b) Formelles und Materielles Recht

[109] Das im Staate geltende Recht ist teils von Natur, materielles Recht, teils durch Gesetz gegeben, positives Recht. Von Natur gegeben ist das, was[109] allerorten die gleiche Bedeutung hat und sie nicht erst dadurch erlangt, daß es den Menschen so beliebt oder nicht beliebt; durch Gesetz gegeben dagegen ist das, was ursprünglich ebensogut so oder auch anders bestimmt sein könnte, was aber, wenn eine Bestimmung einmal getroffen ist, so und nicht anders zu behandeln ist, z.B. der Satz, daß das Lösegeld für den Kriegsgefangenen eine Mine betragen soll, oder daß man eine Ziege und nicht zwei Schafe zu opfern hat, und was sonst an gesetzlichen Bestimmungen für die speziellen Beziehungen getroffen wird, wie das Gebot, dem Brasidas zu opfern, oder solches was die Manier von Volksbeschlüssen an sich trägt.

Manche nun sind der Meinung, alles Recht sei von dieser Art, also positives Recht, weil das was von Natur gilt unveränderlich sei und überall seine Geltung behaupte, wie das Feuer ebensogut hierzulande wie in Persien brennt, während doch das geltende Recht erfahrungsgemäß veränderlich ist. Indessen, so liegt die Sache doch nicht; oder doch nur mit Einschränkung darf man so sagen. Bei den Göttern freilich ist sicher die Veränderlichkeit ausgeschlossen; bei uns Menschen dagegen gibt es wohl auch solches, was von Natur ist, aber veränderlich ist gleichwohl alles: und trotzdem ist das eine von Natur, das andere nicht von Natur. Welche Kennzeichen nun unter dem was auch anders sein könnte dasjenige hat, was von Natur gilt, welche dasjenige, was nicht von Natur gilt, sondern nur durch Gesetz und Konvention besteht, während doch beides gleichmäßig der Veränderung unterliegt, darüber ist es gar nicht so schwer sich zu verständigen. Paßt doch die gleiche Unterscheidung auch auf ganz andere Fälle. So ist von Natur die rechte Hand die stärkere; das schließt aber gleichwohl die Möglichkeit nicht aus, daß alle Menschen beide Hände gleich gut gebrauchen könnten.

Mit den positivrechtlichen Bestimmungen also, die auf Satzung beruhen und die das Zweckmäßige im Auge haben, verhält es sich ganz ähnlich wie mit den Maßen. Denn auch die Maße wie die für Wein oder Getreide sind nicht überall dieselben; sie sind größer, wo man im großen einkauft, und kleiner, wo man im kleinen verkauft. Ganz ähnlich sind auch die nicht von Natur geltenden, sondern von Menschen getroffenen rechtlichen Bestimmungen nicht überall dieselben; auch nicht einmal die Verfassungen, während doch, wenn es nach der Natur ginge, bloß eine überall die beste sein müßte.

Jede einzelne rechtliche und gesetzliche Bestimmung hat gegenüber den einzelnen Fällen die Bedeutung des Allgemeinen. Denn die wirklich vorkommenden Fälle sind mannigfach, jede solche Bestimmung aber ist eine und gilt allgemein. Daraus ergibt sich der Unterschied, der zwischen[110] einer unrechtlichen Handlung und dem Unrecht, zwischen einer rechtlichen Handlung und dem Gerechten besteht. Unrecht ist etwas entweder von Natur oder durch Satzung; ebendasselbe ist, wenn es vollbracht worden ist, eine widerrechtliche Handlung; ehe es vollbracht worden ist, ist es das noch nicht, sondern da ist es bloßes Unrecht. Eben dasselbe gilt von der Rechtsübung. Indessen ist es besser, unter der »rechtlichen Handlung« das Rechtliche überhaupt, und unter »Rechtsübung« die Aufhebung eines geschehenen Unrechts insbesondere zu verstehen. Das einzelne darüber, Beschaffenheit und Anzahl ihrer Arten, die Gegenstände, mit denen sie es zu tun haben, das wollen wir gleich im folgenden untersuchen.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 109-111.
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