2. Die Aktualität

[149] Die Potentialität, sofern sie zur Bewegung in Beziehung steht, hätten wir über ihr Wesen und ihre Beschaffenheit, genauere Bestimmungen geben. Dabei wird dann auch der Begriff des Potentiellen klar werden, indem wir seine verschiedenen Bedeutungen auseinanderhalten. Denn von Potentialität spricht man nicht nur da, wo etwas seiner Natur nach anderes bewegt oder von anderem bewegt wird, sei es überhaupt und irgendwie, sei es mit bestimmter Richtung, sondern auch in anderer Beziehung, und deshalb sind wir bei unseren Untersuchungen auch darauf eingegangen.

Aktualität nun bedeutet ein Vorhandensein des Gegenstandes in anderem Sinne, als wir vom Sein im Sinne der Potentialität sprechen. Potentialität meinen wir, wenn wir z.B. sagen, daß im Holze die Hermesfigur und in der ganzen Linie die halbe stecke, nämlich weil man sie daraus hervorholen kann, oder wie wir jemand einen wissenschaftlichen Mann nennen, auch wenn er gerade nicht wissenschaftlich beschäftigt ist, falls er nur zu solcher Beschäftigung befähigt ist. Anders die Aktualität. Was wir damit sagen wollen, mag aus den einzelnen Fällen durch Induktion deutlich gemacht werden. Es ist durchaus nicht immer geboten, für alles die streng begriffliche Form zu suchen; es genügt schon eine Reihe von analogen Fällen zu überblicken. Dazu dient hier das Verhältnis des Bauenden zum Bauverständigen, des Aufgewachten zum Schlafenden, des Sehenden zu dem, der die Augen geschlossen hält, aber Sehkraft besitzt, des aus dem Stoffe Gestalteten zum Stoffe, des Fertiggestellten zum Unfertigen. Durch das eine Glied dieser Gegensätze soll jedesmal die Aktualität, durch das andere die Potentialität bezeichnet sein.

Indessen, Aktualität hat nicht alles in gleicher Weise, oder es ist doch nur das analoge Verhältnis immer das gleiche; wie dieses an diesem oder auf dieses bezogen ist, so ist jenes an jenem oder auf jenes bezogen. Aktualität will das eine Mal besagen, wie sich die Bewegung zum Vermögen, das andere[149] Mal, wie sich das Gebilde zum Stoff verhält. Wo vom Unendlichen, vom Leeren und von anderen derartigen Begriffen als Potentiellem und Aktuellem die Rede ist, da geschieht es in anderem Sinne als bei den gewöhnlichen Gegenständen, wie z.B. bei dem Sehenden, beim Gehenden oder auch beim Gesehenen. Hier kann die Aussage einmal ohne weiteres wahr werden; denn das Gesehene heißt so das eine Mal, weil es gesehen wird, ein anderes Mal, weil es gesehen werden kann. Das Unendliche dagegen ist nicht in dem Sinne ein Potentielles, als könnte es jemals in Wirklichkeit ein für sich Bestehendes werden; das wird es nur im Denken. Denn daraus, daß die Teilbarkeit nie zu Ende kommt, ergibt sich, daß wohl diese Aktualität ein potentielles Sein hat, aber nicht auch das Gelangen zum Fürsichsein.

Was nun die Handlungen anbetrifft, so ist eine Handlung, die ein Ende nimmt, nicht selbst Zweck, sondern Mittel zum Zweck. So ist der Zweck der Entfettungskur die Abmagerung; wenn aber der zu Entfettende noch in der Kur begriffen ist, so ist, da das Ziel der Bewegung nicht in der Bewegung selbst enthalten ist, solche Bewegung nicht eigentlich eine innerlich bildende Tätigkeit zu nennen oder doch keine vollendete; denn sie ist ja nicht selbst das Ziel, und erst die Bewegung, in der das Ziel enthalten ist, darf eine innerlich bildende Tätigkeit heißen. So z.B. läßt sich wohl dieses aussagen: es sieht einer auch weiter, wie er bisher gesehen hat; er überlegt, wie er Überlegt hat, und denkt, wie er gedacht hat. Aber nicht ebenso gilt es: er lernt immer weiter, was er schon gelernt hat, oder er genest immer weiter, wie er genesen ist. Dagegen lebt einer immer weiter glücklich, der glücklich gelebt hat, und ist der weiter selig, der bisher selig gewesen ist. Wäre das nicht richtig, so hätte die Bewegung aufs Ziel hin einmal aufhören müssen, wie es bei einer Entfettungskur der Fall ist. So aber ist es hier nicht; sondern es lebt einer weiter, wie er gelebt hat. Die einen dieser Vorgänge also muß man als bloße Bewegungen bezeichnen, die zu dem Ziele hinführen, die anderen als innere Prozesse der Verwirklichung. Die Bewegung als Bewegung ist noch unvollendet: so die Entfettung, das Erlernen, das Gehen, das Bauen; alles das sind Bewegungen, und zwar unvollendete. Denn daß jemand den Weg immer weiter geht, den er gegangen ist, immer weiter baut, was er schon gebaut hat, immer weiter wird, was er geworden ist, oder immer weiter bewegt, was er bewegt hat, das stimmt nicht; sondern »er bewegt«, das ist das eine, und »er hat bewegt«, das ist etwas anderes. Dagegen »er hat gesehen« und »er sieht noch immer«, er »denkt und er hat gedacht«: das kann ganz wohl zugleich und als dasselbe statthaben. Einen Vorgang von der letzteren[150] Art bezeichne ich als inneren Prozeß der Verwirklichung, einen von jener Art aber als bloße Bewegung.

Was es also heißt, aktuell sein, und welche Beschaffenheit dem Aktuellen zukommt, das mag uns auf Grund des Beigebrachten und verwandter Erwägungen klar geworden sein. Nun gilt es aber weiter, genauer zu bestimmen, zu welcher Zeit jedes einzelne potentiell ist, und zu welcher Zeit noch nicht. Denn nicht zu jeder beliebigen Zeit ist etwas potentiell. Zum Beispiel: ist etwa Erde schon potentiell ein Mensch? Doch wohl nicht, sondern vielmehr erst dann, wenn sie bereits zum Samen geworden ist, und eigentlich auch dann noch nicht. Es ist damit gerade so, wie nicht alles und jedes gesund gemacht wird, nicht durch die ärztliche Kunst, und auch nicht durch die Naturheilkraft; sondern es gibt solches, was das Vermögen hat, wieder hergestellt zu werden, und dieses ist das potentiell Gesunde. Für das, was durch verständige Absicht aus dem Zustande der Potentialität in den der Aktualität hinübergeführt wird, ist die genauere Bestimmung die: es ist potentiell, wenn einmal die Absicht vorhanden ist, und zweitens kein äußerer Zustand hindernd dazwischen tritt; dort aber, bei dem Gegenstande, der gesund gemacht wird, ist die Potentialität vorhanden, wenn nur kein inneres Hindernis in dem Gegenstande selbst vorhanden ist. Ähnlich ist es mit einem Hause. Wenn kein innerer Umstand in der Sache und keiner in dem Baumaterial das Werden des Hauses verhindert, und nichts hinzuzutreten, nichts beseitigt oder geändert zu werden braucht, dann ist dies potentiell ein Haus. Ganz so ist es auch bei den übrigen Dingen, die das Prinzip ihrer Entstehung in einem Äußeren haben. Was dagegen das Prinzip seiner Entstehung in sich selbst hat, dafür gilt die Bestimmung, daß es potentiell ist, sofern es durch sich selbst wird, und kein Äußeres hindernd dazwischen tritt. So ist der Same noch nicht potentiell ein Mensch, denn er bedarf noch eines anderen Organismus und muß hier erst eine Reihe von Umwandlungen durchmachen. Wenn aber etwas schon durch sein eigenes inneres Prinzip von der Beschaffenheit ist, daß es sich zu verwirklichen vermag, dann ist es schon als solches potentiell. Jenes dagegen, der Same, bedarf noch eines zweiten Prinzips. So ist auch Erde noch nicht potentiell eine Bildsäule; sie muß sich erst umwandeln und zu Erz werden.

Was wir nun so als potentiell bezeichnen, das stellt sich, wenn es aktuell wird, dar nicht als dieser bestimmte Stoff selbst, sondern als aus dem Stoff bestehend. So ist der Kasten nicht Holz, sondern von Holz, und das Holz wieder nicht Erde, sondern von Erde, und Erde wieder ist, falls es sich mit[151] ihr ebenso verhält, nicht irgend ein drittes, sondern von einem dritten. Jedesmal aber ist dieses andere in der Reihenfolge Spätere im eigentlichen Sinne potentiell. So ist der Kasten nicht von Erde, auch nicht Erde, sondern von Holz. Das Holz ist potentiell ein Kasten, und so ist es des Kastens Materie; das Holz ist die Materie eines Kastens schlechthin, und dieses bestimmte Stück Holz die Materie dieses bestimmten Kastens. Gibt es nun in dieser Reihe ein erstes Glied, was nicht mehr mit Bezug auf ein anderes als aus diesem bestehend bezeichnet wird, so ist dies die Urmaterie. So wäre, wenn Erde aus Luft bestände, Luft aber zwar nicht Feuer wäre, aber aus Feuer bestände, Feuer die Urmaterie, und wenn es dann eine bestimmte Beschaffenheit annähme, so würde es damit zur Substanz. Denn das macht den Unterschied des Allgemeinen und des Substrats, daß dieses bestimmtes Einzelwesen ist, jenes nicht. Es ist damit ganz ähnlich, wie das Substrat für die Attribute ein Mensch nach Leib und Seele bildet, und literarisch gebildet oder von bleicher Farbe zu sein seine Eigenschaften sind. Tritt an das Substrat das Gebildetsein heran, so wird dies Substrat nicht etwa Bildung genannt, sondern gebildet, und so heißt auch der Mensch nicht die bleiche Farbe, sondern bleich, und nicht Gang oder Bewegung, sondern gehend oder bewegt, gerade wie dort etwas nach einem Stoffe bezeichnet wurde. Wo nun in dieser Weise an ein Substrat eine Bestimmung herantritt, da ist das letzte Ergebnis ein substantiell Seiendes; wo es sich nicht so verhält, sondern das Ausgesagte eine Form und nähere Bestimmtheit ist, da ist das letzte, bei dem man anlangt, eine Materie und ein materiell Seiendes. Es ergibt sich also, daß es seinen guten Sinn hat, wenn der Gegenstand bezeichnet wird nach seiner Materie wie nach seinen Attributen in der abgeleiteten Wortform. Denn beides, die Materie wie die Attribute, ist noch ein Unbestimmtes.

So viel über die Frage, wann etwas potentiell genannt werden darf, wann nicht.

Aus den Bestimmungen, die wir früher über die verschiedenen Bedeutungen des Begriffes »vorangehen« gegeben haben, ergibt sich, daß die Aktualität der Potentialität vorangeht, und zwar der Potentialität nicht nur ihrem strengen Begriffe nach, wonach sie das Prinzip der Veränderung in einem anderen oder sofern es als anderes genommen wird bedeutet, sondern daß sie ganz allgemein jedem Prinzip der Bewegung wie der Ruhe vorangeht. Denn auch die innere Anlage fällt unter den Begriff der Potentialität. Sie ist ein Prinzip der Bewegung, freilich der Bewegung nicht in einem anderen, sondern in dem Wesen selbst, insofern es dieses Wesen ist. Jeder[152] solchen Potentialität also geht die Aktualität dem Begriffe nach und dem Wesen nach voran; auch der Zeit nach, wenigstens in gewissem Sinne; in anderem Sinne freilich wieder nicht.

Zunächst, daß sie dem Begriffe nach vorangeht, leuchtet von selber ein. Denn das ursprünglich mit Potentialität Ausgestattete hat Potentialität insofern, als es zur Aktualität zu gelangen vermag, wie z.B. Baumeister ist, wer zu bauen vermag, Sehkraft hat, wer zu sehen vermag, und sichtbar ist, was gesehen werden kann. Das gleiche begriffliche Verhältnis herrscht auch in allem anderen. Mithin ist der Begriff des Aktuellen notwendig der ursprünglichere, und wer den Begriff des Potentiellen erfassen will, der muß zuvor den Begriff des Aktuellen erfaßt haben.

Aber auch der Zeit nach geht das Aktuelle voran. Damit hat es folgende Bewandtnis. Es geht zeitlich voran das Aktuelle, das generisch, nicht numerisch mit dem Potentiellen identisch ist. Was damit bedeutet werden soll, ist folgendes: Der Zeit nach früher als dieser jetzt aktuell existierende Mensch, oder als das Korn, oder als das Sehende, ist die Materie, der Same, das Sehfähige, also das, was Mensch, Korn, sehend potentiell, aber noch nicht aktuell ist. Der Zeit nach früher als dieses aber ist dann wieder anderes Aktuelles, woraus jenes erst geworden ist. Denn das Werden vollzieht sich jedesmal so, daß aus dem potentiell Seienden das aktuell Seiende wird vermittels eines aktuell Seienden; so wird der Mensch durch einen Menschen, der literarisch Gebildete durch einen literarisch Gebildeten, indem immer ein Ursprüngliches vorhanden ist, das die Bewegung anregt; was aber die Bewegung anregt, ist bereits aktuell.

In unseren Ausführungen über die Substanz haben wir dargelegt, daß jegliches was wird, zu etwas wird aus etwas und durch etwas, und zwar durch solches, was der Form nach mit ihm identisch ist. Daraus leuchtet die Unmöglichkeit ein, daß einer ein Bauverständiger sei, ohne je etwas gebaut, oder ein Zitherspieler, ohne je Zither gespielt zu haben. Denn wer Zither spielen lernt, der lernt Zither spielen dadurch, daß er Zither spielt, und so ist es auch sonst überall beim Erlernen von etwas. Das nun bietet den Anlaß für den sophistischen Trugschluß, wonach einer dasjenige, was einen Gegenstand der Kenntnis bildet, macht, noch ehe er die Kenntnis der Sache besitzt; denn so lange einer noch lernt, besitzt er diese Kenntnis noch nicht. Indessen, darauf ist zu erwidern, daß von dem, was werden soll, immer schon etwas geworden sein, und überhaupt von dem, was in Bewegung gesetzt werden soll, schon etwas zur Bewegung gelangt sein muß;[153] – wie das zu verstehen ist, haben wir in der Abhandlung über die Bewegung klargelegt. – So muß denn auch der Lernende doch wohl schon etwas von der zu erwerbenden Kenntnis besitzen. Auch in diesem Sinne also leuchtet es ein, daß die Aktualität auch hier der Potentialität dem Entstehen nach und der Zeit nach vorangeht.

Dasselbe gilt nun auch von der Priorität dem Wesen nach. Zuerst deshalb, weil das was der Entstehung nach das Spätere ist, der Form und dem Wesen nach vielmehr das Frühere ist. So ist der Mann früher als das Kind und der Mensch früher als der Same; denn jenes hat schon die Form, dieses hat sie noch nicht. Sodann, weil alles was wird, die Richtung auf das hin innehält, was sein Prinzip und Zweck ist. Denn Prinzip ist eben das, um dessen willen etwas geschieht, und das Werden vollzieht sich um des Zweckes willen; der Zweck aber ist die Aktualität, und um seinetwillen erlangt etwas Potentialität. Nicht um Sehkraft zu haben, sehen die lebenden Wesen, sondern um zu sehen besitzen sie Sehkraft. Baukunde hat man, um zu bauen, und Verstand um zu verstehen, aber nicht umgekehrt. Man versteht auch nicht, um Verstand zu haben, es sei denn, daß man das Verstehen bloß zur Übung betreibt. Wer sich aber bloß im Verstehen übt, der ist nicht auf die Sache gerichtet; dem gilt es nur erst um die Übung, und es ist nicht der Gegenstand, der den Antrieb zum Verstehen liefert.

Die Materie ferner ist potentiell, weil sie zur Form noch erst gelangen soll; ist sie aktuell, so ist sie schon geformt. Und so ist es auch bei allem übrigen, auch da, wo der Zweck in der Bewegung selbst liegt Die Natur macht es daher ebenso, wie die Lehrer, die ihren Zweck erreicht zu haben glauben, wenn sie den Schüler in wirklicher Ausübung der Tätigkeit darstellen. Wäre es anders, so würde die Sache auf ein Gleichnis zum Hermes des Pauson hinauslaufen [der in durchsichtigem Gestein eingeschlossen war]; denn es würde auch bei der erlangten Kenntnis ebenso wie es beim Hermes der Fall ist, unerkennbar bleiben, ob sie drinnen steckt oder draußen ist. Das fertiggestellte Werk ist der Zweck, und die Aktualität ist eben das fertige Werk. Deshalb nennt man die Aktualität nach dem Akte, und worauf der Prozeß hinausläuft, das ist die Entelechie, die Vollendung des Seins nach seiner Bestimmung.

In manchen Fällen nun ist dem Vermögen gegenüber das letzte bloß der wirkliche Gebrauch, so dem Sehvermögen gegenüber das wirkliche Sehen, und es gibt kein anderes Werk, das von dem Sehvermögen hervorgebracht würde außer dem Sehen. In anderen Fällen dagegen wird noch etwas hervorgebracht[154] außer der Tätigkeit; so von der Baukunst neben der Tätigkeit des Bauens das Gebäude, in jenem Falle ist gleichwohl der Gebrauch des Vermögens deshalb nicht weniger Zweck, weil er mit der Tätigkeit zusammenfällt; in diesem ist er wenigstens in höherem Grade Zweck als das Vermögen. Denn die Tätigkeit des Bauens ist gleichsam aufbewahrt in dem was gebaut wird; sie vollzieht sich und existiert zugleich mit dem Gebäude. In allen den Fällen nun, wo neben dem Gebrauche des Vermögens noch ein anderes da ist, das hervorgebracht wird, liegt die Aktualität in dem Hervorgebrachten: so hat das Bauen seine Aktualität in dem Gebauten, das Weben in dem Gewebten, und ebenso ist es in den übrigen Fällen; überhaupt hat die Bewegung ihre Aktualität in dem bewegten Gegenstand, in den Fällen dagegen, wo es nicht neben der Tätigkeit noch ein fertiges Werk gibt, liegt die Aktualität in dem Träger des Vermögens selbst; so das Sehen in dem Sehenden, das Verstehen in dem Verstehenden, das Leben in der Seele, und so gilt es auch von der Glückseligkeit, die nur ein Leben von besonderer Beschaffenheit ist.

Es wird dadurch klar geworden sein, daß das Wesen und die Form Aktualität sind. Demnach ist es auch unter diesem Gesichtspunkte klar, daß die Aktualität dem Wesen nach der Potentialität vorangeht, und wie wir gesagt haben: jeder Aktualität geht der Zeit nach eine andere Aktualität vorher, bis man zu dem gelangt, was ewig das ursprüngliche Prinzip aller Bewegung ist.

Aber das gilt nun auch in einem noch höheren Sinne. Das Ewige ist dem Wesen nach früher als das Vergängliche, und nichts was ewig ist, hat bloß potentielles Sein. Der Grund ist dieser: Jedes Vermögen ist das Vermögen des einen und des Gegenteils zugleich. Was nun überhaupt keine Möglichkeit der Existenz hat, das würde in keinem Falle existieren; was aber diese Möglichkeit hat, das hat auch die Möglichkeit, nicht wirklich zu werden. Also hat das, was bloß potentiell ist, ebensowohl die Möglichkeit nicht zu sein wie die zu sein, und es ist eines und dasselbe, was die Möglichkeit hat zu sein und nicht zu sein. Von dem aber, was die Möglichkeit hat nicht zu sein, gilt es, daß es möglicherweise nicht ist. Was aber möglicherweise nicht ist, das ist vergänglich, sei es schlechthin vergänglich, sei es in der bestimmten Beziehung vergänglich, in welcher für dasselbe die Möglichkeit offen bleibt, daß es nicht sei, also z.B. in Beziehung auf den Ort oder auf die Quantität oder auf die Qualität. Vergänglich schlechthin aber heißt das, was seinem ganzen Dasein nach vergänglich ist. Was also schlechthin unvergänglich ist,[155] das kann nichts schlechthin Potentielles sein; aber allerdings nichts hindert, daß es in bestimmter Beziehung potentiell sei, z.B. nach bestimmter Qualität oder nach bestimmter Örtlichkeit in jeder anderen Beziehung also ist es aktuell.

Ebensowenig nun wie das was ewig ist kann das was notwendig ist potentiell sein. Das Notwendige aber ist doch das Ursprüngliche; denn wäre dieses nicht, so wäre überhaupt nichts. Also kann auch die Bewegung, falls es ewige Bewegung gibt, nicht potentiell sein, und ebensowenig kann ein Bewegtes, wenn es ewig ist, nur der Potentialität nach ein Bewegtes sein; es sei denn in bezug auf das Woher und Wohin. Daß es eine Materie dafür gebe in bezug auf die Richtung der Bewegung, das ist allerdings nicht ausgeschlossen. Deshalb kommt der Sonne und den Gestirnen und kommt dem Universum überhaupt ewige Aktualität zu, und man braucht sich nicht bange machen zu lassen, daß der Himmel einmal zum Stillstand kommen möchte, wie die Naturgelehrten besorgen. Es kostet diesen Wesen auch keine Mühe, was sie leisten. Denn ihre Bewegung beruht nicht darauf, daß das eine ebensowohl wie sein Gegenteil möglich ist, wie bei den vergänglichen Dingen, so daß ihnen die Kontinuität der Bewegung zu erhalten eine Anstrengung verursachte. Daß solche Anstrengung sonst für die Dinge erforderlich ist, das liegt daran, daß ihr Wesen Potentialität und Materie, nicht Aktualität ist.

Ein Abbild des Unvergänglichen nun bietet auch das, was in steter Veränderung begriffen ist wie Erde und Feuer; denn auch dieses ist in beständiger Tätigkeit und hat die Bewegung an sich und in sich. Die anderen Vermögen aber sind sämtlich, wie früher nachgewiesen worden ist, Vermögen zu dem einen wie zum Gegenteil, und was sich in dieser Weise zu bewegen vermag, das hat auch das Vermögen, sich nicht in dieser Weise zu bewegen. Gilt dies von dem Vermögen, das mit Vernunft verbunden ist, so werden dagegen die Vermögen, die nicht mit Vernunft verbunden sind, sich immer gleich verhalten, je nachdem die entgegengesetzten Bedingungen, das was die Wirkung übt und das was sie erleidet, eintreten oder nicht.

Wenn demnach Wesen als selbständige Existenzen von der Art bestehen wie die Verselbständiger der Begriffe sie als Ideen aufstellen, so wäre die Folge, daß es etwas gibt, was viel mehr wissenschaftliche Erkenntnis besäße als die Idee der Erkenntnis selber, und etwas, was viel mehr bewegt wäre als die Idee der Bewegung selber. Denn jene konkreten Dinge hätten[156] einen höheren Grad von Aktualität, die Ideen aber stellten die bloße Potentialität zu ihnen dar.

Daß die Aktualität der Potentialität und jedem Prinzip der Veränderung vorangeht, ist so unser gesichertes Ergebnis. Daß aber auch der Potentialität als dem Vermögen zum Guten gegenüber die Aktualität das Höhere und Wertvollere ist, geht aus folgender Erwägung hervor. Was nach dem ihm innewohnenden Vermögen bezeichnet wird, hat als eines und dasselbe das Vermögen zu dem Einen und zum Entgegengesetzten; so hat eben dasselbe, von dem das Vermögen gesund zu sein ausgesagt wird, auch die Möglichkeit krank zu sein, und beide Möglichkeiten hat es zugleich. Denn eigentlich ist es eine und dieselbe Möglichkeit, die Möglichkeit gesund und die krank zu sein, zu ruhen und sich zu bewegen, zu bauen und einzureißen, aufgebaut zu werden und einzustürzen. Während also das Vermögen zu Entgegengesetztem zu gleicher Zeit besteht, ist es ausgeschlossen, daß das Entgegengesetzte zugleich wirklich sei; ausgeschlossen also ist auch das Zugleichsein von wirklichen Zuständen wie Gesundsein und Kranksein. Nun kann das Gute notwendig nur das eine der beiden entgegengesetzten sein, schließt also das Schlechte aus, während das Vermögen ebenso das Vermögen zum Guten wie zum Schlechten oder zu keinem von beiden ist. Mithin ist die Aktualität das Bessere. Und ebenso ist denn auch notwendigerweise, wo das Schlechte in Betracht kommt, die Vollendung und die Aktualität der Potentialität gegenüber das Schlechtere. Denn solange etwas bloß potentiell ist, sind bei demselben beide Gegensätze, das Gute wie das Schlechte, möglich. Es ergibt sich daraus auch dies, daß das Schlechte nicht etwas Selbständiges neben den Dingen ist. Denn das Schlechte ist von Natur später als das Vermögen, das ebenso das Vermögen zum Guten wie zum Schlechten ist. In den obersten Prinzipien und in dem Ewigen ist mithin kein Platz für das Schlechte, kein Verfehlen noch Verderbnis. Denn auch die Verderbnis gehört zu dem Schlechten.

Der Weg durch die Aktualität ist es auch, auf dem man die Eigenschaften der geometrischen Gebilde findet. Man findet sie nämlich durch Linienziehen. Wären die Linien schon gezogen, so läge der Satz schon offen zu Tage; aber die Linien sind zunächst bloß potentiell vorhanden. Warum z.B. beträgt die Winkelsumme im Dreieck 2 Rechte? Weil die Winkel um einen Punkt gleich 2 Rechten sind. Wäre nun die Parallele zu der einen Seite schon gezogen, so wäre die Sache auf den ersten Blick klar. Oder warum ist ganz allgemein der Winkel im Halbkreis ein rechter? Weil,[157] wenn wir drei gleiche Linien haben, von denen zwei die Basis bilden und die dritte von dem Mittelpunkt zum Scheitel des Winkels gezogen ist, ein Blick auf die Figur dem, der Bescheid weiß, die Sache klar macht. Es wird also offenbar der Satz gefunden, indem das potentiell Vorhandene zur Aktualität gebracht wird. Der Grund ist der, daß die Aktualität Gedanke ist. Die Potentialität stammt also aus der Aktualität, und deshalb gelangt man zur Erkenntnis durch ein Wirklichmachen. Denn die Aktualität als die zahlenmäßige Bestimmung ist im Vorgang des Erkennens das Spätere.[158]

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 149-159.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Metaphysik
Universal-Bibliothek Nr. 7913; Metaphysik: Schriften zur ersten Philosophie
Metaphysik XII: Text griechisch-deutsch
Metaphysik
Metaphysik. Bücher VII und VIII: Griechisch-deutsch (suhrkamp studienbibliothek)
Aristoteles' Metaphysik. Bücher I(A) - VI(E). Griechisch-Deutsch.

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon