Vierundzwanzigstes Kapitel

[55] Ferner muss in jedem Schluss ein Vordersatz bejahend und einer allgemein lauten; denn ohne einen allgemeinen Vordersatz giebt es entweder keinen Schluss, oder er geht nicht auf den aufgestellten Satz oder das zu Beweisende wird ohne Beweis als wahr behauptet. Denn man setze als zu beweisenden Satz, dass die musikalische Lust sittlich sei. Wenn man nun behauptet, dass die Lust sittlich sei, und nicht hinzusagt: jede Lust, so würde es keinen Schluss geben; wenn man aber nur setzt, dass eine Lust sittlich sei, so würde daraus für das hier Behauptete sich nichts ergeben; und wenn man die musikalische Lust selbst als sittlich setzt, so würde man den Schlusssatz ohne Beweis als wahr behaupten. Dies ergiebt sich noch deutlicher an geometrischen Figuren, z.B. wenn bewiesen werden soll, dass die Winkel an der Grundlinie des gleichschenklichen Dreiecks einander gleich seien. Es seien z.B. die Linien A und B nach dem Mittelpunkte eines Kreises gezogen; wenn man nun die Winkel A und C als gleich den Winkeln B und D annimmt, ohne allgemein vorauszusetzen, dass die Winkel, welche auf dem Halbkreis stehen einander gleich seien und wenn man ferner annimmt, dass der Winkel C gleich sei dem Winkel D, ohne zu zeigen, dass alle Winkel auf demselben Kreisabschnitt als gleich zu nehmen sind und[55] wenn man ferner von den gleichen ganzen Winkeln gleiche Winkel abzieht und damit zeigt, dass die übrig Bleibenden E und F gleich sind, so wird man das zu Beweisende ohne Beweis behaupten, wenn man nicht auch den Satz aufstellt, dass wenn Gleiches von Gleichem weggenommen wird, Gleiches übrig bleibe.

Es ist also klar, dass in allen Schlüssen das Allgemeine nicht fehlen darf und dass das Allgemeine eines Schlusses nur bewiesen wird, wenn beide Vordersätze allgemein lauten, während der beschränkte Schlusssatz bald so, bald nicht so bewiesen wird; so dass also, wenn der Schluss allgemein lautet, auch die Vordersätze allgemein lauten müssen; lauten aber die Vordersätze allgemein, so kann der Schlusssatz auch nicht allgemein lauten. Auch erhellt, dass bei jedem Schlüsse, entweder beide Vordersätze, oder wenigstens einer mit dem Schlusssatze gleichartig lauten müssen und zwar nicht blos in der Bejahung oder Verneinung, sondern auch in Bezug auf das nothwendige oder einfache oder statthafte der Sätze. Indess muss man auch die anderen Kategorien, in denen etwas von einem Anderen ausgesagt wird, beachten. Somit erhellt, wenn es überhaupt einen Schluss giebt und wenn nicht, so wie, wenn er möglich und wenn er vollkommen ist; endlich, dass wenn ein Schluss gezogen werden soll, die Vordersätze sich in der angegebenen Weise verhalten müssen.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 55-56.
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