6,1-8: Prâṇa und Âditya und ihre Verehrung.

[330] Im Anschluss an die letzten Worte des vorigen Abschnittes, wonach der Âtman »inwendig und draussen« ist, wird hier als äusseres Symbol des Âtman die Sonne, als inneres der Prâṇa aufgestellt, wobei verschiedene Beziehungen zwischen beiden zur Sprache kommen und anbefohlen wird, dieselben mittels der Silbe Om, mittels der drei Vyâhṛiti's (bhûr, bhuvaḥ, svaḥ) und mittels der Sâvitrî (Ṛigv. 3,62,10, vgl. zu Bṛih. 5,14) zu ver ehren. Die Verehrung durch diese drei Symbole wird sodann im einzelnen erörtert, wobei manche Zitate bekannter und unbekannter Stellen vorkommen, noch mehr aber vereinzelte abgerissene Reminiszenzen aus frühern Upanishad's dem Texte in freier Weise eingewoben werden.


1-2.

[330] 1. Zweifach, fürwahr, bringt jener [Âtman] sich selbst [in Bewegung]: als dieser Prâṇa hier und als jene Sonne dort; und zwei sind diese seine Pfade, inwendig und draussen; beide laufen durch Tag und Nacht in sich selbst zurück. Nämlich jene Sonne ist der Aussen-Âtman, der Prâṇa der Innen-Âtman. Darum wird durch den Gang des Aussen-Âtman [Tag und Nacht] der Gang des Innen-Âtman abgemessen [Wachen und Schlafen], – denn so heisst es: ›jeder Wissende, von Sünden Freie, die Sinne Beaufsichtigende, an Geist Geläuterte, in ihm Feststehende, das Auge nach innen Wendende (âvṛittacakshuḥ Kâṭh. 4,1), ist er [der Âtman]‹, – und durch den Gang des Innen-Âtman wird der Gang des Aussen-Âtman abgemessen. Denn so heisst es: ›Aber jener goldne Mann im Innern der Sonne‹ [so weit Chând. 1,6,6], welcher herabschaut auf diese Erde aus seinem goldnen Sitze, der ist eben jener, welcher, in der Herzenslotosblüte wohnend, die Nahrung isst; 2. und der, welcher, in der Herzenslotosblüte wohnend, die Nahrung isst, der ist es, welcher, als jenes Sonnenfeuer am Himmel wohnend, unter dem Namen der Zeit unsichtbar alle Wesen als Nahrung isst. Fragt ihr, welches diese Lotosblüte [im Universum] sei, und woraus sie bestehe? – Nun, dieses dort ist die Lotosblüte, was der Raum dort ist, und seine vier Pole und vier Zwischenpole sind ihrer Blätter Formen geworden, und zueinander hingewendet [in der oben angegebenen Beziehung aufeinander] vollbringen ihren Lauf beide, der Prâṇa und die Sonne.

Diese beiden soll man verehren durch die Silbe Om, durch die Vyâhṛiti's [die Ausrufe bhûr, bhuvaḥ, svaḥ] und durch die Sâvitrî-Strophe.


3-5.

Verehrung durch Om.


3. ›Fürwahr, zwei Formen sind des Brahman, die gestaltete und die ungestaltete‹ (Bṛih. 2,3,1); aber die gestaltete ist die Unwahrheit, die ungestaltete ist die Wahrheit, ist das[331] Brahman, als Brahman das Licht, als das Licht die Sonne, diese aber ist diesen Laut Om zum Selbste habend. ›Sie aber machte sich selbst dreifach‹ (Bṛih. 1,2,3), denn in dem Laute Om sind die drei Morae (a u m), durch die ist diese ganze Welt ›eingewoben und verwoben‹ (Bṛih. 3,6) in jener [Sonne]. Denn so heisst es: ›Fürwahr, die Sonne ist dieses Om!‹ also meditierend, soll man demgemäss sich selbst bereit machen (ity evam dhyâyans tathâtmânam yuñjîteti, Telugutext).

4. Und auch an einem andern Orte heisst es: ›Nun aber ist der Udgîtha der Prâṇava (der heilige Laut Om), und der Prâṇava ist der Udgîtha. Darum ist der Udgîtha jene Sonne, und sie ist der Prâṇava‹ (Chând. 1,5,1). Denn so heisst es: ›Den Udgîtha, der da heisst der heilige Laut, den Führer, den lichtgestaltigen, schlummerlosen, alterlosen, vom Tode freien, dreifüssigen [nach dem Schol. Wachen, Schlaf, Tiefschlaf und bhûr bhuvaḥ svaḥ], dreilautigen [a, u, m] und wiederum zu erkennenden als fünffach [prâṇa, apâna, vyâna, samâna, udâna] in der Höhle des Herzens verborgenen‹. Denn so heisst es: ›Das die Wurzel oben habende (Kâṭh. 6,1) dreifüssige Brahman (Ṛigv. 10,90,4) und als die Zweige Äther, Wind, Feuer, Wasser, Erde usw. [und ihre Produkte], dieser eine sogenannte Feigenbaum (Kâṭh. 6,1), der ist das Brahman, und sein ist der Glanz, welcher jene Sonne ist, und auch der Glanz jener Silbe Om, darum soll man es durch den Laut Om verehren ohne Unterlass!‹ Denn dieser ist des Menschen einiger Erleuchter. Denn so heisst es (Kâṭh. 2,16):


›Ja, diese Silbe ist heilig,

Diese Silbe das Höchste ist,

Wer dieser Silbe ist kundig,

Was er wünschen mag, fällt ihm zu.‹


5. Und an einem andern Orte heisst es: ›Der Laut Om ist seine tonartige Gestalt; Weiblich, Männlich, Sächlich, dieses seine geschlechtartige; Feuer, Wind, Sonne, dieses seine lichtartige; Brahmán, Rudra, Vishṇu, dieses seine oberherr-artige; Gârhapatya, Dakshiṇâgni, Âhavanîya, dieses seine [opfer-] mundartige; Ṛic, Yajus, Sâman, dieses seine wissenartige; bhûr, bhuvaḥ, svar, dieses seine weltraumartige; Vergangenes, Gegenwärtiges, Künftiges, dieses seine zeitartige; Prâṇa, Agni,[332] Sûrya, dieses seine wärmeartige; Nahrung, Wasser, Mond, dieses seine schwellungsartige; Buddhi, Manas, Aha kâra, dieses seine erkenntnisartige; Prâṇa, Apâna, Vyâna, dieses seine prâṇa-artige‹, – daher, wenn man sagt Om, so sind damit alle die vorerwähnten geehrt und einbegriffen worden. Denn so heisst es: ›Fürwahr, o Satyakâma, diese Silbe Om, das ist das höhere und das niedere Brahman‹ (Praçna 5,2, unwörtlich).


6.

Verehrung durch bhûr, bhuvaḥ, svaḥ.


Unausgesprochen (avyâhṛitam), fürwahr, war diese Welt. Er aber, die Realität, Prajâpati, nachdem er Tapas geübt, sprach er sie aus: die Erde, den Luftraum, den Himmel (bhûr, bhuvaḥ, svar). Denn dieses ist des Prajâpati greifbarste Gestalt [unter den im vorigen Abschnitt aufgezählten Gestalten], was die weltraumartige ist; svar ist ihr Haupt, bhuvar der Nabel, bhûr die Füsse (vgl. Ṛigv. 10,90,14); die Sonne das Auge. Denn an dem Auge hängt für den Purusha (das Subjekt) die grosse Masse (das Objektive), denn mit dem Auge überstreicht er die Massen; ja, das Auge ist die Realität, denn in dem Auge seinen Standort habend, schweift der Purusha unter allen Dingen umher. Darum soll man die Ausrufe bhûr, bhuvaḥ, svar verehren; denn damit ist der allbeseelende, allschauende Prajâpati gleichsam verehrt worden. Denn so heisst es: ›Dieses, fürwahr, ist die alltragende Gestalt des Prajâpati; in ihr ist diese ganze Welt beschlossen, und in dieser ganzen Welt ist sie beschlossen.‹ Darum ist sie [die, welche] man verehren soll.


7-8.

Verehrung durch die Sâvitrî.


7. Tat Savitur vareṇyam (den lieblichen des Savitar), – jene Sonne ist Savitar, und er ist also lieb zu haben von dem, der den Âtman liebt, so sagen die Brahmanlehrer;

bhargo devasya dhîmahi (des Gottes Glanz lasst ehren[333] uns), – der Gott ist Savitar; und was an ihm hier der Glanz heisst, das überdenke ich, so sagen die Brahmanlehrer;

dhiyo yo naḥ pracodayât (er möge fördern unsern Geist), – der Geist sind die Gedanken, und er ist der, welcher uns diese fördern möge, so sagen die Brahmanlehrer.

[Nachträgliche Etymologien.] Bhargas, der Glanz, bedeutet denjenigen, welcher in jener Sonne enthalten ist, oder auch es ist der Stern im Auge; er heisst bhargas, weil durch die Lichtstrahlen (bhâbhis) sein Gang (gati) ist; oder er heisst bhargas, weil er, der Glanz, nämlich Rudra, [die Welt] ausdörrt, [so sagen] die Brahmanlehrer; oder bha bedeutet, dass er alle Welten erleuchtet (bhâsayati), ra, dass er alle Wesen froh macht (rañjayati), ga, dass alle Geschöpfe in ihn eingehen (gacchanti) und aus ihm hervorgehen, darum, als bha-ra-ga, ist er bhargas. – Sûrya heisst so, weil fort und fort [Soma] gekeltert wird (su); Savitar ist nach dem Erregen (su), Âditya nach dem Nehmen [âdâ, der Flüssigkeiten der Erde, oder des Lebens der Geschöpfe, Schol.], Pâvana (das Feuer) nach dem Läutern (pavanam), die âpas (Wasser) sind nach dem Schwellendmachen (pyâyanam) benannt. Denn so heisst es: ›Fürwahr, der Âtman ist der Führer (lies: khalu âtmâ netâ), der da unsterblich heisst, ist der Wahrnehmer, Denker, Geher, Entleerer, Zeuger, Täter, Sprecher, Schmecker, Riecher, Seher, Hörer und der tastet, ist alldurchdringend in den Körper eingegangen‹ (vgl. Praçna 4,9). Denn so heisst es: ›Denn wo eine zweiheitartige Erkenntnis ist (vgl. Bṛih. 2,4,14), da hört, sieht, riecht und schmeckt, berührt alles der Âtman und erkennt es; wo aber eine unzweiheitliche Erkenntnis ist, frei von Wirkung, Ursache und Werk, wortlos, vergleichlos, beschreibungslos, was ist das? – Es ist unaussprechlich.‹

8. Fürwahr, dieser Âtman ist Îçâna, Çambhu, Bhava, Rudra, Prajâpati, Viçvasṛij, Hiraṇyagarbha, Wahrheit, Leben, Wandervogel, Regierer, Vishṇu, Nârâyaṇa, Arka, Savitar, Schöpfer, Ordner, Allherrscher, Indra, Indu. Er ist der, welcher dort [in der Sonne] glüht, umgeben, wie Feuer von anderm Feuer, von dem tausendaugigen, goldnen Ei. Ihn wahrlich soll man suchen zu erkennen, soll man erforschen (vgl. Chând. 8,1)! –

Alle Geschöpfe in Frieden lassend, in den Wald ziehend[334] und der Sinnendinge sich entäussernd, so möge man ihn aus dem eignen Leibe heraus (Kâṭh. 6,17) vernehmen, (Praçna 1,8)


›Den allgestaltigen, goldnen Wesenskenner,

Der dort als höchster Hort, als einzig Licht glüht!

Mit tausend Strahlen, hundertfach sich wandelnd,

Als Lebenshauch der Wesen geht dort auf die Sonne.‹

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 330-335.
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