Siebentes Kapitel

[39] Da Gegentheiliges sechsfach mit einander verbunden werden kann, eine Gegentheiligkeit der Sätze aber nur bei vier dieser Verbindungen entsteht, so muss man sowohl bei der Widerlegung, wie bei der Begründung die Gegentheile so wählen, wie sie für den jedesmaligen Zweck am nützlichsten sind. Dass Gegentheiliges sich auf sechs Arten verbinden lässt, ist klar; denn einmal kann das Gegentheil des Gegenstandes und das Gegentheil des von ihm Ausgesagten mit einander oder mit dem andern verbunden werden, was in zweifacher Art geschehen kann; z.B. den Freunden Gutes thun und den Feinden Böses thun; oder umgekehrt: den Freunden Böses thun und den Feinden Gutes thun; oder es kann von demselben Gegenstande das Gegentheilige ausgesagt werden, was ebenfalls zweifach geschehen kann; z.B. den Freunden Gutes thun und den Freunden Böses thun, oder den Feinden Gutes und den Feinden Böses thun; oder endlich wenn[39] dasselbe Ausgesagte den entgegengesetzten Gegenständen beigelegt wird, was ebenfalls zweifach geschehen kann, z.B. den Freunden Gutes thun und den Feinden Gutes thun oder den Freunden Böses thun und den Feinden Böses thun.

Von den hier genannten Verbindungen des Gegentheiligen ergeben die ersten beiden kein Gegentheil; denn den Freunden Gutes zu thun und den Feinden Böses zu thun sind keine Gegentheile, denn beides soll geschehen und gehört zu derselben Pflicht; ebenso wenig sind es die Sätze: den Freunden Böses und den Feinden Gutes thun; denn auch dies ist beides zu unterlassen und bezieht sich auf das gleiche Verbot. Denn das Verbotene kann nicht das Gegentheil des Verbotenen sein, wenn nicht das eine das Zuviel und das andere das Zuwenig ausdrückt, da sowohl das Uebermass wie das Zuwenig, als Verbotenes, einander gegentheilig gegenüberstehen.

Die vier anderen Fälle bilden dagegen wirkliche Gegensätze; denn, den Freunden Gutes zu thun, ist das Gegentheil von: den Freunden Böses zu thun; da das eine geboten, das andere verboten ist und das eine zu thun, das andere nicht zu thun ist. Ebenso verhält es sich mit den übrigen Fällen, denn von jedem dieser Sätze ist der eine zu thun, der andere nicht zu thun, und der eine gehört zu dem guten Handeln, der andere zu dem schlechten Handeln.

Hieraus erhellt, dass zu einem Satze mehrere Gegentheile aufgestellt werden können; denn dem Satze, dass man den Freunden Gutes thun solle, steht sowohl der Satz, dass man den Feinden Gutes thun solle, als Gegentheil gegenüber, wie der Satz, dass man den Freunden Böses thun solle. Ebenso wird sich, wenn man die anderen Fälle prüft, ergeben, dass jedem Satze zwei andere gegentheilig gegenüberstehen. Deshalb muss man von diesen beiden Gegentheilen immer denjenigen Satz wählen, welcher gegen den aufgestellten Streitsatz am brauchbarsten ist.

Auch muss man, wenn das Nebensächliche ein Gegentheil hat, prüfen, ob dieses Gegentheil nicht demselben Gegenstande einwohnt, dem jenes Nebensächliche beigelegt worden ist. Ist das Gegentheil im Gegenstande enthalten, so kann jenes nicht in ihm enthalten sein, denn Gegentheile[40] können nicht zugleich in demselben Gegenstande enthalten sein.

Ebenso muss man prüfen, ob etwas von einem Gegenstande ausgesagt wird, wo, wenn es der Fall wäre, dies und auch sein Gegentheil in ihm enthalten sein müsste; wie z.B. wenn jemand sagt, dass die Ideen in uns enthalten seien; denn dann würde folgen, dass sie sich sowohl bewegten, wie nicht bewegten und dass sie sowohl mit den Sinnen wahrzunehmen und auch blos mit dem Denken zu erfassen seien; denn diejenigen, welche Ideen annehmen, setzen sie als unbewegt und nur als durch das Denken erfassbar; sollten sie aber in uns enthalten sein, so könnten sie nicht unbewegt sein, denn wenn wir uns bewegen, so muss sich auch alles in uns Enthaltene mit bewegen. Auch müssten die Ideen, wenn sie in uns wären, wahrnehmbar sein, denn durch den Gesichtssinn kann man die in Jedem befindliche Gestalt erkennen.

Ferner muss man, wenn von einem Gegenstande ein Nebensächliches ausgesagt wird, was ein Gegentheil hat, prüfen, ob der Gegenstand auch des Gegentheils fähig ist, wie er es für das Nebensächliche ist; denn ein und derselbe Gegenstand kann sowohl ein Nebensächliches, wie dessen Gegentheil annehmen. Wenn also z.B. der Hass in dem Zorn enthalten wäre, so würde der Hass zu den Gefühlen gehören, denn zu solchen gehört der Zorn; man muss also prüfen, ob zu den Gefühlen auch die Liebe gehört; wäre dies nicht der Fall, sondern gehörte diese zu den Begehrungen, so könnte der Hass nicht in dem Zorne enthalten sein. Das Gleiche würde gelten, wenn von dem Begehren das Nicht-Wissen ausgesagt würde; denn dann wäre das Begehren auch des Wissens fähig, da es des Nicht-Wissens fähig erklärt worden, was doch nicht glaubwürdig erscheint. Deshalb kann dieser Gesichtspunkt zum Widerlegen benutzt werden. Für die Begründung, dass das Nebensächliche im Gegenstande enthalten sei, kann aber dieser Gesichtspunkt nicht benutzt werden; wohl aber dafür, dass er dieses Nebensächlichen fähig sei. Denn hat man bewiesen, dass der Gegenstand des Gegentheiligen nicht fähig sei, so hat man auch bewiesen, dass das Nebensächliche nicht in ihm enthalten ist, und er dessen auch nicht fähig ist. Hat man aber gezeigt, dass das Gegentheil in ihm enthalten ist, oder[41] dass er dessen fähig ist, so hat man damit zwar noch nicht bewiesen, dass das Nebensächliche in ihm enthalten ist, aber wohl, dass er dessen fähig ist, und nur so weit ist dann der Beweis geführt.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 39-42.
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