4. Einteilung und Objekt der Wissenschaft

[220] Jede Wissenschaft ist auf die Erforschung von Prinzipien und Gründen für die in ihr Gebiet fallenden Gegenstände gerichtet; so die Wissenschaft der Medizin und der Gymnastik, so jede andere Wissenschaft technischer[220] oder rein theoretischer Art. Jede derselben umschreibt für sich ein bestimmtes Reich von Objekten und erforscht dasselbe als ein wirklich Vorhandenes und Seiendes, aber nicht als Seiendes schlechthin; damit beschäftigt sich vielmehr eine andere, von jenen verschiedene Wissenschaft. Jede der Wissenschaften, die wir genannt haben, faßt das Wesen der Dinge in einem einzelnen unter den Reichen von Objekten ins Auge und unternimmt es, daraus das Übrige in lockerem oder strengerem Verfahren abzuleiten. Die einen ergreifen das Wesen der Sache vermittelst der äußeren Wahrnehmung, die anderen auf Grund innerer Annahmen; schon aus einer derartigen Induktion geht deshalb klar hervor, daß für das Wesen und den Begriff der Sache ein Beweis nicht zu führen ist.

Wenn es nun eine Wissenschaft gibt, die sich mit der Natur beschäftigt, so wird sie eine andere sein müssen als die Wissenschaft, die es mit den Handlungen der Menschen und als diejenige, die es mit ihrer schaffenden Tätigkeit zu tun hat. Für die Wissenschaft von der schaffenden Tätigkeit ist es charakteristisch, daß das Prinzip des Hervorbringens in dem Hervorbringenden, nicht in dem Hervorgebrachten liegt; solches Prinzip ist, sei es eine Fertigkeit, sei es sonst irgend ein Vermögen. Ebenso liegt auf dem Gebiete der Wissenschaft von den Handlungen der Menschen der Ausgangspunkt der Bewegung nicht in dem Gegenstande, worauf die Tätigkeit sich richtet, sondern in dem Handelnden. Dagegen beschäftigt sich der Naturforscher mit denjenigen Gegenständen, die das Prinzip ihrer Bewegung in sich selbst tragen. Daraus geht hervor, daß die Wissenschaft von der Natur notwendig weder eine Wissenschaft vom handelnden Leben noch von der schaffenden Tätigkeit, sondern eine rein theoretische Wissenschaft ist. Denn eine dieser Klassen ist es, unter die sie notwendig fallen muß.

Da nun jede Wissenschaft das Wesen des Gegenstandes irgendwie kennen und dieses als ihren Ausgangspunkt verwenden muß, so dürfen wir nicht unerörtert lassen, wie der Naturforscher das Wesen zu bestimmen und wie er den Begriff der Sache zu ergreifen hat, also ob etwa in der Weise wie man vom Stumpfnasigen, oder ob vielmehr in der Weise wie man vom Stumpfen handelt. Von diesen beiden Begriffen nämlich wird bei dem einen, dem Begriff des Stumpfnasigen, die Verbindung mit der Materie des konkreten Gegenstandes ins Auge gefaßt, wogegen beim Begriff des Stumpfen von der Materie abgesehen wird. Zur Stumpfnasigkeit gehört aber eine Nase, und darum wird ihr Begriff in Verbindung mit dieser gedacht; denn Stumpfnasigkeit bedeutet eben die Stumpfheit einer Nase.[221]

Offenbar nun, daß auch, wo es sich um den Begriff des Fleisches, des Auges oder überhaupt eines Gliedes handelt, immer die Verbindung mit der Materie mitgedacht werden muß.

Nun gibt es aber auch eine Wissenschaft vom Seienden als Seienden und für sich Abgetrennten; es gilt also zu untersuchen, ob man die Wissenschaft von der Natur als eine Wissenschaft von eben dieser Art oder vielmehr als eine davon verschiedene anzusehen hat. Das Objekt der Naturwissenschaft bildet dasjenige, was das Prinzip seiner Bewegung in sich selber trägt; die Mathematik aber ist zwar auch eine theoretische Wissenschaft und hat zum Objekte solches, was verharrt, aber andererseits doch solches, was nicht abgetrennt für sich besteht. Mithin gibt es eine von diesen beiden verschiedene Wissenschaft, die zum Objekte das hat, was abgetrennt für sich besteht und unbewegt ist, vorausgesetzt, daß es eine Wesenheit von dieser Beschaffenheit, ich meine eine für sich abgetrennt bestehende und unbewegte Wesenheit überhaupt gibt, und das zu zeigen werden wir versuchen. Findet sich also unter dem was ist eine Wesenheit von dieser Art, so würde damit auch wohl das Göttliche gegeben sein, und dies würde dann das oberste und machtvollste Prinzip sein.

Soviel nun ist offenbar, es gibt drei Arten von theoretischen Wissenschaften: die Naturwissenschaft, die Mathematik und die Wissenschaft von Gott. Wie nun die theoretischen Wissenschaften den höchsten Rang unter den Wissenschaften einnehmen, so steht unter ihnen wieder am höchsten die zuletzt genannte. Denn ihr Objekt bildet das Herrlichste unter allem was ist; jede Wissenschaft aber empfängt ihren höheren oder geringeren Rang jedesmal von dem Objekt, das ihr zugehört.

Es läßt sich die Frage aufwerten, ob man die Wissenschaft vom Seienden als solchen als die allgemeine Grundlage aller Wissenschaften bezeichnen darf oder nicht. Unter den mathematischen Wissenschaften behandelt eine jede ein bestimmt abgegrenztes Objekt; allen aber gemeinsam zugrunde liegt eine allgemeine Wissenschaft. Wären nun die in der Natur gegebenen Wesenheiten die obersten unter dem was ist, so würde auch die Naturwissenschaft die oberste unter den Wissenschaften sein. Gibt es dagegen ein davon verschiedenes Wesen von selbständiger Existenz, das für sich abgetrennt besteht und unbeweglich ist, so muß notwendig auch die Wissenschaft von ihm eine andere sein; sie muß den Rang vor der Naturwissenschaft behaupten und die allgemeine Grundwissenschaft sein deshalb, weil sie die an Rang höhere ist.[222]

Vom Seienden schlechthin spricht man in mehreren Bedeutungen, und 8 die eine davon ist die des akzidentiell Seienden. Es ist darum zunächst das Seiende in diesem Sinne näher zu betrachten. Sicher nun ist, daß keine der Wissenschaften, die wir überkommen haben, sich mit dem akzidentiell Seienden beschäftigt. So macht die Wissenschaft von der Baukunst nicht zum Gegenstande ihrer Untersuchung, was den das Gebäude Bewohnenden dereinst etwa zustoßen könnte, z.B. ob ihnen, während sie es bewohnen, ein trauriges Schicksal oder das Gegenteil zuteil werden wird, und ebensowenig bekümmert sich um dergleichen die Wissenschaft von der Webekunst oder von der Schuhmacherei oder von der Kochkunst. Vielmehr jede dieser Wissenschaften hat es allein mit dem zu tun, was jedesmal ihre besondere Aufgabe ist, und das ist die ihr eigentümliche Bestimmung ihres Gegenstandes. Auch nicht ob ein Kunstkenner auch zugleich ein Sprachgelehrter ist; oder ob derjenige, der ein Kunstkenner ist, deshalb weil er ein Sprachgelehrter geworden ist, nachdem er es vorher nicht gewesen war, nunmehr beides zugleich ist; ob was ein nicht immer Seiendes ist, geworden sein muß, so daß jener also zugleich ein Kunstkenner und ein Sprachgelehrter geworden wäre: mit Fragen von dieser hohen Bedeutung gibt sich keine der Wissenschaften ab, die es zugestandenermaßen sind; das tut vielmehr nur die Sophistik. Denn diese allein beschäftigt sich mit dem Akzidentiellen, und deshalb ist Platos Bemerkung gar nicht so übel, wenn er sagt, der Sophist tummle sich in dem herum, was nicht ist.

Daß es aber auch ganz ausgeschlossen ist, daß es eine Wissenschaft vom Akzidentiellen gebe, wird klar werden, wenn man versucht sich zu vergewissern, was denn nun eigentlich das Akzidentielle bedeutet. Wir sagen von jeglichem, teils daß es ewig und mit Notwendigkeit sei – mit Notwendigkeit nicht im Sinne eines äußeren Zwanges, sondern in dem Sinne wie wir das Wort da gebrauchen, wo es sich um logisches Beweisverfahren handelt - , teils daß es der Regel nach sei, teils daß es auch nicht einmal der Regel nach, noch immer und mit Notwendigkeit, sondern rein zufällig sei. So kann es vorkommen, daß in den Hundstagen Frost eintritt, aber das tritt nicht ein als ein immer und mit Notwendigkeit, auch nicht als ein regelmäßig Vorkommendes; es kann sich aber wohl einmal so treffen. So ist denn das Akzidentielle ein solches, was wohl vorkommt, was aber nicht immer, noch mit Notwendigkeit, noch in der Regel geschieht. Wenn damit bezeichnet ist, was unter dem Akzidentiellen zu verstehen ist, so wird daraus dann auch klar, weshalb es von dergleichen keine Wissenschaft gibt. Denn[223] alle Wissenschaft hat zum Gegenstande das was immer oder das was in der Regel ist; das Akzidentielle aber gehört zu keiner dieser beiden Klassen. Und so leuchtet auch ein, daß es von dem, was nur im Sinne des Akzidens existiert, keine Ursachen und Prinzipien in der gleichen Bedeutung gibt, wie von dem was ein selbständig Seiendes ist. Denn so würde alles ein Notwendiges sein. Wenn nämlich das eine deshalb ist, weil das andere ist, dieses aber wieder, weil ein drittes ist, und dieses letztere nicht durch Zufall, sondern aus Notwendigkeit ist, so stammt auch alles das, wofür dieses die Ursache war, aus Notwendigkeit bis auf das letzte Endglied, das als ein Verursachtes bezeichnet war. Dieses aber sollte doch ein Akzidentielles sein. Mithin würde alles aus Notwendigkeit sein, und die Alternative des zufälligen Eintreffens, die Möglichkeit daß etwas eintrete oder nicht eintrete, würde völlig aus dem Geschehen in der Welt beseitigt werden.

Dasselbe aber würde die Folge sein, wenn man als Ursache setzen wollte solches was nicht ist, aber wird; auch so würde alles was geschieht mit Notwendigkeit geschehen. Denn der Verlauf ist der: die morgige Finsternis wird eintreten, wenn dieses Bestimmte sich ereignet, und dieses wieder, wenn etwas anderes, und ebenso dieses, wenn ein anderes geschieht. Auf diese Weise wird man also, indem man von dem begrenzten Zeitraum, der zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und dem morgenden Tag liegt, ein Stück nach dem andern abzieht, zuletzt bei dem gegenwärtigen Augenblick anlangen. Und mithin wird, da dies jetzt so ist, alles was nach diesem Augenblick geschieht, mit Notwendigkeit geschehen, und alles also wird sich mit Notwendigkeit ereignen, was künftig geschieht.

Dasjenige, was im Sinne der wahren Aussage wahr ist und als Akzidentielles einem Subjekt zukommt, ist von zweierlei Art. Das eine beruht auf der verbindenden Tätigkeit des Gedankens und bildet eine Bestimmtheit in demselben. Deshalb ist die Frage nicht die nach den Prinzipien für das in diesem Sinne Seiende, dagegen wohl nach denen für die abgesondert für sich bestehenden Außendinge. Das andere dagegen ist nicht notwendig, sondern unbestimmt; damit bezeichne ich das Akzidentielle in engerem Sinn. Für die Ursachen von diesem ist weder Ordnung noch Grenze gesetzt.[224]

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 220-225.
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