Fünfte Vallî.

[281] Vers 1 und 3-5. Schilderung des Âtman im Organismus des Leibes, durchzogen von Ausblicken auf das Eschatologische und unterbrochen in Vers 2 durch einen Vers aus dem Ṛigveda (4,40,5), dessen ursprüngliche Bedeutung zweifelhaft ist, und der hier (wie auch Mahânâr. 10,6, vgl. ib. 10,4) in glücklicher Umdeutung auf den Âtman bezogen wird: »er ist in allem vorhanden und in allem das Edelste«.


1. Wer die Stadt mit den elf Toren1

Des unwankbaren Geistigen[281]

Des Ew'gen ehrt, der grämt sich nicht

Und wird, des Leibes los, erlöst.


Wahrlich, dieses ist das!


2. ›Im Äther ist Sonnenschwan er, Vasu in der Luft,

Hotar am Opferbette, auf der Schwelle Gast,

Er weilt in Mensch und Weite, im Gesetz, im Raum,

Entspringt aus Wassern, Rindern, Recht, Gebirg' als grosses2 Recht.‹


3. Er, der nach oben hin aushaucht

Und den Einhauch3 nach innen treibt,

In der Mitte als Zwerg sitzend,

Den beten alle Götter an.


4. Wenn nach des Leibes Hinfalle

Der im Leibe Verkörperte

Aus dem Leibe erlöst worden,

Was fragt ihr nach dem übrigen (4,3)?


Wahrlich, dieses ist das!


5. Nicht durch Aushauch und durch Einhauch

Hat sein Leben ein Sterblicher;

Ein anderer macht ihn leben,

Auf dem beruhen jene zwei.


Vers 6-7. Schicksal der Seele nach dem Tode.


6. Wohlan! Ich will dir auslegen

Brahman, ewig, geheimnisvoll,

Und wie es, wenn der Tod eintritt,

Steht mit der Seele, Gautama.


7. Im Mutterschoss geht ein dieser,

Verkörpernd sich zur Leiblichkeit, –

In eine Pflanze fährt jener, –

Je nach Werk, je nach Wissenschaft.


Vers 8. Der Purusha (das Subjekt), welcher im Traum eine Welt aufbaut, derselbe ist auch der Träger der ihn im Wachen umgebenden Welten
[282]

8. Der Geist, der wach auch in dem Schläfer (– U),

Aufbauend, je nach Wunsch, dies oder jenes,

Das ist das Reine, ist Brahman,

Das heisset das Unsterbliche.

In ihm die Welten all ruhen,

Ihn überschreitet keiner je (4,9).


Wahrlich, dieses ist das!


Vers 9-11. Obgleich der Âtman in alle Geschöpfe, sich ihnen anpassend, eingegangen ist, so bleibt er doch ausserhalb derselben in seiner vollen Integrität bestehen und wird von dem Leiden der Kreaturen nicht betroffen. Dieser Gedanke (am kürzesten ausgesprochen Bṛih. 5,1: pûrṇasya pûrṇam âdâya, pûrṇam eva avaçishyate) wird hier durch drei vortreffliche Gleichnisse erläutert.


9. Das Licht, als eines, eindringt in den Weltraum

Und schmiegt sich dennoch jeglicher Gestalt an;

So wohnt das eine innre Selbst der Wesen

Geschmiegt in jede Form, und bleibt doch draussen.


10. Die Luft, als eine, eindringt in den Weltraum

Und schmiegt sich dennoch jeglicher Gestalt an;

So wohnt das eine innre Selbst der Wesen

Geschmiegt in jede Form, und bleibt doch draussen.


11. Die Sonne, die des ganzen Weltalls Auge,

Bleibt rein von Fehlern ausser ihr der Augen;

So bleibt das eine innre Selbst der Wesen

Rein von dem Leiden ausser ihm der Welten.


Vers 12-13. Beseligung und Friede dessen, der den Âtman in sich erkannt hat.


12. Den einen Herrn und innres Selbst der Wesen,

Der seine eine Form ausbreitet vielfach,

Wer den, als Weiser, in sich selbst sieht wohnen,

Der nur ist ewig selig, und kein andrer.


13. Der, als der Ew'ge den Nichtew'gen, Freude,

Als Geist den Geistern, schafft, als Einer Vielen,

Wer den, als Weiser, in sich selbst sieht wohnen,

Der nur hat ew'gen Frieden, und kein andrer.


Vers 14-15. Unbeschreibliche Wonne liegt in dem Gefühl der Einheit mit dem Âtman (»Dieses ist das«); aber erkennen kann man denselben[283] nicht weiter, da er als die Quelle aller Erkenntnis (als das Subjekt des Erkennens) selbst unerkennbar bleibt.


14. ›Dieses ist das!‹ – Dies Wort fühlt man

Als unaussprechlich höchste Lust;

Doch wie kann man es wahrnehmen?

Glänzt, oder widerglänzt es wohl?


15. Dort leuchtet nicht die Sonne, nicht Mond noch Sternenglanz,

Noch jene Blitze, geschweige irdisch Feuer.

Ihm, der allein glänzt, nachglänzt alles andre,

Die ganze Welt erglänzt von seinem Glanze.


Fußnoten

1 Augen, Ohren, Nasenlöcher, Mund, Entleerungsorgane, Nabel und Brahmarandhram (Ait. 1,3,12. Chând. 8,6,6). Mit Weglassung der beiden letztern nur neun, Çvet. 3,18. Bhag. G. 5,13. Yogaçikhâ 4. Yogatattvam 13.


2 Das metrisch überschüssige bṛihat ist eingeschoben (vgl. oben S. 248, Anm. 3).


3 prâṇa ist hier »Aushauch«, apâna »Einhauch«, nicht (wie später) der »Verdauungswind«, welches bei der Wiederkehr in Vers 5 nicht passt.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 281-284.
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