Achtes Kapitel

[147] Wenn das zu Definirende eine Beziehung enthält, sei es als solches, oder in seiner Gattung, so muss man prüfen, ob das, worauf es selbst oder dessen Gattung sich bezieht, in der Definition auch angegeben ist, wie dies z.B. nicht der Fall wäre, wenn man die Wissenschaft als eine durch Ueberredung nicht zu ändernde Annahme definirte, oder den Willen als ein schmerzloses Verlangen; denn das Wesen jedes Bezogenen besteht in der Beziehung auf ein Anderes, da in jedem Bezogenen es enthalten ist, dass es sich zu etwas verhalte. Deshalb muss man die Wissenschaft ein Annehmen des Wissbaren und den Willen ein Verlangen nach dem Guten nennen. Der gleiche Fehler wäre es, wenn man die Sprachkenntniss als eine Kenntniss der Schriften definirte; denn es muss in der Definition entweder das genannt werden, auf was sich das zu Definirende oder seine Gattung bezieht. Bei allen Dingen ist aber deren Ziel das Beste, um dessentwegen das Uebrige geschieht; deshalb muss man das Beste oder das Endziel in der Definition angeben und die Begierde deshalb nicht als ein Verlangen nach dem Angenehmen, sondern als ein Verlangen nach der Lust definiren; denn um deretwillen verlangt man nach dem Angenehmen.

Auch muss man prüfen, ob das, auf welches das zu Definirende in der Definition bezogen wird, ein Entstehen oder ein Thätigsein ist; denn von diesen ist keines ein Ziel, da das Ziel mehr in dem Gethan-haben und in dem Entstanden-sein als in dem Entstehen und Thun enthalten ist. Indess gilt dieser Gesichtspunkt wohl nicht für alle Fälle; denn die meisten Menschen wollen wohl lieber sich vergnügen, als mit dem Vergnügen aufhören und deshalb[147] würden sie wohl hier das Thätig-sein mehr für das Ziel erklären, als das Gethan-haben.

Auch muss man in manchen Fällen prüfen, ob in der Definition der Gegenstand nach seiner Grösse oder Beschaffenheit oder nach einer sonstigen Bestimmung etwa nicht näher angegeben ist, z.B. wenn man bei dem Ehrgeizigen nicht angiebt, nach welcher und wie grosser Ehre er verlangt; denn alle Menschen verlangen nach der Ehre, und deshalb nützt es nichts, den nach der Ehre Verlangenden einen Ehrgeizigen zu nennen, sondern man muss die erwähnten Zusätze machen. Ebenso muss bei dem Habsüchtigen gesagt werden, in welchem Masse er nach dem Gelde verlangt und bei dem Unmässigen, in welchen Lüsten er es ist. Denn nicht jeder, der von irgendwelcher Lust überwältigt wird, heisst ein Unmässiger, sondern es gilt dies nur für gewisse Arten der Lust. Ferner wäre es der gleiche Fehler, wenn man die Nacht den Schatten der Erde oder wenn man das Erdbeben eine Bewegung der Erde, oder den Schnee eine Verdichtung der Luft, oder den Wind als eine Bewegung der Luft definirte; vielmehr muss noch der Grad oder die Beschaffenheit oder die Ursache dieser ausgesagten Bestimmungen angegeben werden. Ebenso muss man in anderen solchen Fällen verfahren; denn wenn der Art-Unterschied in irgend einer Weise weggelassen wird, so ist das wesentliche Was des Gegenstandes nicht ausgedrückt. Man muss also hier immer den Angriff auf den mangelhaften Punkt richten; denn nicht jedwede Bewegung der Erde und nicht jedweder Grad einer solchen ist ein Erdbeben, und nicht jedwede Bewegung der Luft und jedweder Grad derselben ist ein Wind.

Auch ist es bei der Definition der Begierden, und wo es sonst noch passt, ein Fehler, wenn nicht das »scheinbare« hinzugesetzt wird; z.B. wenn der Wille als ein Verlangen nach dem Guten und die Begierde als ein Verlangen nach dem Angenehmen und nicht als ein Verlangen nach dem scheinbaren Guten und dem scheinbaren Angenehmen definirt wird. Denn oft erkennen die Verlangenden das wahre Gute und das wahre Angenehme nicht und deshalb braucht das, was sie verlangen, nicht das Gute und das Angenehme zu sein, sondern nur das, was ihnen so erscheint. Deshalb muss man auch hiernach die Aufstellung machen. Indess ist, selbst wenn dies[148] nicht verabsäumt worden, derjenige, welcher Ideen annimmt, auf diese Ideen hinzuweisen; denn von dem Erscheinenden giebt es keine Ideen, und die Idee müsste hier in Bezug auf eine andere ausgesagt werden. So würde z.B. die Begierde-an-sich als nach dem Angenehmen-an-sich und das Wollen-an-sich als das des Guten-an-sich definirt werden müssen. Hier kann man aber nicht sagen: die Begierde nach dem scheinbar guten oder scheinbar angenehmen, denn es wäre widersinnig, ein scheinbar Gutes-an-sich und ein scheinbar Angenehmes-an-sich aufzustellen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 147-149.
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