6,9-17: Das Prâṇâgnihotram und die metaphysische Bedeutung der Nahrung.

[335] Dieser Abschnitt zerlegt sich deutlich in drei Teile. – Im ersten Teile (6,9) wird, in Anschluss an Chând. 5,19-24, das Prâṇa-Agnihotram gelehrt. An die Stelle des Agnihotram an die Götter tritt ein solches an den Prâṇa, bestehend in einer rituellen Ernährung des eignen Leibes (vgl. zu Chând. 5,19-24, oben S. 146). – Der zweite Teil (6,10) unterscheidet im Universum Nahrung und Nahrungesser und führt dieselben auf die Prakṛiti und den Purusha der Sâ khya's zurück, ähnlich wie Platon im Philebus ἡδονή und φρόνησις an die metaphysischen Prinzipien der Pythagoreer anschliesst. – Durchaus in Widerspruch hiermit stehen die Betrachtungen des dritten Teiles (6,11-17) über annam, kâla, brahman. Denn während vorher die Nahrung (annam) nur die objektive, prakṛiti-artige Seite der Welt bedeutete, so wird jetzt zunächst die Nahrung als Brahman in der Weise von Taitt. 3 und ähnlichen Stellen verherrlicht. Dann aber wird, mit der Wendung, dass die Ursache von allem die Nahrung, die Ursache der Nahrung aber die Zeit sei, dazu übergegangen, die Zeit als Brahman zu feiern; und endlich wird von dieser symbolischen Fassung des Brahman als Zeit auf das zeitlose und nach allen Seiten unendliche Brahman als den letzten Grund aller Gründe zurückgegangen. – Fehlt es unserm Autor bei allen diesen Betrachtungen auch nicht an Tiefblick, so besitzt er doch nicht die Fähigkeit, seine Intuitionen in klarer und zusammenstimmender Weise zu gestalten.


9.

Das Prâṇâgnihotram. Über dieses Stück als Mittelglied zwischen Chând. 5,19-24 und der Prâṇâgnihotra-Upanishad vgl. unsre Einleitung zu der letztern.


Darum, fürwahr, hat einer diese beiden [Prâṇa und Sonne] als sein Selbst. Wer solches weiss, der übt die Meditation nur an dem Selbst, der bringt das Opfer nur in dem Selbst. Solche Meditation und der zur Ausführung [dieses Opfers] schreitende Wille ist von den Weisen (Chând. 5,24) gepriesen worden.[335]

Dann möge er des Herzens Unlauterkeit durch den Spruch ›ob angerührt von Speiserestbehafteten‹ läutern. [Dies geschieht, indem] er den Spruch rezitiert:


Ob Speiserest, ob angerührt von Speiserestbehafteten,

Ob eines Bösen Gabe, ob von Todgeburt her [unrein],

Mir mögen Vasu's Filter1, Agni und der Sonne Strahlen

Die Nahrung läutern und mich selbst von aller Übeltat.


Dann umkleidet er vorher [durch Ausspülen des Mundes den Âtman] mit Wasser; und indem er spricht: ›dem Prâṇa svâhâ! Dem Apâna svâhâ! Dem Vyâna svâhâ! Dem Samâna svâhâ! Dem Udâna svâhâ!‹ so opfert er unter diesen fünf Rufen [die Nahrung in sich] hinein. Was noch übrig bleibt, das isst er ohne zu sprechen. Dann umkleidet er noch einmal hinterher [den Âtman] mit Wasser, und nachdem er [in dieser Weise] den Mund ausgespült und dem Âtman geopfert hat, soll er mit den beiden Versen ›als Leben, Feuer‹ und ›Viçva bist du‹ den Âtman überdenken:


Als Leben, Feuer ruht in mir

Als fünf Hauche das höchste Selbst.

Gesättigt sättige das All der Allgeniesser!


Viçva bist du, Vaiçvânara bist du,

Du trägst das Weltall, das durch dich geboren;

Dir sollen gelten alle Opfergüsse,

Wo du bist, da ist Leben, Allbeleber!


Fürwahr, wer also und auf diese Weise die Nahrung isst, der wird nicht hinwiederum zur Nahrung für andre.


10.

Nahrung und Nahrungesser im Lichte der Sâ khyalehre.


Hierbei muss man noch etwas andres merken. Die weitere Entwicklung jenes Âtman-Opfers ist die als Nahrung und Nahrungesser. Davon ist dieses die Auslegung. Der geistige [336] Purusha befindet sich in der Urmaterie (pradhânam). Er ist also der Geniesser, weil er die von der Urnatur (prakṛiti) stammende Nahrung geniesst. Ihm nun dient jener natürliche Âtman (bhûtâtman) als Nahrung, denn seine Schöpferin ist die Urmaterie.2 Darum ist alles, was aus den drei Guṇa's (Sattvam, Rajas, Tamas) besteht, das zu-Geniessende, und der Geniesser ist der darin befindliche Purusha. Und hierfür ist ja auch die Wahrnehmung beweisend. Denn da die Tiere aus dem Samen entstehen, so folgt, dass der Same zu-Geniessendes ist [zur objektiven Welt gehört]. Und hierin liegt, dass auch die Urmaterie [als der Same der Welt] zu-Geniessendes ist. Somit ist der Purusha der Geniesser, und die Urnatur das zu-Geniessende; denn in ihr befindlich geniesst jener. Die aus der Urnatur stammende Nahrung also wird, durch die Umwandlung in die Verschiedenheiten der drei Guṇa's, zu dem vom Mahad bis zu den Viçesha's [den die Unterschiede in sich enthaltenden groben Elementen] reichenden Li gam.3 Damit ist auch schon die Erklärung des vierzehnfachen Weges [von Prakṛiti durch Mahad, Aha kâra, Manas und die zehn Indriya's] gegeben.


Lust, Schmerz, Verblendung mit Namen,

Nahrungsartig ist diese Welt,


denn des Samens Süsses ist nicht zu schmecken, sagt man, solange keine Erzeugung aus ihm statt hat [nicht die unentwickelte Prakṛiti, nur die aus ihr entwickelte Welt ist Nahrung, ist Objekt]. – Und auch so, nämlich in den drei Zuständen, wird sie zur Nahrung, als Kindheit, Jugend und Alter. Daraus, dass diese Umwandlungen sind, folgt, dass sie[337] Nahrung sind.4 Indem die Urmaterie in dieser Weise zum Offenbarwerden gelangt, ist ihre Wahrnehmung möglich. Hierbei betätigen sich Buddhi usw. [Buddhi, Manas, Aha kâra] in dem Schmecken [der Objekte] als Entschliessen, Vorstellen, Ichbewusstsein. Ferner [in bezug auf] die Sinnesobjekte betätigen sich die fünf [Sinne] in dem Schmecken; so entstehen alle Tätigkeiten der Sinne und alle Tätigkeiten der Prâṇa's [denn auch sie sind ein Schmecken der objektiven Welt]. In dieser Weise ist das Offenbare [Mahad usw.] Nahrung, und ist [durch dasselbe] das Unoffenbare Nahrung; aber ihr Geniesser ist der guṇalose [Purusha]; und daran, dass er ihr Geniesser ist, erweist sich seine Geistigkeit. Fürwahr, wie das Feuer der Nahrungesser der Götter, und der Soma ihre Nahrung ist (vgl. Bṛih. 1,4,6), so isst (lies atti) durch das Feuer [durch den Purusha in ihm] die Nahrung, wer solches weiss. Denn ›Soma mit Namen ist der natürliche Âtman, Feuer mit Namen ist der, welcher das Unoffenbare als Muṇḍ hat‹, so wird gesagt. Nämlich der Purusha ist es, welcher durch das Unoffenbare als Mund [der ihm die offenbare Welt vermittelt] das Drei-Guṇa-hafte geniesst.

Wer solches weiss, der ist ein Entsager, Hingebender, Selbstopferer. Und gleichwie einer in einem leeren Hause [wo keine Zeugen sind] die Buhlerinnen, welche zu ihm eingehen, doch nicht anrührt, – wer ebenso die Sinnesobjekte, welche zu ihm eingehen, nicht berührt, der ist ein Entsager, Hingebender, Selbstopferer.


11-13.

Das Brahman als Nahrung.


11. Das, fürwahr, ist die höchste [Erscheinungs-]Form des Brahman, was die Nahrung ist.5 Denn aus Nahrung bestehend[338] ist der Prâṇa (das Leben), und wenn einer nicht isst, ›so wird er zu einem nicht denkenden, nicht hörenden, nicht fühlenden, nicht sehenden, nicht redenden, nicht riechenden, nicht schmeckenden und schüttet seine Lebenskräfte aus‹, so heisst es (Chând. 7,9,1, sehr frei modifiziert, ebenso das Folgende), ›aber wenn er dann isst, so wächst er an Lebenskräften und wird zu einem denkenden, hörenden, fühlenden, redenden, schmeckenden, riechenden, sehenden‹. Denn so heisst es (Taitt. 2,2):


Aus Nahrung geboren sind die Geschöpfe,

Alle, wie sie auf Erden sind,

Durch Nahrung haben sie ihr Leben,

In diese gehn sie ein zuletzt.


12. Und an einem andern Orte heisst es: ›Fürwahr, alle diese Geschöpfe fliegen [wie die Vögel] Tag für Tag aus, um die Nahrung zu erhaschen; die Sonne nimmt mit ihren Strahlen Nahrung auf, dadurch erglüht sie; mit Nahrung beträufelt, verdauen hier diese Lebenskräfte; das Feuer selbst flammt auf durch Nahrung, und aus Verlangen nach Nahrung hat das Brahman diese Welt gebildet.‹ Darum soll man die Nahrung als den Âtman verehren. Denn so heisst es (Taitt. 2,2):


Aus Nahrung entstehn die Wesen,

Durch Nahrung wachsen sie weiter,

Wesen durch sich, sich durch Wesen,

Nährt sie, darum heisst Nahrung sie.


13. Und an einem andern Orte heisst es: ›Fürwahr, diese Nahrung, die ist die allerhaltende Gestalt des erhabenen Vishṇu.‹ Nämlich die Essenz der Nahrung ist [nach Taitt. 2] der Prâṇa, die des Prâṇa das Manas, die des Manas die Erkenntnis, die der Erkenntnis die Wonne; der wird nahrungreich, prâṇasreich, manasreich, erkenntnisreich und wonnereich, wer solches weiss. Ja, so viele Wesen hienieden die Nahrung essen, in denen allen innerlich weilend, isset die Nahrung, wer solches weiss.


Nahrung ist dem Verfall wehrend,

Nahrung gilt für beschwichtigend,

Nahrung ist für das Tier Leben,

Gilt als ältestes, gilt als Arzt.
[339]


14.

Das Brahman als Zeit.


Aber an einem andern Orte heisst es: ›Die Nahrung, fürwahr, ist der Ursprung dieser ganzen Welt, und der Ursprung der Nahrung ist die Zeit, und der der Zeit die Sonne.‹ Dieser Zeit Sichtbarkeit ist dieses, was, aus der Dauer der Augenblicke usw. erwachsend, das zwölfteilige Jahr ausmacht. Von diesem Jahre ist die eine Hälfte [Juni bis Dezember, wo der Sonnenaufgang sich nach Südosten, der Region des Agni, verschiebt] dem Agni, die andre Hälfte [Dezember bis Juni mit Verschiebung des Sonnenaufgangs nach Nordosten, der Region des Soma] dem Varuṇa [man erwartet Soma, wie auch nachher steht] geweiht. Auf dem [Süd-]Gange von Maghâ an bis halb Çravishṭhâḥ ist es dem Agni, und auf dem Nordgange von Sarpâḥ bis halb Çravishṭhâḥ [richtiger: von halb Çravishṭhâḥ bis Sarpâḥ] ist es dem Soma geweiht. Hierbei besteht jeder einzelne [Monat] von ihm [dem Jahre] aus neun Vierteln [der 27 Nakshatra's], entsprechend dem begleitenden6 [Nakshatram]. Wegen der Subtilität [der Zeit] ist dieses der Beweis [ihrer Realität]; denn hierdurch wird die Zeit bewiesen. Denn ohne Beweis ist die Annahme des zu[340] Beweisenden nicht statthaft. Wohl aber kann das zu Beweisende selbst [die Zeit], indem man es in seinen Teilen [Augenblicken usw.] auffasst, zum Beweisgrunde werden, wodurch es sich selbst [auf induktivem Wege] zum Bewusstsein bringt. Denn so heisst es:


So viele Momente der Zeit sind,

In so vielen verstreicht sie selbst.


Wer die Zeit als das Brahman verehrt, von dem weicht die Zeit [die Vergänglichkeit] sehr weit hinweg. Denn so heisst es:


Die Wesen aus der Zeit fliessen,

Aus der Zeit gehn zum Wachstum sie,

Gehn unter in der Zeit; – Zeit ist

Unreale Realität.


15-16.

Die Zeit und das Zeitlose.


15. ›Fürwahr, es gibt zwei Formen des Brahman‹ (soweit Bṛih. 2,3,1), die Zeit und die Nichtzeit. Nämlich was vor der Sonne da war, das ist die Nichtzeit, das Nichtteilbare, und was mit der Sonne anfing, das ist die Zeit, ist das Teilbare. Die Erscheinungsform des Teilbaren aber ist das Jahr, und aus dem Jahre weiter entspringen diese Wesen, durch das Jahr auch, nachdem sie hier entsprungen, wachsen sie auf, und in dem Jahre gehen sie wieder zugrunde (nachgebildet nach Taitt. 3,1); darum, fürwahr, ist das Jahr der Prajâpati, die Zeit, die Nahrung, das Nest (die Wohnstätte) des Brahman und der Âtman. Denn so heisst es:


Die Zeit macht reifen die Wesen

Im grossen Âtman allesamt;

Worin aber die Zeit selbst reift,

Wer den weiss, der ist vedafest.


16. Die körperlich gewordene Zeit und der Ozean der Geschöpfe [aus dem sie entspringen] ist jener in ihr weilende, der da heisset Savitar (Zeuger), weil aus ihm diese Wesenheiten, Mond, Sternbilder, Planeten, Jahr usw., gezeugt werden (sûyante); aus diesen aber wiederum diese ganze Welt,[341] und alles was hier Schönes und Unschönes in der Welt zu schauen ist, das stammt aus ihnen. Darum ist die Sonne das Selbst (der Leib, âtman) des Brahman, und die Sonne, die da auch Zeit heisst, soll man verehren; ja, einige sagen: ›Die Sonne ist das Brahman‹ (Chând. 3,19). Darum heisst es auch:


Opfrer, Gottheit, Opfertrank, Spruch,

Opfer, Vishṇu, Prajâpati,

All dies ist der Herr, der schauend

Dort in der Sonnenscheibe glänzt.


17.

Brahman als das Absolutum.


Das Brahman, fürwahr, war diese Welt zu Anfang, der Eine, Unendliche; unendlich nach Osten, unendlich nach Süden, unendlich im Westen, unendlich im Norden, und nach oben und unten, unendlich nach allen Seiten. Für ihn gibt es keine östliche oder sonst eine Himmelsgegend, kein in die Quere, kein unten oder oben. Er ist der unbegreifliche höchste Âtman, unausmessbar, ungeboren, unerforschlich, undenkbar ist er, ›dessen Selbst die Unendlichkeit ist‹ (Chând. 3,14,2). Er ist es, der, wenn das Weltall untergeht, allein wach bleibt; und er ist es, der dann [wieder] aus diesem Weltraume das Reingeistige aufweckt; durch ihn allein hat es sein Denken, und in ihm geht es wiederum unter. Das ist seine glanzvolle Erscheinungsform, was dort in der Sonne glüht, und das Licht, welches in dem rauchlosen Feuer (Kâṭh. 4,13) in bunten Farben spielt, und er ist in dem Leibe befindlich als das Feuer, welches die Nahrung verdaut. Denn so heisst es (vgl. Chând. 3,13,7): ›Der da im Feuer weilt, und der im Herzen weilt, und der in der Sonne weilt, die sind nur er, der Eine allein.‹ – Der gelangt zur Einheit mit dem Einen, wer solches weiss.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 335-342.
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