Zweites Kapitel

[28] Ein Gesichtspunkt für die Widerlegung eines Streitsatzes, der ein Nebensächliches behauptet, ist der, dass man prüft, ob dieses angeblich Nebensächliche dem Gegenstande nicht vielmehr in einer anderer Weise zukomme. Am meisten wird hier mit den Gattungen gefehlt, z.B. wenn Jemand sagt, dass für das Weiss das Farbe-sein etwas Nebensächliches sei; denn dies ist falsch, vielmehr ist die Farbe seine Gattung. Man kann diesen Fehler auch schon an der Ausdrucksweise erkennen, z.B. wenn es heisst: dass bei der Gerechtigkeit es sich getroffen habe, dass sie eine Tugend sei. Oft ist es auch ohne[28] weitere Unterscheidung klar, dass die Gattung als ein Nebensächliches ausgesagt worden ist, z.B. wenn Jemand sagte, das Weisse sei farbig gemacht worden, oder der Gang werde bewegt. Von keiner Art kann nämlich die Gattung beinamig ausgesagt werden, sondern alle Gattungen werden von ihren Arten einnamig ausgesagt, da die Arten sowohl den Namen, wie den Begriff der Gattung annehmen können. Wenn also Jemand das Weiss gefärbt nennt, so hat er das »gefärbt« nicht als die Gattung angegeben, da er das von dem Weiss ausgesagte nur beinamig ausgedrückt hat und ebenso wenig als ein Eigenthümliches oder als die Definition des Weiss; denn beide letzteren sind in keinem Gegenstande anderer Art enthalten, während doch gar vieles von anderen Arten gefärbt ist, z.B. Holz, Steine, Menschen, Pferde. Daraus erhält, dass in diesem Falle die Gattung als ein Nebensächliches behandelt und ausgesagt worden ist.

Ein anderer Gesichtspunkt in Bezug auf das Nebensächliche ist, dass man die Gegenstände untersucht, von denen etwas allgemein in dem Streitsatze behauptet oder verneint wird. Man muss sich hierbei jedoch auf die Arten beschränken und sich nicht in das endlose Einzelne verlieren; dann ist die Untersuchung mehr auf dem gebahnten Wege und hat es mit weniger Gegenständen zu thun. Man muss deshalb hier bei den obersten Begriffen die Untersuchung beginnen und dann der Reihe nach herabgehen bis zu den nicht mehr theilbaren Arten. Wenn z.B. Jemand behauptet, dass von Gegensätzlichem nur eine Wissenschaft bestehe, so muss man prüfen, ob bei den gegensätzlichen Beziehungen und bei den Gegentheilen und bei dem Gegensatze des Habens und Beraubtseins und bei den sich widersprechenden Gegensätzen überall nur eine Wissenschaft bestehe; und wenn sich hierbei nichts findet, bei welchen mehr als eine Wissenschaft besteht, so sind diese obersten Arten weiter bis zu den nicht weiter theilbaren Unterarten zu sondern. So hat man z.B. zu prüfen, ob es auch für das Gerechte und Ungerechte, oder für das Doppelte und Halbe, oder für die Blindheit und das Gesicht, oder für das Sein und das Nicht-Sein nur eine Wissenschaft giebt. Kann man nun hier bei einem Falle zeigen, dass nicht eine Wissenschaft für gewisse Gegensätze besteht, so wird man den Streitsatz[29] widerlegt haben. Ebenso ist bei verneinenden Streitsätzen zu verfahren. Dieser Gesichtspunkt eignet sich sowohl für das Begründen, wie für das Widerlegen. Denn wenn trotz der von dem Gegner gemachten Eintheilungen der aufgestellte Satz sich in allen oder doch in vielen Fällen bestätigt, so kann man verlangen, dass der Gegner denselben als einen allgemeinen anerkenne, oder dass er einen Fall beibringe, wo es sich nicht so verhalte; thut er keines von beiden, so wäre es unverständig, wenn er den Satz nicht anerkennen wollte.

Ein anderer Gesichtspunkt ist hier, dass man das Nebensächliche und den Gegenstand definirt, entweder beide in Bezug auf einander, oder nur eines für sich, und dann prüft, ob in diesen Begriffen etwas sich nicht so verhält, wie der Gegner behauptet. Wenn es sich z.B. fragt, ob der Gottheit Unrecht gethan werden kann, so hat man zu untersuchen, was das Unrecht thun ist und wenn es in dem freiwilligen Verletzen besteht, so erhellt, dass man der Gottheit nicht Unrecht thun kann, weil man sie nicht verletzen kann. Ebenso, wenn es sich fragt, ob der gute Mensch neidisch sei, so hat man zu ermitteln, was der Neidische und was der Neid ist? Ist nun der Neid ein Schmerz über das anscheinende Wohlbefinden eines guten Menschen, so ist klar, dass der gute Mensch nicht neidisch ist, denn er wäre sonst schlecht. Und wenn es sich fragt, ob der Unwillige neidisch sei, so ermittele man, wer ein Unwilliger und wer ein Neidischer ist; dann wird sich ergeben, ob der Satz wahr oder falsch ist; wenn z.B. der Neidische der ist, welcher über das Wohlergehen der guten Menschen Schmerz empfindet, und wenn der Unwillige der ist, welcher über das Wohlergehen der schlechten Menschen Schmerz empfindet, so ist klar, dass der Unwillige nicht neidisch ist. Man muss auch von den in den Begriffen gebrauchen Worten die Begriffe ermitteln und nicht ruhen, bis man zur Klarheit gelangt ist; denn manchmal ergiebt sich aus dem vollständigen Begriffe noch nicht das Gesuchte; setzt man aber statt eines in dem Begriffe gebrauchten Wortes dessen Begriff, so ergiebt sich der Fehler.

Auch muss man aus dem Streitsatze sich selbst einen Satz bilden und dagegen dann einen Einwurf erheben; denn solche Einwürfe sind dann auch ein Angriff gegen[30] den Streitsatz. Dieser Gesichtspunkt ist beinahe derselbe mit dem, wonach man die einzelnen Gegenstände untersuchen soll, über die ein allgemeiner bejahender oder verneinender Satz aufgestellt worden ist; der Unterschied liegt nur in der Form.

Auch muss man unterscheiden, was man ebenso, wie die Menge, benennen kann, und was nicht so. Es nützt dies sowohl zur Begründung, wie zur Widerlegung eines Satzes. So hat man z.B. die Dinge mit denselben Namen, wie die Menge zu benennen; aber bei der Frage, welche Dinge eine bestimmte Beschaffenheit haben, oder nicht haben, darüber hat man sich nicht nach Volksmeinung zu richten. So kann man wohl, wie das Volk das, was die Gesundheit herbeiführt, gesund nennen; aber ob der aufgestellte Gegenstand die Gesundheit herbeigeführt oder nicht, hat man nicht nach dem, was die Menge sagt, sondern nach dem, was der Arzt sagt, zu bestimmen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 28-31.
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