e) Schamhaftigkeit

[93] Die Schamhaftigkeit kommt eigentlich da nicht in Betracht, wo von den Arten sittlicher Willensrichtung die Rede ist; denn sie trägt mehr den Charakter einer Empfindungsweise als den einer fest gewordenen Gesinnung. Man bezeichnet sie begrifflich als Furcht vor Minderung der persönlichen Ehre, und in der Tat, wo sie in voller Form auftritt, zeigt sie Erscheinungen, die der Furcht vor etwas Schmerzlichem nahe verwandt sind; man wird rot vor Scham, wie man blaß wird aus Todesfurcht. Beides stellt sich als leibliche Affektion dar, und das deutet doch mehr auf eine Gefühlsstimmung als auf eine Art von Gesinnung hin. Als Gefühlsstimmung nun ist sie nicht jedem Lebensalter gleich angemessen. Sie ziemt zumeist dem jugendlichen Alter; von den Jungen glauben wir Schamhaftigkeit fordern zu müssen, weil sie, indem sie noch ihrem Gefühle nachleben, vielfach auf Abwege geraten, durch die Scham aber zurückgehalten werden. So gewähren wir denn schamhaften jungen Leuten unser Lob; einen älteren Mann wird niemand wegen seines schämigen Wesens loben wollen; denn wir meinen, er dürfe überhaupt nichts tun, was Anlaß bietet sich zu schämen. Scham ist kein Gefühl des bewährten Mannes; sie hat ihren Grund in niedrigen Dingen, und solche soll man sich eben nicht zuschulden kommen lassen. Wenn es aber solches gibt was in Wirklichkeit, und solches was nur der Konvention nach verwerflich ist, so macht das hierfür keinen Unterschied. Man darf sich keines[93] von beiden erlauben; dann erspart man es sich, daß man sich schämen muß. Es ist schon ein Beweis unziemlicher Gesinnung, wenn man überhaupt imstande ist etwas zu tun, dessen man sich zu schämen hat. Darum hat es auch keinen Sinn, wenn einer die Haltung annimmt, daß er sich schämen würde, falls er dergleichen beginge, und nun meint, er sei deshalb ein ehrenwerter Mann. Denn Grund zur Scham bieten frei gewollte Handlungen, ein ehrenwerter Mann wird aber mit seinem Willen niemals etwas tun was unziemlich ist. So ist denn das Schamgefühl nur bedingterweise etwas Sittliches. Denn falls man dergleichen begangen hat, so schämt man sich; solche Bedingtheit aber ist etwas, was sich von keiner Art sittlicher Willensrichtung sagen läßt. Wenn aber die Schamlosigkeit, das Fehlen der Scheu, um keinen Preis etwas Verwerfliches zu tun, von niedriger Beschaffenheit zeugt, so ist es doch deshalb noch nicht der Beweis einer sittlichen Gesinnung, wenn einer der dergleichen Handlungen begeht, darüber nachträglich Scham empfindet. Ist doch nicht einmal die Enthaltsamkeit ohne weiteres eine Eigenschaft von sittlichem Charakter, sondern von gemischter Art. Doch darüber soll später gesprochen werden; zunächst wollen wir jetzt von der Gerechtigkeit handeln.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 93-94.
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