Zweiter Teil,

genannt Vaitathyam, »die Unwahrheit«.

[583] 1. Alles, was wir im Traum sehen,

Ist unwahr, sagen Weise uns,

Weil alles dies nur inwendig,

Weil es in uns beschlossen liegt;


2. Auch weil die Zeit zu kurz wäre

Zum Besuch ferner Gegenden,

Und weil wir ja beim Aufwachen

Nicht sind in jenen Gegenden.


3. »Da sind nicht Wagen, nicht Strassen,«

Lehrt die Schrift (Bṛih. 4,3,10) und das Denken uns,

So ist des Träumens Unwahrheit

Erwiesen und auch offenbart.


4. Weil Vielheit hier nur inwendig,

Ist sie es auch im Wachen nur;

Hier wie dort ist nur Vorstellung,

In uns beschlossen, hier wie dort.1


5. Des Träumens Zustand und Wachens

Als derselbe den Weisen gilt,

Denn gleich ist beiden die Vielheit, –

Aus diesem wohlerwiesnen Grund.


6. Was nicht vorher und nicht nachher,

Ist auch nicht in der Zwischenzeit;

Obwohl es unwahr ist, wird es

Für nicht unwahr doch angesehn.
[583]

7. Des Wachens Tun ist zweckmässig,

Aber nicht, wenn wir träumen, mehr;

Drum, weil es anfängt und aufhört,

Kann auch es nur auf Trug beruhn.


8. Auch was am Traume neu, stammt nur

Aus dem Geist, und wenn Götter ihm

Erscheinen, schaut er sie so nur,

Wie er über sie ward belehrt.


9. Was er träumend im Geist bildet

Innerlich, das ist unreal,

Wiewohl sein Geist es griff draussen,

Als gesehn unwahr beides ist.


10. Was er wachend im Geist bildet

Innerlich, das ist unreal,

Wiewohl sein Geist es griff draussen,

Folgerecht unwahr beides ist.


11. Wenn nun beiderlei Vielheiten

Unwahr im Traum und Wachen sind,

Wer erkennt beide Vielheiten,

Wer stellt sie im Bewusstsein vor?


12. Durch Selbsttäuschung der Gott Âtman

Stellt sein Selbst durch sich selber vor,

Erkennend beide Vielheiten, –

Feststeht dieser Vedântasatz.


13. Umwandelnd stellt er als andres

Vor, was nur im Bewusstsein ist,

Als draussen und als notwendig

Stellt in sich es der Âtman vor.


14. Geist ist des Innern Zeitmesser,

Die Vielheit der des Äusseren,

Ihr Unterschied liegt nur hierin,

Als Vorstellung sind beide gleich.


15. Undeutlich ist die Welt drinnen

Deutlich die Welt, die draussen liegt;

Dem Sinnorgan nach verschieden,

Sind als Vorstellung beide gleich.
[584]

16. Die Seele stellt man vor erstlich,

Sodann der Dinge Sonderheit,

Der äusseren und der drinnen,

Wie man weiss, so erinnert man.


17. Wie ein Strick, nicht erkannt deutlich

Im Dunkeln, falsch wird vorgestellt

Als Schlange, als ein Strich Wassers,

So wird falsch vorgestellt das Selbst (âtman).


18. Wie, wenn der Strick erkannt deutlich,

Und die falsche Vorstellung weicht,

Er nur Strick bleibt unzweiheitlich,

So, wenn deutlich erkannt, das Selbst


19. Wenn er als Prâṇa's, als alle

Die vielen Dinge uns erscheint,

So ist das alles nur Blendwerk (mâyâ),

Mit dem der Gott sich selbst betrügt.


20. Prâṇa-Kennern ist er Prâṇa's (Vaiçeshika's),

Elemente dem, der sie kennt (Lokâyatika's),

Guṇa-Wissern ist er Guṇa's (Sâ khya's),

Tattva's ist er dem, der sie kennt (Çaiva's).


21. Viertelwissern ist er Viertel (Mâṇḍûkya-Up).,

Sinnlichkeitswissern Sinnlichkeit (Vâtsyâyana),

Den Weltraumwissern Welträume (Paurâṇika's),

Götter den Götterkundigen (Veda-Anhängern).


22. Den Vedawissern ist Veda's,

Den Opferwissern Opfer er,

Geniesser denen, die diesen,

Genussobjekt, die dies verstehn.


23. Subtil für solche, die dieses,

Grob für solche, die dies verstehn,

Gestaltet denen, die dieses,

Ungestaltet, die dies verstehn.


24. Zeit ist er für die Zeitwisser,

Für Raumkenner ist er der Raum,

Künste ist er für Kunstkenner,

Weltschichten dem, der diese kennt.
[585]

25. Für Manas-Kenner ist Manas,

Für Buddhi-Kenner Buddhi er,

Geist ist er für die Geistwisser,

Recht und Unrecht dem, der sie kennt.


26. Fünfundzwanzigfach für diese (Sâ khya's),

Jenen als sechsundzwanzigster (Pâtañjala's),

Einunddreissigfach für andre (Pâçupata's),

Unendlich gilt für viele er (vgl. Cûlikâ 14).


27. Welten ist er dem Weltkenner,

Lebensstadien, dem der sie kennt,

Drei-Genushaft den Sprachlehrern,

Andern nied'res und höheres (sc. Brahman).


28. Für Schöpfungswisser Weltschöpfung,

Für Vergangwisser Weltvergang,

Weltbestand für Bestandwisser, –

So ist alles er allerwärts.


29. Welches Sein man so andichtet

Dem Âtman, dafür hält er sich,

Das hegt er und, zu ihm werdend,

Gibt er ihm sich als Dämon hin.


30. Er selbst ist alle Seinsformen,

Von denen er verschieden scheint, –

Wer dies weiss, wird sich vorstellen

Ohne Scheu, wie es wirklich ist.


31. Wie Traum und Blendwerk man ansieht,

Wie eine Wüstenspiegelung,

So sieht an dieses Weltganze,

Wer des Vedânta kundig ist.


32. Kein Vergang ist und kein Werden,

Kein Gebundner, kein Wirkender,

Kein Erlösungsbedürftiger,

Kein Erlöster, der Wahrheit nach.


33. Als unreale Seinsformen

Und als Einer wird er gedacht,

Doch wer sie denkt, ist stets Einer,

Drum die Einheit den Sieg behält.
[586]

34. Nicht auf den Âtman stützt Vielheit

Und auch nie auf sich selber sich,

Nicht neben ihm und nicht durch ihn

Kann bestehn sie, das ist gewiss.


35. Furcht, Zorn und Neigung ablegend,

Schaut zweiheitlos und wandellos

Der Weltausbreitung Aufhören

Der Muni, der den Veda kennt.


36. Wer so erkannt der Welt Wesen,

Der halte an der Einheit treu;

Der Zweiheitlosigkeit sicher,

Geht er kalt an der Welt vorbei.


37. Von Preisen frei und Lobsingen,

Ja, auch ohne den Manenkult,

In allem, was da lebt, heimisch,

Lebt er so »wie es eben kommt« (Bṛih. 3,5).


38. Das Wesen in sich selbst sehend,

Das Wesen in der Aussenwelt,

Zu ihm werdend, in ihm ruhend,

Hält er treu an dem Wesen fest.


Fußnoten

1 Lies: samvṛitatve na bhidyate.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 583-587.
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