Drittes Kapitel

[168] Eine aufgestellte Definition zu widerlegen kann also immer in dieser Weise und durch diese Mittel versucht werden. Will man aber eine aufgestellte Definition begründen, so muss man zunächst sich vergegenwärtigen, dass durch keines, oder nur durch wenige der besprochenen Mittel eine Definition erschlossen werden kann, sondern man fängt vielmehr gleich mit einer Definition an, wie dies in der Geometrie und bei den Zahlen und anderen dergleichen Unterrichtsgegenständen geschieht. Auch ist es die Aufgabe einer anderen Wissenschaft, genau darzulegen, was eine Definition ist und wie man definiren soll; während es hier für den gegenwärtigen Zweck genügt, wenn ich sage, dass ein Schluss auf die Definition und das wesentliche Was eines Gegenstandes allerdings gezogen werden kann. Denn wenn die Definition ein Ausspruch ist, welcher das wesentliche Was des Gegenstandes bezeichnet und wenn das in der Definition Angegebene nur von dem wesentlichen Was des Gegenstandes allein ausgesagt werden kann, in dem Was aber die Gattung und der Art-Unterschied angegeben wird, so ist klar, dass, wenn man nur diese Bestimmungen als in dem Was des Gegenstandes enthalten aufnimmt, ein solcher Satz nothwendig die Definition des Gegenstandes sein muss; denn eine andere Definition kann es nicht geben, da in dem Was des Gegenstandes nichts Anderes ausgesagt wird.

Dass also ein Schlusssatz auf die Definition gezogen werden kann, ist klar; woher aber dazu das Nöthige zu entnehmen ist, habe ich anderwärts genauer angegeben. Für die hier vorliegende Untersuchung aber können dieselben Gesichtspunkte benutzt werden. Man hat also auf die Gegentheile und die anderen Gegensätze zu achten, indem man dabei die Begriffe im Ganzen und nach ihren Theilen untersucht. Denn wenn der entgegengesetzte Begriff dem entgegengesetzten Gegenstande entspricht, so muss auch der aufgestellte Begriff dem vorliegenden Gegenstande entsprechen. Da indess die Gegentheile in mehrfacher Weise auf einander bezogen werden können, so muss man diejenigen Gegentheile nehmen, deren Definition sich am meisten als die gegentheilige[168] herausstellt. Die ganzen Definitionen hat man also in dieser Weise zu untersuchen, die Theile derselben aber folgendermassen. Zunächst also prüfe man, ob die angegebene Gattung die richtige ist Denn wenn der gegentheilige Gegenstand in der gegentheiligen Gattung enthalten ist, aber der vorliegende Gegenstand nicht in derselben Gattung enthalten ist, so muss er offenbar in der dieser entgegengesetzten enthalten sein, da gegentheilige Gegenstände nothwendig entweder in ein und derselben, oder in gegentheiligen Gattungen enthalten sein müssen. Auch muss von dem gegentheiligen Gegenstande auch der gegentheilige Art-Unterschied ausgesagt werden können, z.B. von dem Weissen das Schwarze, denn das eine dient dem Gesicht zum Unterscheiden, das andere zum Vereinen. Können demnach von den gegentheiligen Gegenständen die gegentheiligen Art-Unterschiede ausgesagt werden, so gelten auch die aufgestellten Art-Unterschiede von dem vorliegenden Gegenstande.

Ist nun auf diese Weise die Gattung und der Art-Unterschied richtig aufgestellt, so ist auch die aufgestellte Definition die richtige. Indess ist es wohl nicht immer nothwendig, dass von den gegentheiligen Gegenständen gegentheilige Art-Unterschiede ausgesagt werden, sofern nämlich beide nicht zu derselben Gattung gehören; vielmehr können, wenn sie zu gegentheiligen Gattungen gehören, die gleichen Art-Unterschiede von ihnen ausgesagt werden, wie z.B. von der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; denn die eine ist eine Tugend, die andere eine Schlechtigkeit der Seele, und mithin können die für die Seele geltenden Art-Unterschiede von beiden ausgesagt werden, da es ja auch eine Tugend und eine Schlechtigkeit für den Leib giebt. Es ist deshalb wohl das Richtige, dass von gegentheiligen Gegenständen entweder die gegentheiligen oder dieselben Art-Unterschiede gelten müssen. Wenn also von dem gegentheiligen Gegenstande der gegentheilige Art-Unterschied ausgesagt werden kann, von dem vorliegenden Gegenstande aber nicht, so ist klar, dass jener Art-Unterschied von ihm ausgesagt werden kann. Ueberhaupt kann man, da die Definition aus der Gattung und den Art- Unterschieden besteht, sagen, dass, wenn die Definition des gegentheiligen Gegenstandes einleuchtend ist, auch die von dem vorliegenden Gegenstande aufgestellte Definition[169] es sein wird. Denn der gegentheilige Gegenstand muss entweder zu derselben, oder zu der gegentheiligen Gattung gehören, und ebenso müssen die Art-Unterschiede des gegentheiligen Gegenstandes entweder die gegentheiligen oder dieselben sein, und deshalb muss von dem vorliegenden Gegenstande und seinem Gegentheile entweder ein und dieselbe Gattung gelten und nur die Art-Unterschiede müssen entweder alle oder einige gegentheilig sein, während die übrigen die gleichen sein können; oder es müssen umgekehrt die Art – Unterschiede dieselben sein, aber die Gattungen gegentheilige, oder es müssen sowohl Gattungen wie Art-Unterschiede gegentheilige sein; denn beide können nicht für beide Gegenstände dieselben sein, weil sonst dieselbe Definition für den Gegenstand und für sein Gegentheil gelten müsste.

Auch die Beugungen der Worte und die verwandten Begriffe können zur Aufstellung der Definition benutzt werden; denn die Gattungen müssen hierbei den Gattungen und die Begriffe den Begriffen entsprechen. Ist z.B. die Vergesslichkeit ein Verlust des Wissens, so ist auch das Vergessen ein Verlieren des Wissens und das Vergessen-haben ein Verloren-haben des Wissens. Stimmt hier irgend eine dieser Beugungen überein, so müssen bei einer richtigen Definition auch die übrigen stimmen. Ist ferner der Untergang eine Auflösung des Wesens, so ist auch das Untergehen ein Auflösen des Wesens und das, das Untergehen Bewirkende, ein das Auflösen Bewirkendes; und ist das Untergängliche das Auflösbare des Wesens, so ist auch der Untergang die Auflösung des Wesens. Dasselbe gilt für andere Fälle; stimmt irgend eine von diesen Beugungen der Worte, so müssen bei richtigen Definitionen auch alle übrigen stimmen.

Auch das gleiche Verhalten der Gegenstände zu einander kann zur Definition benutzt werden; denn wenn das Gesunde die Gesundheit bewirkt, so wird auch das Behagliche das Wohlbehagen bewirken und das Nützliche das Gute; denn jeder dieser Gegenstände verhält sich in gleicher Weise zu seinem eigenthümlichen Ziele; gilt also bei dem einen die Definition, dass es sein Ziel bewirkt, so wird auch von jedem der übrigen dieselbe Art der Definition gelten.[170]

Auch das Mehr und Gleich dient zur Aufstellung der Definitionen, so weit dieser Gesichtspunkt bei Vergleichung von zweien mit zweien anwendbar ist. Ist z.B. die Definition von diesem Gegenstande es mehr, als die Definition von dem andern Gegenstande, so ist, wenn die Definition von letzterem Gegenstande doch die richtige ist, auch jene die richtige Definition von jenem Gegenstande. Ist aber die Definition des einen Gegenstandes und die des andern Gegenstandes in diesem Punkte sich gleich, und ist die eine Definition die richtige, so ist es auch die andere von ihrem Gegenstande. Dagegen hilft, wenn eine Definition mit zwei Gegenständen verglichen wird, oder zwei Definitionen mit einem Gegenstande, diese Prüfung nach dem Mehr nichts, denn es kann weder zwei Definitionen zu einem Gegenstande noch zwei Gegenstände zu einer Definition geben.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 168-171.
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