Drittes Kapitel

[31] Auch kann bei zweideutigen Wörtern, mag der aufgestellte Satz bejahend oder verneinend lauten, der Beweis blos für eine Bedeutung des Wortes geführt werden, sofern es nicht für beide geschehen kann; doch kann davon nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn dem Gegner die Zweideutigkeit verborgen ist; denn wäre sie ihm bekannt, so würde er entgegnen, dass man den Gegenstand nicht so erörtere, wie er selbst ihn auffasse, sondern in einem anderen Sinne.

Von diesem Mittel kann man sowohl bei dem Begründen, wie bei dem Widerlegen Gebrauch machen. Denn will man begründen, so genügt, dass man den Beweis für die eine Bedeutung führt, wenn man es nicht für beide vermag; will man aber widerlegen und zeigen, dass der Satz nicht aufrecht erhalten werden kann, so muss man dies in einer von beiden Bedeutungen thun, wenn man es nicht in beiden vermag. Bei der Widerlegung braucht auch von dem Gegner nichts vorher zugestanden zu werden; denn wenn man zeigt, dass von keinem der Dinge, welche das zweideutige Wort befasst, der Satz ausgesagt werden könne, so wird man schon[31] den allgemein bejahenden Satz widerlegt haben und ebenso wird man den allgemein verneinenden Satz schon widerlegt haben, wenn man zeigt, dass es den betreffenden Dingen in einer Bedeutung des Wortes zukomme. Dagegen muss bei der Begründung man vorher übereinkommen, dass, wenn der bejahende Satz in einer Bedeutung des Wortes richtig sei, er dann in allen Bedeutungen als richtig gelten soll, sofern dies an sich wahrscheinlich ist. Ohne solche Uebereinkunft hilft für den Beweis, dass der Satz allgemeingültig sei, der Beweis desselben in der einen Bedeutung nichts. Will man z.B. beweisen, dass jede Seele unsterblich sei, weil die des Menschen unsterblich ist, so muss man vorher ausmachen, dass, wenn irgend eine Seele als unsterblich nachgewiesen worden, dann dies für alle Seelen gelte. Indess ist dies nicht immer erforderlich, sondern nur dann, wenn man nicht leicht, einen für alle Bedeutungen passenden Beweis zur Hand hat, wie dies bei dem Geometrieverständigen z.B. der Fall bei dem Satze ist, dass das Dreieck in seinen Winkeln zweien rechten gleich ist.

Ist dagegen die Zweideutigkeit des Satzes bekannt, so muss man die verschiedenen Bedeutungen sondern und für jede besonders die Widerlegung oder Begründung beschaffen. Wenn z.B. unter dem, was sich gehört, sowohl das Nützliche, wie das Sittliche verstanden wird, so muss man versuchen, für beide Bedeutungen den aufgestellten Satz zu begründen, oder zu widerlegen; also, dass das, was sich gehört, sowohl sittlich, wie nützlich sei, oder dass es keines von beiden sei. Kann aber der Beweis oder die Widerlegung nicht für beides beschafft werden, so ist der Beweis für die eine Bedeutung zu führen und dabei zu bemerken, dass der Satz in dem einem Sinne wahr sei und in dem anderen nicht. In derselben Weise ist zu verfahren, wenn der Bedeutungen mehr als zwei sind.

Ferner muss man untersuchen, ob der vorliegende Satz, wenn er auch nicht zweideutig ist, doch in anderer Weise einen mehrfachen Sinn habe. So kann z.B. die eine Wissenschaft von Mehrerem handeln, entweder von ihrem Ziele oder von den Mitteln zu diesem Ziele; so handelt z.B. die Heilkunst von den Mitteln, die Gesundheit herbeizuführen, oder von einer gesunden Lebensweise;[32] oder von beiden Zwecken; ebenso handelt die eine Wissenschaft von beiden Gegentheilen (denn das eine Gegentheil ist nicht mehr Zweck für die Wissenschaft, als das andere) oder die eine Wissenschaft handelt von den wesentlichen Bestimmungen ihres Gegenstandes oder auch von den nebensächlichen; so ist der Satz, dass die Summe der Winkel des Dreiecks zweien rechten gleich ist, ein wesentlicher Satz der Geometrie; nebensächlich ist aber der, dass das gleichseitige Dreieck in seinen Winkeln zweien rechten gleich ist; denn nur weil ein Dreieck nebenbei ein gleichseitiges ist, erkennt man auch bei diesem, dass seine Winkel zweien rechten gleich sind. Ergiebt sich nun, dass eine bestimmte Wissenschaft in keiner Beziehung Mehreres befasst, so erhellt, dass sie überhaupt dessen nicht fähig ist; wenn es aber in gewisser Weise stattfindet, so ist klar, dass sie dessen fähig ist. Eintheilen muss man hierbei so weit, als es nöthig ist. Will man z.B. etwas begründen, so muss man nur solche Gegenstände vorführen, auf welche der aufgestellte Satz passt, und die Eintheilung nur so weit vornehmen, als sie für die Begründung dienlich ist. Bei der Widerlegung muss man dagegen solche Gegenstände beibringen, bei denen der Streitsatz nicht passt und das Andere bei Seite lassen. Auch hier ist dies nur ausführbar, wenn die mehrfachen Bedeutungen von dem Gegner nicht gekannt sind.

Ferner muss man die Bejahung und die Verneinung eines Satzes aus denselben Gesichtspunkten begründen; so muss man z.B. bei der Wissenschaft den bejahenden Satz, dass eine Wissenschaft Mehreres befasse, entweder für ihr Ziel, oder für die Mittel dazu, oder für das Nebensächliche begründen, und ebenso den verneinenden Satz, dass die eine Wissenschaft nicht Mehreres befasse, nach denselben Gesichtspunkten rechtfertigen. Dasselbe gilt für die Begierden und Alles, was sonst Mehreres befasst. Denn man begehrt Etwas bald als Endzweck, z.B. die Gesundheit; bald als Mittel zum Endzweck, z.B. die Arznei einzunehmen, bald als ein blos Nebensächliches, wie z.B. der, welcher gern Süsses trinkt, nach Wein verlangt, nicht weil es Wein ist, sondern weil es süss ist; denn an sich begehrt er nur das Süsse und den Wein nur nebenbei; denn wenn der Wein herbe ist, so mag er[33] ihn nicht; daher begehrt er nach dem Wein nur nebenbei. Dieser Gesichtspunkt ist vorzüglich für Beziehungen benutzbar, denn die meisten Fälle dieser Art haben es mit Beziehungen zu thun.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 31-34.
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