Çvetâçvatara-Upanishad.

Erster Adhyâya.

[291] Vers 1-2. Grundfrage der Philosophie und verschiedene Antworten auf dieselbe.


Om! Die Brahmanlehrer sagen:


1. Was ist Urgrund, was Brahman?1 Woher sind wir?

Wodurch bestehn, und worin sind gegründet wir?

Von wem regiert, bewegen wir, ihr Weisen,

Uns in der Lust und Unlust Wechselständen?


2. Sind Zeit, Natur, Notwendigkeit, der Zufall,

Grundstoffe, Geist, ist die Verbindung dieser[291]

Als Urgrund denkbar? Doch nicht! – Denn ein Selbst ist!

Doch auch das Selbst schafft frei nicht Lust und Unlust!2


Vers 3-6. Schilderung der individuellen Seele.


3. Nachdenken und Hingebung (yoga) übend, sah'n sie

Gottes Selbstkraft, verhüllt in eignen Guṇa's3;

Er ist's, der allen den genannten Gründen,

Nebst Zeit und Seele, vorsteht als der Eine.


4. Den einen Radkranz4, dreifach5, sechzehnendig6,

Mit fünfzig Speichen7, zwanzig Gegenspeichen8,

Sechs Achtheiten9, die eine Schnur des Weltalls10,

Dreipfadig11, zweibedingten12, einen Wahnes13,


5. Den Fünfstrom14, der fünfquellig15 schwillt, sich windet,

Mit fünf Hauchwellen16, mit der fünf Sinne Urwurzel17,[292]

Mit Strudeln fünf18, fünf Schmerz-Sturmwogen19, fünfzig

Flussarmen20 und fünf Schnellen21, – den verstehn wir.


6. In diesem grossen Brahmanrad22, das alles

Beseelt, umschliesst, – ein Schwan23 schweift, doch nur weil er

Gesondert wähnt sich und des Rades Treiber; –

Von ihm begnadigt, wird er dann unsterblich.


Vers 7-12. Schilderung der höchsten Seele im Unterschied von der individuellen.


7. Doch Lieder singen, dass im höchsten Brahman

Als ew'gem Grund enthalten jene Dreiheit.24

Wer in ihr als den Kern (Taitt. 2) das Brahman findet,

Aufgeht in ihm als Ziel, wird von Geburt frei.


8. Was wechselt und was bleibt, was offenbar und

Nichtoffenbar, – Gott hegt es alles in sich;

Wer Gott nicht kennt, bleibt als Geniesser25 gebunden,

Wer ihn erkannt, wird frei von allen Banden.


9. Zwei, Wisser, Nichtwisser, – Gott, Nichtgott, – sind ewig:

Der eine bleibt, objektverstrickt, Geniesser,

Der andre, endlos, allseiend sitzt müssig,

Wenn er erkannt als Brahman hat jene Dreiheit!26


10. Pradhânam fliesst; nicht fliesst, unsterblich, Hara,

Als Gott beherrschend Fliessendes und Seele;

Ihn denkend, ihm ergeben, zu ihm werdend

Allmählich, wird zuletzt man frei von Mâyâ.


11. Wer Gott erkennt, wird frei von allen Banden,

Die Plagen schwinden, samt Geburt und Sterben;[293]

Wer ihn verehrt [nur], wird drittens27 nach dem Tode

Gottherrlich, [dann] absolut und wunschvollendet.


12. Als ewig im Âtman ruhend wisset jene [Dreiheit],

Dann bleibt nichts Höheres mehr zu wissen übrig;

Genussobjekt, Geniesser und Erreger,

Dies Dreifache heisst insgesamt das Brahman.


Vers 13-16. Mittel der Erkenntnis: Meditation des heiligen Lautes Om, Selbsterkenntnis und Selbstzucht.


13. Wie Feuer, eingekehrt in seine Heimstatt,

Unsichtbar fortbesteht nach seinem Wesen,

Und aus der Reibholzheimstatt neu aufleuchtet,

So flammt's, in beidem gleich28, im Leib durch Om auf.


14. Den Leib machend zum Reibholze,

Und den Om-Laut zum obern Holz,

Schaut man, nach fleiss'ger Denkquirlung,

Verstecktem Feuer gleich, den Gott.


15. Wie im Ölsamen Öl, in Milch die Butter,

In Strömen Wasser, im Reibholze Feuer,

So findet im eignen Selbste jenen [Âtman],

Wer ihn erschaut durch Wahrheit und Kasteiung,


16. Den alldurchdringenden Âtman,

Wie Butter in der Milch versteckt,

In Selbstkenntnis, Selbst-Zucht wurzelnd,

Das Endziel der Upanishad,

– das Endziel der Upanishad.


Fußnoten

1 »Brahman« ist hier allgemeiner Name für »Prinzip«, wie Kaush. 4,1. Bṛih. 2,1,1. Chând. 5,11,1. Bṛih. 4,1,2 fg.


2 Alle aufgezählten Prinzipien können nicht für sich allein, sondern nur als Bestimmungen an einem Selbste (âtman) gedacht werden, welches daher unter allen Umständen der Urgrund ist. Aber das empirische Selbst kann dieser Urgrund nicht sein, da es nicht Herr ist, Lust und Schmerz zu schaffen, sondern ihnen unterworfen ist.


3 Die individuelle Seele besteht nicht aus dem Purusha und der von ihm unabhängigen Prakṛiti (Çakti) nebst deren Guṇa's (Sattvam, Rajas, Tamas), sondern es ist Gottes eigene Kraft (âtma-çakti), welche, in ihre eigenen Qualitäten (sva-guṇaiḥ) verhüllt, als Seele erscheint. – Schärfer kann der Gegensatz gegen die Sâ khyalehre wohl nicht ausgesprochen werden.


4 Das Bild von dem einen Radkranze (oder auch der einen Radnabe) mit den vielen Speichen (Kaush. 3,8. Bṛih. 2,5,15. Chând. 7,15,1. Muṇḍ. 2,2,6. Praçna 2,6. 6,6) wird hier, mit Anlehnung an Sâ khyavorstellungen, näher ausgeführt.


5 Aus den drei Guṇa's (Sattvam, Rajas, Tamas) bestehend.


6 Auslaufend in Manas, fünf Erkenntnissinne, fünf Tatsinne, fünf Elemente.


7 Die fünfzig Affekte (bhâva) der Sâ khyaphilosophie (Sâ khya-K. 46).


8 Die zehn Sinne und ihre Objekte.


9 1) Fünf Elemente, Manas, Aha kâra, Buddhi, 2) acht Bestandteile des Leibes, 3) acht Vollkommenheiten, 4) acht Grundaffekte (Sâ khya-K. 44-45), 5) acht Götter, 6) acht Tugenden.


10 Vgl. das sûtram Bṛih. 3,7.


11 Pitṛiyâna, Devayâna, Erlösung.


12 Durch gute und böse Werke.


13 Der Wahn des Ichbewusstseins.


14 Die fünf Erkenntnissinne.


15 Die fünf Elemente.


16 Die fünf Tatsinne (oder vielleicht die fünf Prâṇa's).


17 Das Manas.


18 Die fünf Objekte der Sinne (Ton, Farbe usw.).


19 Aufenthalt im Mutterleib, Geburt, Alter, Krankheit, Tod.


20 Wohl wieder die fünfzig Affekte.


21 Die fünf Anfechtungen (kleçâḥ) des Yoga: Nichtwissen, Egoismus, Liebe, Hass, Leidenschaft.


22 Dem Samsâra. Maitr. 2,6 wird an ein Töpferrad gedacht.


23 Die individuelle Seele.


24 Die Dreiheit von Geniesser, Genussobjekt und Antreiber (Seele, Welt und Gott).


25 bhoktṛi-bhâvât; derselbe Ausdruck Sâ khyakârikâ 17.


26 Die Dreiheit von Geniesser, Genussobjekt und Antreiber (Seele, Welt und Gott).


27 Das Erste ist die Seelenwanderung auf dem Pitṛiyâna, das Zweite die Erlösung, das Dritte die Stufenerlösung (kramamukti) des Devayâna.


28 Das Brahman, in beidem, dem Latentfortbestehen und dem Neuaufleuchten, dem Feuer vergleichbar, kommt durch den Praṇava, den heiligen Laut Om, im Leibe zum Aufflammen.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 291-294.
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