15.

[40] Neben dem Seelenwanderungsglauben, der die Wohlfahrt im Jenseits und im abermaligen Erdenleben von dem rituellen und moralischen Verhalten des einzelnen Menschen abhängig machte, bestand auch der Manenkultus noch weiter fort, welchem die Vorstellung zugrunde liegt, dass die Werke der Nachkommen den im Jenseits weilenden Vorfahren zugute kommen. Daher erscheint die Zeugung eines Sohnes als eine Schuld (ṛiṇam), die man an die Väter abträgt; daher auch der sterbende Vater den Sohn feierlich als Fortsetzer seiner Werke einsetzt, worauf sich, ähnlich wie Bṛih. Up. 1, 5, 17-20, auch der vorliegende Abschnitt bezieht.


Nunmehr daher die Vater-Sohn-Zeremonie, oder, wie sie auch heisst, die Vermachung (sampradân am).

Wenn der Vater fühlt, dass er sterben wird, so bescheidet er den Sohn zu sich, und nachdem er das Haus mit frischem Grase hat streuen, das Feuer bei sich anlegen und Wasserkrug nebst Schüssel hinzu setzen lassen, so liegt mit einem noch nicht gewaschenen Gewande angetan der Vater da. Der Sohn tritt hinzu und neigt sich vom Kopfende her über ihn, indem er seine Sinnesorgane mit denen des Vaters in Berührung bringt, – oder auch kann dieser ihm, indem er ihm zugewandt sitzt, das Vermächtnis machen. Dieses übergibt er ihm dann in folgender Weise.

Der Vater spricht: »Meine Rede möge ich in dich legen.«

Der Sohn spricht: »Deine Rede nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Meinen Odem möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Deinen Odem nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Mein Auge möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Dein Auge nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Mein Ohr möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Dein Ohr nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Meinen Geschmack möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Deinen Geschmack nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Meine Werke möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Deine Werke nehme ich in mich auf.«[40]

Der Vater: »Meine Lust und Unlust möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Deine Lust und Unlust nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Meine Geschlechtslust, Liebeslust, Zeugungskraft möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Deine Geschlechtslust, Liebeslust, Zeugungskraft nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Meinen Gang möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Deinen Gang nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Mein Manas möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Dein Manas nehme ich in mich auf.«

Der Vater: »Mein Bewusstsein möge ich in dich legen.«

Der Sohn: »Dein Bewusstsein nehme ich in mich auf.«

Sollte jedoch der Vater nur noch mit Mühe (wörtlich: aus der Nähe) sprechen können, so mag er zusammenfassend sagen: »Meine Lebenskräfte (prâṇân) möge ich in dich legen«, und der Sohn soll antworten: »Deine Lebenskräfte nehme ich in mich auf.«

Dann geht er, den Vater rechts behaltend, auf den Ausgang zu, und der Vater ruft ihm die Worte nach: »Möge Glanz, Brahmanenwürde und Ruhm dir einwohnen!« worauf der Sohn über die linke Schulter nach ihm zurückblickt und, indem er durch Vorhalten der Hand oder mit dem Ende des Gewandes [sein Gesicht] bedeckt hält, die Worte spricht: »Mögest du himmlische Welten und Freuden erlangen!«

Sollte der Vater wieder gesund werden, so muss er unter der Herrschaft des Sohnes wohnen, oder auch er mag als Pilger (parivrâjaka) umherziehen. Stirbt er hingegen, so nehmen in der erwähnten Weise [die Lebenskräfte des Vaters] von dem Sohne Besitz, so wie es sich gehört, – so wie es sich gehört.

Fußnoten

1 Der Mensch vor und nach Erlangung der Erkenntnis entspricht dem Bettler, der zuerst nicht durch Bitten erlangen konnte, was ihm, nachdem er resigniert hat, ungebeten zuteil wird.


2 Unter den Anrufungen, die der Hotar und seine Gehilfen zu rezitieren haben. Cowell und M. Müller übersetzen nach Ça karânanda: »unter den Waffen« (!).


3 susîmam hṛidayam, wahrscheinlich ist hier und anderweit susîme »schönscheitlige« als Anrede an die Gattin zu lesen (vgl. Âçval. gṛihyas. 1, 13, 7).


4 Der Beter schaut nach Westen und wendet sich sodann rechts herum, wie die Sonne in der Nacht, nach Osten, der Himmelsgegend des Indra, hin. Die in der Nacht von Westen nach Osten zurückkehrende Sonne scheint hier ein Symbol des in den Nachkommen sich wieder erneuenden Lebens des Vaters zu sein.


5 Dem Monde, wie § 9, oben S. 35.


6 Besser mit dem Komm. »in den Wind«, in welchem auch Ait. Br. 8, 28 der Übergang der Erscheinungen ineinander sein Ende erreicht.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 40-41.
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