen und höchsten Seele, nach Nârâyaṇa des Prâṇa und Apâna. Anders Ça karânanda.


14 Die zwölf Masse (morae) siehe Nâdabindu v. 8-11, oben S. 644.


15 Das Wortspiel zwischen akshara und ksharate (vgl. Talav. Up. Br. 1,24,1), meist unübertragbar, liess sich hier durch ein anderes ersetzen.


16 Nârâyaṇa denkt an die Sonnenscheibe (anders Ça karânanda).


17 Nach dem (korrigierten) Telugudrucke: triṅçad-vârddhâ guliḥ prâṇo yatra prâṇaiḥ pratishṭhitaḥ; esha prâṇa iti khyâto, vâhyaprâṇasya gocaraḥ.


18 Weber's Vermutung açîtiç ca çatam wird durch den Telugudruck und Ça karânanda bestätigt.


19 viniçvâso Telugudruck.


20 Die Zahl 113180 durch fünf dividiert (sofern alle fünf Prâṇa's dabei beteiligt sind) ergibt 22636 Atemzüge in 24 Stunden, oder 15,7 in der Minute, welches für Erwachsene im Durchschnitt richtig ist. Anderweit wird die Zahl der täglichen Atemzüge rund auf 21600 (Sarvadarçanasamgraha p. 175,4) oder auch 21000 (ad Maitr. p. 79,4) angegeben. Die Haṅsa-Upanishad (unten S. 675) bestimmt sie auf 21606.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 649-657.
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