Drittes Kapitel

[185] Manche aufgestellten Sätze sind schwer anzugreifen und leicht aufrecht zu erhalten, nämlich die, welche die obersten und die untersten Begriffe betreffen; denn die obersten bedürfen einer Definition und die untersten müssen durch viele Begriffe hindurch erschlossen werden, wenn man sie im Zusammenhang mit den obersten erhalten will; denn sonst erscheint der Angriff derselben nur als ein sophistischer; da, wenn man nicht von den, dem betreffenden Gebiet eigenthümlichen obersten Grundsätzen beginnt und von da stetig bis zu den untersten fortschreitet, die Beweisführung unmöglich ist. Nun verlangen aber die Antwortenden keine Definition, und ebenso wenig geben sie Acht, wenn der Fragende definirt; ist aber der Sinn des aufgestellten Streitsatzes nicht offenbar geworden, so ist auch der Angriff desselben nicht leicht. Am meisten trifft dies nun bei den höchsten Grundsätzen ein; denn alles Andere wird mittelst ihrer bewiesen, aber sie selbst können nicht durch Anderes bewiesen werden, und man kann deshalb Grundsätze dieser Art nur durch Definitionen kennen lernen.

Auch Sätze, die den höchsten Grundsätzen sehr nahe stehen, sind schwer anzugreifen; denn gegen diese lassen sich nicht viele Gründe herbeischaffen, da hier nur wenige Mittel-Begriffe zwischen ihnen und den höchsten Grundsätzen bestehen, durch welche der Beweis für das Folgende geführt werden muss.

Am schwersten sind diejenigen Definitionen anzugreifen, zu welchen solche Worte benutzt werden, die erstens entweder ganz unbekannt oder zweideutig sind, und bei denen zweitens nicht zu erkennen ist, ob sie im eigentlichen Sinne oder im bildlichen Sinne von dem zu definirenden Gegenstande gebraucht werden. Sind also die Definitionen unklar, so kann man keinen Angriff unternehmen, und[185] weiss man nicht, ob die Unklarheit von einer bildlichen Ausdrucksweise herkommt, so kann man auch nicht einmal einen Tadel aussprechen.

Ueberbaupt ist bei jedem Streitsatz, der sich schwer anfechtbar zeigt, zu vermuthen, dass eine Definition dazu gegeben werden muss, oder dass vieldeutige Worte, oder Worte im bildlichen Sinne dabei gebraucht sind, oder dass der Satz den obersten Grundsätzen nahe steht, oder man ist zunächst darüber nicht im Klaren, gegen welchen der hier genannten Punkte das verstösst, was die Verlegenheit in Bezug auf den Angriff veranlasst. Ist dies erst aufgeklärt, so erhellt, dass die Definition aufgestellt werden muss, oder die verschiedenen Bedeutungen gesondert, oder die Mittelsätze herbeigeschafft werden müssen, durch welche die unteren Sätze zu beweisen sind.

Bei vielen Streitsätzen kann eine Disputation darüber und ein Angriff gegen dieselben deshalb nicht leicht geführt werden, weil die nöthige Definition nicht richtig aufgestellt worden ist; z.B. bei dem Streit, ob das Gegentheil von Einem Eines oder Mehrere sind. Ist aber hier zuvor definirt, was Gegentheile sind, so kann man nach irgend einem Gesichtspunkte leichter feststellen, ob die Mehreren das Gegentheil von Einem sein können oder nicht. Ebenso muss man bei allen anderen Sätzen verfahren, zu denen noch eine Definition nöthig ist. Auch in der Mathematik kann Manches wegen unterlassener Definition nicht leicht dargelegt werden, z.B. dass eine Linie, welche ein Parallelogramm parallel mit einer seiner Seiten durchschneidet, die Seite und die Fläche in gleichem Verhältniss theilt. Wird aber der Ausdruck: »in gleichem Verhältniss« definirt, so erhellt die Richtigkeit des Satzes; denn sowohl von der Fläche, wie von den Seiten werden dieselben Theile weggenommen und dieses ist die Definition des gleichen Verhältnisses. Ueberhaupt lassen sich, wenn die Definitionen von den obersten Begriffen der elementaren Sätze in der Mathematik feststehen, z.B. was die Linie und was der Kreis ist, die Beweise am leichtesten aufstellen, wobei man freilich gegen solche Sätze wenig zu sagen vermag, da der Mittelbegriffe bei deren Beweis nur wenige sind. Sind aber die Definitionen der obersten Begriffe nicht festgestellt, so ist der Angriff gegen solche Sätze schwer, oder wohl auch ganz unmöglich. Aehnlich[186] wie bei diesen mathematischen Begriffen verhält es sich auch bei denen, welche bei den Disputationen vorkommen.

Man darf es daher nicht übersehen, dass, im Fall ein Satz schwer angreifbar ist, bei demselben in Bezug auf die besprochenen Punkte ein Mangel besteht. Im Fall ein Grundsatz oder ein Vordersatz schwieriger zu bekämpfen ist, als der zur Erörterung gestellte Satz, so kann man zweifeln, ob man solche Sätze nicht lieber zugeben solle. Thut man dies nicht, und will man auch darauf die Erörterung ausdehnen, so legt man dem Gegner etwas Schwierigeres auf, als der aufgestellte Streitsatz selbst enthält. Will man aber sie zugeben, so wird dem Gegner es möglich, aus weniger glaubwürdigen Sätzen das mehr Glaubwürdige zu beweisen. Da man nun die Begründung des Streitsatzes dem Gegner nicht zu schwer machen soll, so müsste man dergleichen Vordersätze zugestehen; da aber der Streitsatz aus bekannteren Vordersätzen abgeleitet werden soll, so dürfte man jene Sätze wieder nicht zugestehen. Daher hat man vielmehr wohl dem Lernenden dergleichen Sätze nicht zuzugestehen, sofern sie nicht bekannter sind, als der Streitsatz; aber dem Gegner bei der Disputation darf man sie einräumen, sofern sie als wahr erscheinen. Hieraus erhellt, dass von dem Fragenden bei der Disputation und von dem Lehrer nicht in gleicher Weise verlangt werden kann, dass sie solche Vordersätze zugestehen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 185-187.
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