Sechstes Kapitel

[113] Man muss ferner die Prüfung auf die Gegensätze richten, und zwar muss man zunächst bei den gegentheiligen Dingen behufs der Widerlegung untersuchen, ob etwa zu dem Gegentheile des Gegenstandes das Gegentheil von dessen Eigenthümlichen nicht als Eigenthümliches gehören sollte; denn dann ist auch das aufgestellte Eigenthümliche es nicht von seinem Gegenstande. Da z.B. das Gegentheil der Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit und das Gegentheil des Besten das Schlechteste ist, so ist, wenn das Beste nicht das Eigenthümliche der Gerechtigkeit ist, auch das Schlechteste nicht die Eigenthümlichkeit der Ungerechtigkeit. Zur Begründug dient es dagegen, wenn das Gegentheil des Eigenthümlichen auch das Eigenthümliche von dem Gegentheile des Gegenstandes ist; denn dann wird auch ersteres das Eigenthümliche des Gegenstandes sein. Ist z.B. das Schlechte das Gegentheil des Guten und das Wünschenswerthe das Gegentheil von dem zu Fliehenden und ist das Wünschenswerthe die Eigenthümlichkeit des Guten, so wird auch das zu Fliehende die Eigenthümlichkeit des Schlechten sein.

Zweitens dienen die gegensätzlichen Beziehungen zur Widerlegung, wenn bei zwei Beziehungen das sich Beziehende nicht das Eigenthümliche des andern sich Beziehenden ist; denn dann wird auch das eine Bezogene nicht das Eigenthümliche des anderen Bezogenen sein. Wenn z.B. das Doppelte sich auf das Halbe bezieht und das Ueberragende sich auf das Ueberragte bezieht, und wenn das Ueberragende nicht das Eigenthümliche des Doppelten ist, so wird auch das Ueberragte nicht das Eigenthümliche des Halben sein. Zur Begründung dient es aber, wenn das Entgegengesetzte hiervon stattfindet; dann wird, wenn von dem ersten Stücke beider Beziehungen das eine der Gegenstand und das andere das ihm zukommende Eigenthümliche sind, dies auch für die zweiten Stücke in beiden Beziehungen gelten. Bezieht sich also z.B. das Doppelte auf das Halbe und die Zwei auf die Eins und ist das Eigenthümliche des Doppelten dasselbe wie das Verhältniss der Zwei zur Eins, so wird auch das Eigenthümliche des Halben das Verhältniss der Eins zur Zwei sein.[113]

Drittens dient es zur Widerlegung, wenn von dem Haben das nach dem Haben Benannte nicht sein Eigenthümliches ist; denn dann wird auch das von der Beraubung nach der Beraubung Benannte nicht dessen Eigenthümliches sein. Ebenso kann, wenn das nach der Beraubung Benannte nicht das Eigenthümliche der Beraubung ist, auch das nach dem Haben Benannte nicht das Eigenthümliche des Habens sein. Da z.B. das Unempfindlich-sein nicht als die Eigenthümlichkeit der Taubheit gilt, so wird auch das Empfindlich-sein nicht das Eigenthümliche des Gehörs sein. Zur Begründung dient es aber, wenn das nach dem Haben Benannte die Eigenthümlichkeit des Habens ist, denn dann wird auch das nach der Beraubung Benannte das Eigenthümliche der Beraubung sein, und umgekehrt wird, wenn letzteres gilt, dasselbe auch von dem Haben und dessen Eigenthümlichen gelten. Ist z.B. das Sehen die Eigenthümlichkeit des Gesichts, inwiefern wir dasselbe haben, so wird auch das Nichtsehen die Eigenthümlichkeit der Blindheit sein, insofern wir des Gesichts beraubt sind, obgleich wir von Natur das Gesicht besitzen.

Ferner dienen die Bejahungen und Verneinungen zur Widerlegung, und zwar zunächst die ausgesagten Bestimmungen selbst. Dieser Gesichtspunkt kann nur zu Widerlegungen benutzt werden. Ist z.B. das dem Gegenstand bejahend Beigelegte, oder das danach Benannte das Eigenthümliche desselben, so ist die Verneinung desselben oder das danach Benannte nicht das Eigenthümliche des Gegenstandes; und wenn das von dem Gegenstand Verneinte, oder danach Benannte das Eigenthümliche desselben ist, so ist die Bejahung und das nach ihr Benannte nicht das Eigenthümliche des Gegenstandes. Wenn z.B. das Eigenthümliche des Geschöpfes in der Beseelung besteht, so wird das Seelenlose nicht die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes sein.

Sodann kann das Ausgesagte so wie dessen Verneinung und der Gegenstand, von dem es ausgesagt oder nicht ausgesagt wird, zur Widerlegung benutzt werden, wenn die bejahte Bestimmung von dem bejahten Gegenstand nicht das Eigenthümliche ist; denn dann wird auch die Verneinung jener nicht die Eigenthümlichkeit des die Verneinung des Gegenstandes enthaltenden Gegenstandes sein. Ist ferner die Verneinung der Eigenthümlichkeit[114] nicht das Eigenthümliche von der Verneinung des Gegenstandes, so wird auch die bejahte Bestimmung nicht das Eigenthümliche des bejahten Gegenstandes sein. Ist z.B. das Geschöpf nicht das Eigenthümliche des Menschen, so wird auch das Nicht-Geschöpf nicht das Eigenthümliche des Nicht-Menschen sein. Und wenn das Nicht-Geschöpf nicht als das Eigenthümliche des Nicht-Menschen gilt, so wird auch das Geschöpf nicht das Eigenthümliche des Menschen sein. Bei der Aufstellung eines Satzes hat man dagegen zu prüfen, ob von dem bejahten Gegenstande die bejahte Bestimmung sein Eigenthümliches ist; denn dann wird auch von der Verneinung des Gegenstandes die Verneinung dieser Bestimmung dessen Eigenthümliches sein; und ist die Verneinung dieser Bestimmung das Eigenthümliche der Verneinung des Gegenstandes, so wird auch die Bejahung der Bestimmung das Eigenthümliche des Gegenstandes sein. Ist z.B. das Nicht-Leben das Eigenthümliche des Nicht-Geschöpfes, so wird auch das Leben das Eigenthümliche des Geschöpfes sein, und wenn das Leben sich als die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes zeigt, so wird auch das Nicht-Leben die Eigenthümlichkeit des Nicht-Geschöpfes sein.

Drittens kann in Bezug auf das Unterliegende die Widerlegung erfolgen, wenn die angegebene Bestimmung das Eigenthümliche desselben ist, denn dann kann dasselbe nicht auch das Eigenthümliche seiner Verneinung sein; und ist es das Eigenthümliche seiner Verneinung, so kann es nicht das Eigenthümliche des Unterliegenden selbst sein. Ist z.B. das Beseelte das Eigenthümliche des Geschöpfes, so kann es nicht das Eigenthümliche vom Nicht-Geschöpfe sein. Zur Begründung könnte man es dagegen benutzen wollen, wenn die angegebene Bestimmung nicht das Eigenthümliche des Unterliegenden ist, indem sie dann das Eigenthümliche von dessen Verneinung sein müsste; allein dieser Gesichtspunkt ist trügerisch, denn eine bejahend ausgedrückte Bestimmung kann nicht das Eigenthümliche von der Verneinung eines Gegenstandes sein, und eine verneinend ausgedrückte Bestimmung kann nicht das Eigenthümliche von einem bejahend ausgedrückten Gegenstande sein; denn eine bejahend ausgedrückte Bestimmung ist in der Verneinung des Gegenstandes überhaupt nicht enthalten, und die Verneinung[115] einer Bestimmung kann zwar in einem beziehend ausgedrückten Gegenstande enthalten sein, aber nicht als dessen Eigenthümliches.

Ist ferner der Gegenstand und auch die ausgesagte Bestimmung in mehrere Arten theilbar, so kann es zur Widerlegung benutzt werden, wenn von den übrigen Alten der Bestimmung keine ein Eigenthümliches von den übrigen Arten des Gegenstandes ist; denn dann wird auch die erste Art, welche als Eigenthümlichkeit der ersten Art des Gegenstandes aufgestellt worden, nicht dessen Eigenthümlichkeit sein. Ist z.B. das der Wahrnehmung Fähige nicht das Eigenthümliche von einem der sterblichen Geschöpfe, so wird auch das des Denkens Fähige nicht das Eigenthümliche der Gottheit sein. Dagegen dient es zur Begründung, wenn von den übrigen Arten, in welche die ausgesagte Bestimmung zerfällt, die einzelnen des Eigenthümlichen von den übrigen Arten des Gegenstandes sind, denn dann wird auch die erste Art der ausgesagten Bestimmung das Eigenthümliche des Gegenstandes sein; wenn auch der Gegner dies in seinem aufgestellten Satze bestreitet. Ist z.B. das Eigenthümliche der Klugheit, dass sie an sich und von Natur die Tugend des denkenden Theils der Seele ist, so wird, wenn man auch die übrigen Tugenden nach diesem Gesichtspunkte betrachtet, das Eigenthümliche der Selbstbeherrschung sein, dass sie an sich und von Natur die Tugend des begehrlichen Theils der Seele ist.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 113-116.
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