Vierte Vallî.

[278] Vers 1-2. Die Innenerkenntnis der Einheit und die Aussenerkenntnis der Vielheit.
[278]

1. Auswärts die Höhlungen der Schöpfer bohrte:

Darum sieht man nach aussen, nicht im Innern.

Ein Weiser wohl inwendig sah den Âtman (die Seele),

In sich gesenkt den Blick, das Ew'ge suchend.


2. Den Lüsten draussen laufen nach die Toren

Und gehn ins Netz des ausgespannten1 Todes;

Doch Weise, wissend was unsterblich, werden

Im Wechsel hier das Bleibende nicht suchen.


Vers 3-5. Der Âtman als das Subjekt des Erkennens ist der alleinige Träger aller Realität, sowohl der im Wachen wie im Traume. Alles übrige ist bloss Objekt (»Honig«, vgl. Bṛih. 2,5) für ihn und ohne ihn nichts (kim atra pariçishyate, 4,3 und 5,4).


3. Durch den man sieht, schmeckt, riecht, hört und

Berührung gegenseitig fühlt,

Durch ihn allein erkennt einer, –

Was fragt ihr nach dem übrigen!


Wahrlich, dieses ist das!


4. Durch den man überschaut beide,

Des Traumes und des Wachens Stand,

Den Âtman, gross, alldurchdringend,

Kennt der Weise und grämt sich nicht.


5. Wer ihn, dem alles ist Honig,

Als Selbst, als Seele nah sich weiss,

Herrn des Vergangnen und Künft'gen,

Der ängstigt sich vor keinem mehr.


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 6-7. Wer den Purusha (Vers 6) und wer die Prakṛiti (Vers 7), die Trägerin der ganzen objektiven Welt, in ihrem Wesen erkennt, – »der ängstigt sich vor keinem mehr«, wie aus Vers 5 zu beiden Versen zu ergänzen ist. Beide aber, Purusha wie Prakṛiti, sind (im Gegensatze zur Sâ khyalehre) nur Âtman (»wahrlich, dieses ist das!«).


6. Wer ihn, der da war vor Tapas, –

Vor den Urwassern war er schon, –

In Herzenshöhle sieht weilen,

Wer ihn schaut durch die Wesen hin, –


Wahrlich, dieses ist das!
[279]

7. Und wer die lebendurchsetzte2

Götterträgerin Aditi

In Herzenshöhle3 sieht weilen,

Sich gebärend durch Wesen hin, –


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 8. Durch Einflechtung eines Ṛigvedaverses (3,29,2) wird die Verborgenheit des Âtman in den Leibern an der Verborgenheit des Feuers in den Reibhölzern erläutert.


8. ›Versteckt in Reibhölzern, der Wesenkenner,

Wie Leibesfrucht von Schwangern wohlgehütet,

Zu preisen täglich neu von aufgewachten,

Von opferfreud'gen Menschen ist Gott Agni‹, –


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 9. Der im Leibe verborgene Âtman (Vers 8) ist aber zugleich der allbefassende, wie durch einen öfter vorkommenden (Atharvav. 10,8,16. Bṛih. 1,5,23), ursprünglich auf Ṛigv. 10,121,6 zurückgehenden, Vers erläutert wird.


9. Aus dem der Sonne Aufgang ist,

In dem sie wieder untergeht,

Die Götter all in ihm fussen,

Ihn überschreitet keiner je, –


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 10-11. Die Vielheit der Dinge ist nicht real; das Hier und das Dort sind identisch. Wer an die Vielheit glaubt, bleibt in der Seelenwanderung befangen. Beide Verse scheinen eine Erweiterung von Bṛih. 4,4,19 zu sein.


10. Was hier ist, das ist auch dorten,

Was dorten ist, das ist auch hier;

Von Tod in neuen Tod stürzt sich,

Wer hier Verschied'nes meint zu sehn.


11. Im Geiste soll man dies merken:

Nicht ist hier Vielheit irgendwie,[280]

Von Tod zu neuem Tod schreitet,

Wer hier Verschied'nes meint zu sehn.


Vers 12-13. Der Herr aller Welten wohnt als Purusha zollhoch im Herzen; er ist, vermöge seiner Unberührtheit von psychischen und physischen Vorgängen, einer rauchlosen Flamme vergleichbar.


12. Zollhoch an Grösse weilt mitten

Im Leibe hier der Purusha,

Herr des Vergangnen und Künft'gen,

Wer ihn kennt, ängstigt sich nicht mehr, –


Wahrlich, dieses ist das!


13. Wie Flamme ohne Rauch, zollhoch

An Grösse ist der Purusha,

Herr des Vergangnen und Künft'gen,

Er ist es heut und morgen auch.


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 14-15. Wer den Sinneseindrücken, wörtlich den Qualitäten, dharmâḥ (vgl. 2,13), nachgeht, dessen Seele verliert sich in ihnen; wer den Âtman erkennt, bleibt in ihm gesammelt und rein.


14. Wie Wasser, im Gebirg regnend,

An den Abhängen sich verläuft,

So verläuft, wer den Eindrücken

Einzeln folgt, hinter ihnen sich.


15. Wie reines Wasser, zu reinem

Gegossen, eben solches bleibt,

So bleibt dem weisen Schweigsamen

Rein die Seele, o Gautama.


Fußnoten

1 Schönes Beispiel einer Hypallage


2 Wörtlich: »Die zugleich mit dem Leben entspringende«.


3 Zur Erläuterung kann dienen, dass auch nach der Sâ khyalehre aus der Prakṛiti nur der psychische Organismus, und erst durch Vermittlung desselben die Aussenwelt entspringt.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 278-281.
Lizenz:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Gespenstersonate

Gespenstersonate

Kammerspiel in drei Akten. Der Student Arkenholz und der Greis Hummel nehmen an den Gespenstersoirees eines Oberst teil und werden Zeuge und Protagonist brisanter Enthüllungen. Strindberg setzt die verzerrten Traumdimensionen seiner Figuren in steten Konflikt mit szenisch realen Bildern. Fließende Übergänge vom alltäglich Trivialem in absurde Traumebenen entlarven Fiktionen des bürgerlich-aristokratischen Milieus.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon