Zehntes Kapitel

[193] Wenn eine Begründung zu einem falschen Schlusssatz führt, so muss man dem so entgegentreten, dass man den Satz widerlegt, durch welchen die falsche Folgerung entsteht; denn die wahre Lösung eines solchen Falles besteht nicht darin, dass man irgend einen Satz beseitigt, selbst wenn er auch falsch sein sollte, weil eine Begründung mehreres Falsche in sich haben kann; z.B. wenn jemand die Sätze aufstellte, dass, wer sitzt, schreibe und dass Sokrates sitze; woraus folgen würde, dass Sokrates schreibe. Wenn nun hier auch widerlegt worden wäre, dass Sokrates sitze, so wäre doch die Begründung deshalb in ihrem Mangel nicht widerlegt, obgleich dieser Untersatz falsch ist; denn die Begründung ist nicht deshalb falsch, da, wenn jemand zufällig sässe aber nicht schriebe, jene Widerlegung nicht passen würde. Deshalb muss man nicht diesen letzten Satz widerlegen, sondern den Obersatz, dass wer sitzt, schreibe, da nicht jeder Sitzende schreibt. Deshalb ist die Widerlegung nur dann allgemein gültig[193] wenn derjenige Satz widerlegt wird, aus dem das Falsche hervorgeht; und derjenige kennt diese Widerlegung, welcher weiss, dass auf diesem Satze die Begründung beruht, wie dies z.B. bei denen der Fall ist, welche eine mathematische Figur falsch zeichnen, um den Schüler irre zu führen. Es genügt also in solchem Falle nicht, dass man einen Einwurf erhebt, oder einen anderen Satz widerlegt, der auch falsch ist, sondern man muss den Satz zeigen, aus dem das Falsche hervorgeht; denn dann kann ersehen werden, ob, wenn ein Einwurf erhoben wird, man den Fehler schon kennt, oder ihn noch nicht kennt.

Man kann überhaupt auf vierfache Weise hindern, dass eine Begründung zu einem Schlusssatz gelange; entweder kann man den Satz widerlegen, aus dem das Falsche folgt; oder man kann dem Fragenden einen Einwurf entgegenstellen; denn oft hat der Antwortende ihn damit zwar nicht widerlegt, aber der Fragende kann seinen Angriff dann nicht weiter fortführen; drittens kann man sich gegen das Gefragte richten, denn es kann kommen, dass aus dem Gefragten, selbst wenn es zugestanden würde, nicht das folgt, was der Fragende bezweckt, weil er schlecht gefragt hat und der Schlusssatz noch eines weiteren Zugeständnisses bedarf. Kann also der Fragende die Begründung nicht zu Ende führen, so muss sich der Einwurf gegen die Person des Fragenden richten; im andern Falle gegen das Gefragte selbst. Der vierte und schlechteste Einwurf stützt sich auf die Zeit; denn Manche erheben solche Einwürfe, dass zu deren Erörterung es einer längern Zeit bedarf, als die gegenwärtige Disputation dauern kann.

Man kann also, wie gesagt, in viererlei Weise einen Einwurf erheben; jedoch ist nur die zuerst besprochene Weise eine Widerlegung, die übrigen dienen nur dazu, die Begründung des Schlusssatzes aufzuhalten oder zu erschweren.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 193-194.
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